Von Menschen und Narren
Geschichten über Till Eulenspiegel kennt man bereits seit dem 14. und 15. Jahrhundert. Mal Dil oder Dyl genannt, mal Ulenspegel oder Ulenspiegel, war nicht nur sein Name über die Zeit allerlei Veränderungen ...
Geschichten über Till Eulenspiegel kennt man bereits seit dem 14. und 15. Jahrhundert. Mal Dil oder Dyl genannt, mal Ulenspegel oder Ulenspiegel, war nicht nur sein Name über die Zeit allerlei Veränderungen unterworfen.
Was um 1510 literarisch unter dem Titel Ein kurtzweilig lesen von Dyl Vlenspiegel begann, greift Daniel Kehlmann über ein halbes Jahrtausend später in seinem Roman Tyll wieder auf. Doch während das erste Kapitel „Schuhe“ thematisch noch an sein historisches Vorbild erinnert, zeugen die weiteren Kapiteln weniger von den Streichen und Scherzen des Gauklers, als von den Geschehnissen um den Dreißigjährigen Krieg und seine Zeit.
Denn der Narr Tyll Ulenspiegel, wie er bei Kehlmann heißt, kann Einblicke in jede Gesellschaftsschicht bieten. Tyll wächst als Sohn eines Müllers auf, der seiner Zeit entrückt scheint. Statt sich mit seiner Arbeit als Müller zu beschäftigen, studiert er lieber die Rätsel der Sonne und des Mondes.
Doch Claus Ulenspiegels Wissensdrang geht weit über solche Fragen hinaus und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Inquisition in Gestalt von Tesimond und Kircher auf ihn aufmerksam wird.
Jahre später macht der Narr Tyll Ulenspiegel Bekanntschaft mit dem Winterkönig, seiner Frau Liz und Gustav Adolf. Es ist nicht die Inquisition, die diese Heimsucht, sondern die Pest und die Schattenseiten des Krieges.
Doch so vielseitig die Einblicke auch sind, die der Narr dem Leser gewährt, so unzuverlässig ist Kehlmanns Erzählstil, die Wirklichkeit zeigt sich selten eindeutig. Zum einen ist die Welt Claus Ulenspiegels im Wissen und Glauben ihrer Zeit verhaftet, fortschrittliche Meinungen kommen bei seiner Anklage zwar zu Wort, finden jedoch kein wohlwollendes Gehör. Auch die Zauber, die Claus Ulenspiegel kennt, bleiben ambivalent, denn wenn diese versagen, findet sich zumeist eine Alternativerklärung dafür, sodass nicht abschließend geklärt werden kann, ob in der Welt Tyll Ulenspiegls Zauber und Magie einen Platz haben; im Aberglauben der Zeit hatten sie ihn jedenfalls.
Auch die letzten Worte und Gedanken des Winterkönigs bleiben in der Schwebe. Denn während der letzten Nachricht, die er seiner Frau Liz zukommen lassen will, fällt ihm das klare Denken nicht mehr leicht.
Daniel Kehlmann gelingt es in seinem Roman Tyll eine geschicktes Netz aus den Gegensätzen der Zeit, zwischen Fortschritt und Aberglaube, Humor und Tod, sowie Wirklichkeit und Schein-Wirklichkeit, zu knüpfen. Doch alle Maschen sind stark und so behält Tyll, obwohl die Geschichten einiger Figuren zu Ende erzählt sind, Abschluss finden und Fragen geklärt werden, doch seine Offenheit.
Selten hat ein Buch so stark dazu eingeladen, sich auf Perspektivwechsel und Ambivalenzen einzulassen. Während die Sprache klar und strukturiert ist und so ein stimmiges Gerüst bildet, sind es die Gedankenwelten der Figuren selten. Und somit lässt Kehlmann dem Leser genug Luft, seine eigenen Gedanken in diese seit Jahrhunderten vergangene Zeit einzubringen. Nur, ob sie auf die richtige Fährte führen, bleibt abzuwarten.