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Veröffentlicht am 10.01.2017

Eines meiner liebsten Bücher von Agatha Christie – Vorsicht, Erwartungshaltung!!! (AC2, TT1)

Ein gefährlicher Gegner
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Achtung: weder Hercule Poirot noch Miss Jane Marple spielen eine Rolle in diesem zweiten Roman der Autorin, der gleichzeitig eine Reihe einläutet, die um Tommy und Tuppence. Er erschien zuerst 1922 unter ...

Achtung: weder Hercule Poirot noch Miss Jane Marple spielen eine Rolle in diesem zweiten Roman der Autorin, der gleichzeitig eine Reihe einläutet, die um Tommy und Tuppence. Er erschien zuerst 1922 unter dem Titel "The Secret Adversary" in UK bei The Bodley Head und später im Jahr in den USA bei Dodd, Mead and Company. Die deutsche Erstausgabe erschien 1932 als "Die Abenteurer-G. m. b. H.", übersetzt von Irene Kafka im Goldmann Verlag Leipzig . 1959 erfolgte eine Neufassung unter o.g. Titel in der bis heute genutzten Übersetzung von Werner von Grünau bei Desch (Quelle Wikipedia)– bei mir als 6. Auflage von 1983 bei Scherz verwendet, alte Rechtschreibung.

Tuppence (entspricht "Two Pence", zwei Pence) wird meiner Erinnerung nach auch in einem anderen Band der Reihe als „Nickel“ bezeichnet, ein anderer Begriff für das 2 p – Geldstück, ich editiere das entsprechend, sobald ich in meinem Re-Read dort angelangt bin.

Die Reihe um diese beiden Hauptfiguren gehört zu meinen liebsten der Autorin – Poirot ging mir früher nach mehreren Büchern gern auf die Nerven mit seiner Besserwisserei bis zur Klugsch…wätzerei, mit Miss Marple gibt es nur erschreckend wenige Bücher (12 Romane, dazu einige Kurzgeschichten). Im Gegensatz zu den beiden letzteren Detektiven, die irgendwie immer eher alt sind, aber auch wenig weiter zu altern scheinen (trotz gewisser Nuancen), durchlaufen die beiden Protagonisten dieser Reihe hier quasi ihr gesamtes Erwachsenenleben, und das in eher wenigen Bänden, begonnen in ihren Zwanzigern:
1.Original „The Secret Adversary“ 1922, deutsch "Ein gefährlicher Gegner" 1922
2.Original „Partners in Crime“ 1929, deutsch „Die Büchse der Pandora – Kurzgeschichten
3.Original "N or M?" 1941, deutsch "Rotkäppchen und der böse Wolf" 1946
4.Original "By the Pricking of My Thumbs" (1968), deutsch "Lauter reizende alte Damen" (1970)
5.Original "Postern of Fate" (1973) – deutsch "Alter schützt vor Scharfsinn nicht" (1978) - Quelle Wikipedia

Achtung: dieses Buch ist kein typischer „Whodunnit“ wie bei Poirot und Miss Marple, eher ein amüsant-ironischer „cozy Thriller“ – falls es das gibt; ein Mix aus Spionage-Roman und Abenteuerbuch. Stil und Ton ähnlichen den klassischen "Ein dünner Mann“ – Verfilmungen oder vielleicht noch den Hitchcock-Filmen mit Cary Grant (ja, bekennender Fan aller genannten): es wird nie eklig werden bei Agatha Christie, es gibt keine Perversen, harte Sprache bedeutet, dass jemand „verdammt“ sagt, gemordet wird eher sehr sauber. In diesem Buch nun gibt es keine Einführung in ein bestimmtes Szenario, in dem dann ein Mordopfer gefunden wird und in der Folge verschiedene Hinweise, anhand derer Leser und Ermittler den Fall quasi nebeneinander lösen (das gennante "Whodunnit“). Stattdessen gelangen Tommy Beresford und Prudence Cowley, genannt Tuppence, beide nach dem (Ersten) Weltkrieg ohne Aufgabe, Einkommen und finanzielle Reserven, aber mit viel Enthusiasmus, mit dem Leser quasi unmittelbar in die Handlung.

