Inhalt & Handlung:
Paris, gegen Ende des 19 Jahrhunderts. Die Aufgabe der Frau ist es, sich dem Mann unterzuordnen und nicht aufzufallen. Wer sich nicht an die Norm hält, läuft Gefahr, in die gefürchtete „Salpêtrière“, der Nervenheilanstalt von Paris, in der der renommierte Neurologe Jean-Martin Charcot wirkt. Hier landen viele Frauen, derer die Gesellschaft überdrüssig geworden ist: Prostituierte, Bettlerinnen, nach Vergewaltigungen schwer traumatisierte Frauen, oder aber auch jene Freigeister, deren Familien sich für ihr fortschrittliches Auftreten schämen. Hier in der Salpêtrière einmal mit der Diagnose „Hysterie“, „Epilepsie“, „Melancholie“ konfrontiert, sind diese Frauen als „verrückt“ gebrandmarkt und werden hier zumeist für ihr restliches Leben, vor der „gesunden“ Bevölkerung weggesperrt. So auch Eugénie, deren Vater sie eigenhändig einweisen lässt, weil sie angeblich die Fähigkeit hat, mit Toten zu sprechen. Um seinen guten Ruf in der Gesellschaft zu wahren, entledigt er sich ihrer auf diese Weise. Eugénie trifft hier auf die Krankenschwester Geneviève, die seit vielen Jahren ihren Dienst in der Salpêtrière versieht und sich einen guten Ruf als „Oberaufseherin“ der Abteilung gemacht hat.
Schreibstil:
In ihrem Erstlingswerk besticht die junge Französin Victoria Mas mit einer sehr leichten, fast schon melodiösen Schreibweise, die im krassen Gegensatz zu dem oft sehr deprimierenden Inhalt steht. Schonungslos werden hier die für die damalige Zeit gängigen Methoden in der Nervenheilanstalt beschrieben, und die Ungerechtigkeiten, die sämtlichen Insassinnen widerfahren.
Interessant der plötzliche Perspektivenwechsel: ab dem Zeitpunkt, ab welchem bei einer Frau „Hysterie“ oder Ähnliches als Diagnose im Raum stand, wurde diese nur noch als Geisteskranke oder Irre bezeichnet!
Charaktere:
Man trifft hier auf etliche sehr unterschiedliche Charaktere, hier seien zum einen Eugénie erwähnt, eine für diese Zeit unglaublich fortschrittlich denkende junge Frau, die ihr persönliches Glück nicht darin sieht, als Ehefrau in einem Haushalt zu verkümmern, sondern die für ihr künftiges Leben weitaus höhere Ziele gesteckt hat. Der Schock, von ihrer eigenen Familie verraten, in der Salpêtrière zu landen sitzt tief, und sie droht daran zu zerbrechen.
Zum anderen trifft man auf Geneviève, ihres Zeichens langjährige, treue Mitarbeiterin in der Pariser Nervenheilanstalt. Als sie auf Eugénie trifft, gerät ihr Weltbild plötzlich ins Wanken, und sie beginnt vieles zu hinterfragen.
Cover:
Die Farbgebung des Covers beschränkt sich auf drei Farben, mit denen schemenhaft das Bild einer Tänzerin gezeichnet wird, ein Bild das symbolhaft für das verblassende Leben der Frauen in der Salpêtrière steht.
Autorin:
Die gebürtige Französin Victoria Mas hat jahrelang in den USA gelebt, wo sie als Script Supervisor, Standfotografin und Übersetzerin beim Film gearbeitet hat, ist dann aber zu einem Studium an die Sorbonne nach Frankreich zurückgekehrt, wo sie heute als freie Journalistin tätig ist.
Meinung:
Dies ist eines jener Bücher, die sich leicht und locker lesen lassen, die einen aber letztlich im Mark erschüttern, weil sie so viel Ungerechtigkeiten zum Inhalt haben, die einen aus heutiger Sicht einfach nur sprachlos machen: Frauen, die der Gesellschaft lästig oder unbequem waren, wurden aufgrund von fragwürdigen Diagnosen einfach weggesperrt, um mit ihnen menschenverachtende Forschung zu betreiben. Dass diese Frauen aber aus heutiger Sicht gesund, allerdings aufgrund von Gewalt und Misshandlungen schwer traumatisiert waren und einfach nur einer Therapie bedurft hätten, war damals undenkbar - es wurde alles auf „Hysterie“ zurückgeführt. Beim Lesen stellte ich mir mehr als nur einmal die Frage, ob es sich bei den Verrückten tatsächlich um die Insassinnen handelte, oder ob die wahren Verrückten vielmehr jenseits der Anstaltsmauern oder unter den behandelnden Ärzten, den Göttern in Weiß, zu suchen waren, die die Frauen wie Tiere im Zoo vorführten.
Fazit:
Ein Buch, das aufrührt und einen nachhaltig prägt, eine echte Leseempfehlung!