Kunstwerke und Träume
In der Mitte des 19. Jahrhunderts unterschied sich die Welt noch sehr von der, wie wir sie heute kennen. Allerdings hatten die Menschen auch damals schon große Träume und Hoffnungen, die sich nicht an ...
In der Mitte des 19. Jahrhunderts unterschied sich die Welt noch sehr von der, wie wir sie heute kennen. Allerdings hatten die Menschen auch damals schon große Träume und Hoffnungen, die sich nicht an die Gegebenheiten der Epoche hielten. So auch Iris, die ihre Tage damit verbringt, sich die Hände in einer Puppenmanufaktur wund zu arbeiten und heimlich von einer Karriere als Künstlerin träumt. Ihre persönliche, große Kehrtwende kommt mit dem Maler Louis Frost, der ihr Einblick in die Welt der Kunst gewährt. Nebenbei entwickelt sich eine bittersüße Liebesgeschichte zwischen den Protagonisten, die jedoch nicht ungestört bleiben soll; ein heimlicher Verehrer plant seinen eigenen Ausgang für die Geschichte Iris` und bringt ihre Welt erneut ins Wanken.
Das Cover des Buches ist ein Blickfang, der dem Leser, im Nachhinein betrachtet, viel mehr über die Geschichte erzählt, als man zu Beginn annehmen möchte. Nun betrachte ich die Details mit Hintergrundwissen und interpretiere sie auf eine andere Weise. Der Inhalt wird gut widergespiegelt, ohne dem Leser wichtige Aspekte im Vorhinein zu verraten.
Aufbau und Farbgebung passen gut zusammen und gefallen mir ausgesprochen gut.
Macneal schafft es mit Zeitgemäßen Sorgen und Problemen das Gefühl zu verschaffen, man befände sich tatsächlich zu der gegebenen Zeit an Ort und Geschehen. Der Inhalt ist realistisch dargestellt und wirkt nicht erzwungen, die Charaktere sind angemessen aufgebaut und vermittelt das Gefühl, dem Leser die Geschichte persönlich zu erzählen. Ein Lob an dieser Stelle, für die unglaubliche Recherchearbeit, die die Autorin geleistet haben muss. Viele geschichtliche Aspekte sind gut wiedergegeben worden und haben mich einiges über die Kunst und das London der Vergangenheit gelehrt.
Der Einstieg in das Buch geht butterweich, wieder loszukommen entpuppt sich allerdings als eine Herausforderung. Häufig ist die Zeit um mich herum verflogen und ein Blick auf die Uhr und Seitenzahl haben mir einen kurzen Schrecken eingejagt. Am liebsten hätte ich das Buch in einem Rutsch durchgelesen, was es schwer gemacht hat, mich an die Abschnittseinteilung zu halten. Der Erzählstil mit den verschiedenen Perspektiven und die Länge der Kapitel waren in perfekten Einklang, um den Leser weder zu langweilen noch zu erschlagen oder lückenhaft zu wirken.
Die Geschichte baut sich immer wieder erneut zu einem Höhepunkt auf, ohne die Details am Rand zu vergessen. Ihnen wird besonders viel Aufmerksamkeit zugesprochen. Zu Schluss habe ich mich gar nicht mehr von den Seiten losreißen können, da sich die Handlung so drastisch zugespitzt hat.
'The Doll Factory' ist das erste Buch, bei dem ich mir nie so ganz sicher war, wen ich alles zu den wichtigsten Schlüsselfiguren zählen sollte, da, wie im echten Leben, jede Person einen wichtigen Einfluss auf den Fluss der Geschichte hat und jede Handlung die Geschichte verändern kann. Wie im Schmetterlingseffekt (kleiner Wink an jeden, der das Buch gelesen hat). Jede Person hat ein einzigartiges und unfehlbares Auftreten; mit ihren eigenen Stärken und Schwächen wirken sie lebendig und glaubwürdig. Handlungen werden nicht schöngeredet und die Charaktere müssen sich ihr Fehlverhalten eingestehen, auch den Preis dafür zahlen.
Die Autorin gewährt dem Leser Einblick auf die tiefsten Ebenen der Psyche ihrer Protagonisten und bringt ihn damit zum Nachdenken. Über sein eigenes Handeln, Moral und seinen Einfluss auf seine Mitmenschen.
Der Mensch wird nicht als unantastbares Individuum dargestellt, sondern so wie er ist; zerbrechlich und beeinflussbar. Selbst ihre stärksten Charaktere zeigt Elizabeth Macneal verwundbar und empfänglich für ihre Umwelt, was sie noch realistischer erscheinen lässt.
Iris hebt sich mit ihrem Aussehen und ihrer Persönlichkeit stark von dem klassischen Bild der weiblichen Protagonistin ab und vermittelt eine ganz neue, imperfekte Darstellung, mit der sich jeder identifizieren kann.
Silas Reed unser (es fällt mir doch schwer ihn so zu bezeichnen) Antagonist gibt dem Leser Einblicke in die dunkelsten Ebenen der menschlichen Seele, die nur durch intensiven Schmerz und Leid erreicht werden können. Er ist kein klassischer „Bösewicht“, viel eher ein verletztes Tier, dass langsam dem Wahnsinn verfällt. Ein deutlich realistischeres Bild von dem, zu was wir Menschen unter bestimmten Umständen fähig sind. Es war jedes Mal interessant, die Welt aus seinen Augen zu betrachten und seine Interpretation der Realität nachzuvollziehen zu versuchen.
Sehr berührt hat mich die Geschichte des kleinen Albie, der sich in einem grausamen Dilemma wiederfinden musste. Sein Geld verdient er mit toten Tieren, die er an Silas verkauft, welcher aus diesen neue Präparate für seinen Laden herstellt. Er lebt mit seiner Schwester in einem heruntergekommenen Bordell, in dem er ihr hilft, mit der grausamen Wirklichkeit klarzukommen.
Albie´s größter Traum ist es, sich ein Gebiss aus Seekuh-Elfenbein zu kaufen, das nicht so zerbrechlich wie Porzellan und nicht so gelb wie die aus Waterloo ist.
Obwohl ich viele Handlungsaspekte bereits recht früh erahnt habe, so wurde ich spätestens in ihrer Umsetzung überrascht. Es gab kein Kapitel, in dem die Geschichte langweilig wurde oder das als Lückenfüller diente.
Gegen Ende wirkte die Handlung ein wenig gequetscht, was sich allerdings, auf das ganze Buch angewandt, als Fehleinschätzung entpuppt. Der Leser soll Raum zum Interpretieren, Ausführen und Spekulieren haben.
Fazit:
Dieses Buch ist eines, das allein in einer Nische steht und Seinesgleichen sucht. Ein Meisterwerk einer Art, die ich so noch nicht gesehen habe. Von der ersten Seite an konnte mich das Buch überzeugen und hat mich auf eine unvergessliche Reise geschickt, die ich nur jedem weiterempfehlen kann.