Die beiden Twentysomethings treffen einander zufällig in London und kehren ein. „Tommy setzte sich ihr gegenüber. Ohne Hut kam jetzt sein dichtes, sorgfältig zurückgebürstetes rotes Haar zur Geltung. Sein Gesicht war in sympathischer Weise häßlich – nicht besonders auffällig und doch unverkennbar das Gesicht eines Gentleman und Sportsmanns. Sein brauner Anzug war gut gearbeitet, schein sich jedoch gefährlich den Grenzen seiner Lebensdauer zu nähern.
Auch Tuppence konnte keineswegs als schön gelten, aber in den feinen Zügen ihres schmalen Gesichts lagen Charakter und Charme. Ein energisches Kinn und große, graue Augen, die unter geraden, schwarzen Brauen ein wenig verträumt in die Welt blickten. Auf ihrem schwarzen, kurzen Haar trug sie einen kleinen hellgrünen Hut, und ihr äußerst kurzer und ziemlich abgetragener Rock ließ ein Paar außergewöhnlich schlanke Beine sehen. Ihre Erscheinung hatte einen gewissen kühnen Schick.“ S. 9
Da beide aus ihrer finanziellen Misere keinen Ausweg sehen – verworfen werden die Kolonien, reiche Verwandte, eine Geldheirat, Stellungen sind nicht in Aussicht - wird kurzerhand ein Plan entworfen:
„ ‚Tommy, stürzen wir uns ins Abenteuer!‘
‚Warum nicht?‘, antwortete Tommy belustigt. ‚Wie macht man das?‘
‚Ja, da liegt eine gewisse Schwierigkeit. Wenn wir den richtigen Leuten bekannt wären, würden sie uns vielleicht anheuern und uns mit dem einen oder anderen Mord beauftragen.‘
‚Reizender Vorschlag! Und das von der Tochter eines Geistlichen!‘ “ S. 11
Zum Glück für uns entscheiden sie beide sich für folgendes Inserat: ‚Zwei junge Abenteurer suchen Beschäftigung. Bereit zu allem, gleich wo. Gute Bezahlung Voraussetzung. Unvernünftige Angebote werden berücksichtigt‘ S. 13.

Bevor Tuppence jedoch diese Anzeige aufgeben kann, wird sie von einem Mann angesprochen, der ihr aus dem Lokal gefolgt ist, weil er ihr Gespräch mithören konnte – er hat ein konkretes Angebot. Was sich daraus ergibt, beinhaltet den Super-Verbrecher Mr. Brown, politische Ränkeschmiede unter Bolschewisten, Geheimpapiere, die die USA und Großbritannien kompromittieren könnten und ein verschwundenes Mädchen, Jane Finn, die der Schlüssel zu allem sein soll. Zuerst jedoch verschwindet Tommy und es wird klar, dass wohl nicht nur Mr. Brown ein Deckname ist…

Zeitgeist:
„Ich kann Ihnen versichern, daß mir jede Unehrbietigkeit fernliegt“ sagt der Mann, der Tuppence im St. James Park anspricht. S. 14
Für 50 Pfund erhalten zwei Personen in London hors d’oeuvre, Hummer à l’américaine und Pfirsich Melba – und es bleibt noch Geld übrig… S. 20f., 300 Pfund sind ein Jahresgehalt S. 34
Ein Feindbild ist, dass hinter gegenwärtigen Schwierigkeiten bolschewistische Einflüsse vermutet werden S. 30
Vom Ritz kommt man in 30 min zur Waterloo Station mit dem Auto…
In einen möglichen Aufstand sind Iren verwickelt, Gewerkschafter, Deutsche,….
Es werden viele Telegramme verwendet, Notizbücher eingesetzt,… und das alles funktioniert hervorragend!

Veröffentlicht am 10.01.2017

„Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden.“ (S. 351)

Vom Ende der Einsamkeit
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„Vom Ende der Einsamkeit“ liest sich leicht herunter und vermag dabei zu berühren und anzurühren.


Die drei Geschwister Liz, Marty und Jules Moreau verlieren durch einen Unfall ihre Eltern, als sie selbst ...

„Vom Ende der Einsamkeit“ liest sich leicht herunter und vermag dabei zu berühren und anzurühren.


Die drei Geschwister Liz, Marty und Jules Moreau verlieren durch einen Unfall ihre Eltern, als sie selbst noch längst nicht erwachsen sind. Benedict Wells schildet aus Sicht des jüngsten, des Ich-Erzählers Jules, das Leben vor und nach dem Unfall, teils fortlaufend, teils in Rückblenden. Die Situation der Geschwister erinnert ein wenig an "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels" (ohne dessen Gewalt), besonders die distanzierte, analysierende Position von Jules: Die Geschwister leben fortan in einem Internat, sie haben keine Freunde (mit Ausnahme des langjährigen Freunds Toni, selbst ein Außenseiter) „Weil wir nicht gelernt hatten, Freunde zu haben, weil wir immer uns drei hatten.“ (S. 125)

Jeder der drei Moreaus geht unterschiedlich mit dem Verlust um: Liz, die älteste, antwortet mit einem wahren Hunger, auf das Leben, Männer, Experimente mit Drogen und Jobs, Marty hingegen hat Zwangsneurosen und Ängste. Jules hat sein früheres Selbstbewusstsein verloren. Einzig der Mitschülerin Alva fühlt er sich verbunden – ohne nach deren eigenen Leid zu fragen. "Wir blieben an der Schwelle des jeweils anderen stehen und stellten keine Fragen." (S. 59) Beide haben einen Verlust erlitten und erfahren, dass das, was andere dazu sagen, oft nicht ankommt. Leider verharrt gerade Jules dadurch im Vermeiden: „Nie den Mut gehabt, sie zu gewinnen, immer nur die Angst gehabt, sie zu verlieren.“ (S. 121)
Wells wirft Fragen auf zum Thema Verlust und Liebe, dazu, was uns ausmacht, wonach wir unser Leben ausrichten anhand des inneren Monologs von Jules. „Ich stoße ins Innere vor und sehe ein Bild klar vor mir: wie unser Leben beim Tod unserer Eltern an einer Weiche ankommt, falsch abbiegt und wir seitdem ein anderes, falsches Leben führen.“ (S. 133). Erst in seinem Dialog mit Alva kommt er weiter. „Ich: ‘Dieses ständige Alleinsein bringt mich um.’ Alva: ‚Ja, aber das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit‘.“ (S. 171)

Es ist Alva, an der und an deren Erkenntnissen Jules wächst: „Um sein wahres Ich zu finden, ist es notwendig, alles in Frage zu stellen, was man bei der Geburt vorgefunden hat. Manches davon auch zu verlieren, denn oft lernt man nur im Schmerz, was wirklich zu einem gehört…Es sind die Brüche, in denen man sich erkennt.“ (S. 276)
Der Autor schafft es, mit Sätzen, die in ihrer Sperrigkeit, die die Sperrigkeit gegenüber Gefühlen von Marty ist, Rührung auszulösen, ohne kitschig zu werden: „Es ist… Wir sind von Geburt an auf der Titanic.“ Mein Bruder schüttelt den Kopf, er fühlt sich bei solchen Reden unwohl. „Was ich sagen will: Wir gehen unter, wir werden das hier nicht überleben, das ist bereits entschieden. Aber wir können wählen, ob wir schreiend und panisch umherlaufen oder ob wir wie die Musiker sind, die tapfer und in Würde weiterspielen, obwohl das Schiff versinkt. So wie…“ Er sieht nach unten. „So wie Alva das getan hat.“ Mein Bruder will noch etwas hinzufügen, dann schüttelt er wieder den Kopf. „Tut mir leid, ich bin einfach nicht gut in so was.“ (S. 339)

So bleibt für Jules am Ende die Erkenntnis: „Noch stärker als meine Geschwister habe ich mich gefragt, wie sehr mich die Ereignisse aus meiner Kindheit und Jugend bestimmt haben, und erst spät habe ich verstanden, dass in Wahrheit nur ich selbst der Architekt meiner Existenz bin.“ (S. 337)

Ich habe spätabends nach der Lektüre in einem Rutsch noch dieses Buch mehrfach weiter empfohlen – ich denke, es ist einfach perfekt auch für diejenigen, die sonst alles meiden, was mit „anspruchsvoller Roman“ im Zusammenhang steht. Weniger ist "Vom Ende der Einsamkeit" ein künftiger „Meilenstein der Literaturgeschichte“ als vielmehr ein wunderschönes, gut geschriebenes Wohlfühl-Buch und fantastisch geeignet zum Genießen und Verschenken.

https://www.perlentaucher.de/buch/benedict-wells/vom-ende-der-einsamkeit.html

Veröffentlicht am 09.01.2017

„wer zehntausend Stunden einem seltenen Vogel nachjagt, kann aber vor einem leeren Ast enden“

Wüste Welt
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„Wer zehntausend Stunden Japanisch lernt, spricht anschließend fließend die Sprache, wer zehntausend Stunden Klavier übt, spielt anschließend Schuberts Requiem, dass den Zuhörern die Tränen kommen, wer ...

„Wer zehntausend Stunden Japanisch lernt, spricht anschließend fließend die Sprache, wer zehntausend Stunden Klavier übt, spielt anschließend Schuberts Requiem, dass den Zuhörern die Tränen kommen, wer zehntausend Stunden einem seltenen Vogel nachjagt, kann aber vor einem leeren Ast enden. Hat aber etwas. Dass du trotz aller Anstrengung erfolglos bleibst und dir dennoch keiner einen Vorwurf machen kann. Ein Scheitern ohne versagt zu haben.“ S. 153

„Wüste Welt“ von Wolfgang Popp enthält mehrere solcher sprachlichen Perlen auf nur 160 Seiten. Der Leser begleitet einen namenlosen Musiker auf der Suche nach seinem nur gut eineinhalb Jahre jüngeren Bruder, zu dem er lange den Kontakt mied. „Alle Blicke auf ihm, und mein Leben läuft in seinem Schatten ab.“ S. 84 Die Suche gestaltet sich als Schnitzeljagd, bei der das immer nächste Ziel durch den Vorausgegangenen vorgegeben wird oder sich aus dem Ablauf der Reise ergibt: eine SMS mit der Flugnummer, das Buch von Agatha Christie, das im Auto liegen gelassen wurde mit dem Hotel (passenderweise „Der Schritt ins Leere“ von der Queen of Crime), die Brille, zufällig erspäht beim Blick zur Seite, ja, sogar die Begegnungen, wenn der Ältere von der Strecke abweicht.

Zufälle? Die Zufälle häufen sich – wären das nur einzelne, würde ich die Handlung als unglaubwürdig beschimpfen. In dieser Masse, mit dem unbekannten Ziel und Sinn wirkt das charmant, geheimnisvoll, macht neugierig, lädt ein. Die Brüder wirken miteinander verwoben, wie sonst nur in Erzählungen über eineiige Zwillinge durchgehalten. Wer läuft da bis nachts um 4 Uhr durch den Regen? Und dann gibt es die Suche nach den Geistern... Hier entfaltet sich das, was zum Ende Fragen offen lässt, nachdem zuvor (vielleicht?) nur die andere Seite der Medaille gezeigt werden sollte.

Ich gebe auf jeden Fall eine Leseempfehlung für diese so völlig andere Geschichte, die mir das erste und eher unerwartete Lesehighlight des Jahres bescherte – auf die man sich allerdings auch einzulassen bereit sein muss in ihrer Mehrdeutigkeit. Laut Klappentext handelt es sich um den dritten Teil der „Trilogie des Verschwindens“ von Autor Popp, dessen erste beide Teile ich (noch) nicht kenne. Die Klappentexte der anderen Teile deuten keine fortgesetzte Geschichte an, also geht es wohl eher um eine thematische Verwandtschaft.

Ich denke, Mr Gwyn von Alessandro Baricco und dieses Buch könnten den gleichen Lesern gefallen.

Titel im Buch
Bonnie ‚Prince‘ Billy & The Cairo Gang: „Teach me to bear you“ https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=UwI4y0_DGGA
Marlene Dietrich „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=CsrzeV95maQ
Jacques Brel
Ferdinand (! der ältere Bruder von Franz!!) Schubert Requiem https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=8zBkeSKZsDU
Bach Schöpfung

Veröffentlicht am 06.01.2017

„Grauenhafte Perfektion“

Für immer sollst du schlafen
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Die übliche Warnung diesmal vorab: es werden keine Gewalttaten mit sexueller Komponente oder Gewaltübergriffe selbst geschildet. Die Opfer bei diesen Ermittlungen sind jedoch dieses Mal junge Kinder und ...

Die übliche Warnung diesmal vorab: es werden keine Gewalttaten mit sexueller Komponente oder Gewaltübergriffe selbst geschildet. Die Opfer bei diesen Ermittlungen sind jedoch dieses Mal junge Kinder und Babys. Speziell das Kapitel „17. Juni“ stellt die Ermittlungs-Berichte dazu dar, die für mich kaum zu ertragen waren; der Rest des Buches konzentriert sich dann zum Glück mehr auf die – extrem spannenden – Ermittlungen.

Es ist Sommer, die Profiler-Kollegen aus London haben zu tun mit Leichen von Kindern, die auf einem Friedhof abgelegt aufgefunden worden, Andrea Thornton hat gerade eigentlich eher etwas Ruhe – bis man sie um eine Beurteilung zu Amy Harrow bittet, die versucht hatte, sowohl sie als auch Andreas Mann Greg zu töten. Dabei sind die Narben gerade halbwegs verheilt gewesen! Und dann wird Andrea auch in den Fall mit den toten Kindern hineingezogen. Warum hat niemand den Täter gesehen – schließlich verschwand ein Baby direkt aus dem Krankenhaus? Was ist die Motivation für die Taten? Warum fällt es so schwer, dem Täter ein Profil zuzuordnen? Und – waren das die ersten Taten? Sind weitere Kinder gefährdet?

Mit der Entwicklung bei den Ermittlungen hätte ich so nie und nimmer gerechnet. Dania Dicken vermittelt wieder solides Wissen um die Hintergründe für die Taten, sowohl mit Blick auf Amy Harrow zur Krankheit der gespaltenen Persönlichkeit bzw. dissoziativen Identitätsstörung als auch zum aktuell aktiven „Yorkshire Infant Ripper“, die dann auch die Verwirrung beim Profiling erklären. Dabei ist gerade das Ende geradezu nervenzerfetzend, als es gilt, schlimmeres zu verhindern. Doch das ist dieses Mal bei weitem nicht alles.

Es gibt Ärger – und zwar so richtig. Bislang boten die Bände von Autorin Diana Dicken um ihre Protagonistin, die aus Deutschland stammende Profilerin der britischen Polizei Andrea Thornton, zwischendurch ein wenig „Erholung“ im privaten Umfeld. Diesmal: Fehlanzeige. Zuerst schlägt ein privates Unglück in ihrem nächsten Umfeld ein, dann setzt ihr Mann Greg sie unter Druck, weil er ihren Beruf nicht mehr akzeptieren kann. „Du bist total besessen von dem, was du da tust, aber dahin kann ich dir nicht folgen!“ S. 82 Was Greg da bewegt, kann man vielleicht noch durchaus nachvollziehen – welche Handlungen er aber daraus herleitet, ist schon eine ganz andere Sache. Und auch das Handeln von Andrea selbst wirft nicht nur in Bezug auf Greg einige Probleme auf.

Hardcore, nervenaufreibend, gut recherchiert und lehrreich – dazu Menschen, die vielleicht nicht ihre besten Entscheidungen treffen, aber gerade dadurch glaubhaft sind mit ihren Ecken und Kanten. Ich möchte zwar auf keinen Fall weitere Bücher lesen, in denen (Klein-) Kinder in dieser Form zum Opfer werden (das Problem hatte ich bereits mit Band 1 der „Post Mortem“ – Trilogie), aber sonst wurde hier alles richtig gemacht, was man so von einem Thriller erwarten kann.

Veröffentlicht am 05.01.2017

…zu richten die Lebenden und die Toten…

Die Lebenden und die Toten (Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi 7)
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…zu richten die Lebenden und die Toten, mit diesem Ziel ist er angetreten, ein Täter, der sich selbst „der Richter“ nennt. Sein erstes Opfer ist die ältere Ingeborg Rohleder, die erschossen wird beim Gassiführen ...

…zu richten die Lebenden und die Toten, mit diesem Ziel ist er angetreten, ein Täter, der sich selbst „der Richter“ nennt. Sein erstes Opfer ist die ältere Ingeborg Rohleder, die erschossen wird beim Gassiführen des Hundes. „In Memoriam Ingeborg Rohleder. Ingeborg Rohleder musste sterben, weil sich ihre Tochter der unterlassenen Hilfeleistung und Beihilfe zur fahrlässigen Tötung schuldig gemacht hat. Der Richter.“ S. 101 Es bleibt nicht bei der einen Leiche – weitere Tote folgen, scheinbar wahllos hingerichtet durch Kopfschuss. Panik bricht aus unter der Bevölkerung im Rhein-Main-Gebiet, und das kurz vor den Weihnachtstagen! Pia Kirchhoff und ihr Chef Oliver von Bodenstein ermitteln mit ihrem Team, stark eingeschränkt durch Jahresende, Grippewelle und Urlauber kommen sie bald körperlich an ihre Grenzen, ohne erste Erfolge. Der erste Tote ohne Kopfschuss bringt die Ermittler auf die richtige Fährte. Doch als ich als Leserin mit einer baldigen Aufklärung rechnete und noch einiges an Seiten vor mir hatte, legte Autorin Neuhaus erst so richtig los…

Der nach meiner Meinung beste Band der Reihe bietet mehr Themen als zuerst gedacht – was als Ermittlung nach einem vermeintlichen Sniper beginnt, birgt noch so einiges mehr; aber ich möchte bewusst nicht zu viel verraten. Wie immer bei Nele Neuhaus gibt es bei den Ermittlungen viele viele Namen – allerdings werden die Personen, Opfer und Verdächtige, jeweils so geschickt gruppiert eingeführt, dass es leicht fiel, den Überblick zu behalten. Zur Sicherheit habe ich aber eine Tabelle erstellt. Die Spannung wird durch die doch nicht wenigen Seiten durchgehend hoch gehalten, ja, häufig noch gesteigert; ich fühlte mich beinahe wie in einem Thriller gebannt. Dabei tauchen keine Sexualdelikte auf und man trifft nicht auf einen gestörten Sadisten, meine übliche Bemerkung für diesbezüglich empfindliche Leser.

Begeistert hat mich die Recherche, die Frau Neuhaus zu medizinisch und ethisch nicht einfachen Fragen betrieben hat – zufällig hatte ich gerade ein Buch mit ähnlichem Grundthema gelesen und war dort enttäuscht worden. Die Informationen in „Die Lebenden und die Toten“ sind hingegen fundiert, umfassend und ausgewogen, auch in der Zwiespältigkeit zum angesprochenen Thema. Statt zu verunsichern, wird Wissen vermittelt – und ja, einige Ärzte gehen mit Patienten und Angehörigen bei Krankheit und Tod unsensibel vor. Von dieser Darstellung im Buch bin ich geradezu begeistert; auch die sonstige Einblicke in die Polizeiarbeit wirken sehr solide. Geradezu liebgewonnen habe ich seit vielen Büchen das übliche Ermittlerteam – immer wieder erfährt man auch als Leser der gesamten Reihe neue Hintergründe über die Kommissare, so bleibt es immer menschlich. Ich persönlich habe die Reihe nie chronologisch gelesen, somit halte ich einen Einstieg durch das beschriebene Vorgehen der Autorin jederzeit für möglich.

Ich habe dieses Mal wirklich nur als Schwachstelle gefunden, dass um S. 308 die Ermittler der Buchhalterin nicht mitzuteilen scheinen, dass ihr Chef sie NICHT versetzt hat (nicht, ich verrate nicht mehr – selbst lesen!). Volle 5 von 5 Sternen.

Ich habe übrigens zufällig das Buch praktisch zeitgleich zur Ausstrahlung des ZDF-TV-Zweiteilers gesehen – personell wurde die Umsetzung zwar etwas gerafft und besonders im zweiten Teil noch bezüglich der Handlung ein wenig geändert, aber insgesamt kann sich auch diese Version durchaus sehen lassen. Mir gefiel eigentlich nur nicht, dass die im Buch durchaus schlagfertige jüngere Schwester von Pia, Kim, im Film wesentlich schwächer rüber kam.

Eine Aufstellung zu Ermittlern und den Menschen, mit denen sie es dieses Mal zu tun haben, hängt an.