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Veröffentlicht am 11.04.2020

Das Mädchen aus den Sümpfen

Der Gesang der Flusskrebse
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Eine arme Familie lebt in den Küstensümpfen von Nord-Karolina im Süden der USA. Der Vater ist ein Alkoholiker der Frau und Kinder brutal schlägt. Einer nach dem anderen verlassen ihn die Kinder und die ...

Eine arme Familie lebt in den Küstensümpfen von Nord-Karolina im Süden der USA. Der Vater ist ein Alkoholiker der Frau und Kinder brutal schlägt. Einer nach dem anderen verlassen ihn die Kinder und die Ehefrau. Zurück mit dem gewalttätigen Vater bleibt nur das jüngste Kind, Kia. Mehr schlecht als recht schlägt sich Kia durch, lernt dem Vater auszuweichen, wenn er betrunken ist, putzt und kocht für ihn und geht mit ihm fischen. Doch irgendwann bleibt auch der Vater aus, und mit ihm fällt auch seine magere Invalidenrente weg. Kia ist zehn Jahre alt. Sie lebt allein im Sumpf, die weiße Bevölkerung des nahen gelegenen Städtchens verachtet sie, meidet sie, verbietet ihren Kindern jeglichen Kontakt zu ihr. Die einzigen, die ihr beistehen, sind Jumpin und seine Frau Mabel, Schwarze aus dem benachbarten „Coloured Town“. Manchmal sieht sie aus der Ferne andere Fischer, ab und zu auch Tate, der ein Freund ihres verschwundenen Bruders Jodie war. Auf sich allein gestellt lebt sie die nächsten vier Jahre. Sie gräbt Muscheln aus, angelt, räuchert Fische, verkauft sie an Jumpin für Treibstoff für ihr Boot und ein paar magere Lebensmitteln.
Kia ist hoch intelligent. Sie kann zwar nicht lesen, schreiben, rechnen, hat keinerlei Schulbildung je genossen, aber ist interessiert an allem was sie umgibt. Sie ist fest verwurzelt mit der einzigartigen Sumpfgegend, in der sie lebt, kennt und versteht die Pflanzen- und Tierwelt, ob zu Lande, im Wasser oder in der Luft. Und zusammen mit Kia entdecken auch wir, die Leser, die Moore, die Vogelwelt, die Muscheln, Gräser, den Einfluss der Gezeiten und der Jahreszeiten. Wir entdecken die Schönheit der Sonnenauf- und -untergänge, wir entdecken temporäre Sandbänke, die mit der nächsten Flut wieder verschwinden werden. Und wir bewundern Kia, zollen Ihr Respekt für die Art wie sie ihr schweres Leben meistert, sich nicht unterkriegen lässt, offen für all das Schöne und Wunderbare ist, das sie umgibt. Sie wird Teil des Marschlandes, anderswo könnte sie nie leben.
Kia ist Menschenscheu. Tate versteht es, sich ihr zu nähern, ohne sie zu erschrecken. Zuerst lässt er für sie Federn oder Muscheln an einer Stelle zurück, an der sie vorbeikommen muss, dann, als Kia ihm auch solch kleine Geschenke hinterlässt, taucht er selbst auf, spricht mit ihr ganz behutsam, verspricht ihr, ihr Lesen und Schreiben beizubringen. Kia akzeptiert das denn Lesen und Schreiben zu können war schon immer ihr Herzenswunsch. Und tatsächlich, Tate und Kia freunden sich an, Tate gelingt es, Kia die nie besuchte Schule zu ersetzen, Kias wacher Geist saugt Tates Wissen wie ein Schwamm auf. Sie liest alle Bücher, die Tate ihr vorbeibringen kann. Tate geht nebenbei zur Schule, arbeitet mit seinem Vater und trotzdem findet er Zeit, Kia regelmäßig aufzusuchen, mit ihr zu lernen.
Doch Tate muss aufs College. Er will Biologie studieren, denn genau wie Kia ist er fasziniert von der Natur des Marschlandes. Er verspricht zwar Kia sie weiterhin zu besuchen, aber er wird wortbrüchig. Er hat weder die Stärke, ihr zu sagen, dass er sie verlässt, noch sie mit zu nehmen, sie aus dem Moorgebiet zu holen. Und wieder bleibt Kia allein zurück, Alle die sie geliebt hat, die sie ganz nah an sich herangelassen hat, haben sie verlassen: die Geschwister, die Mutter, der Vater und nun auch Tate.
In ihrer Einsamkeit lässt sie es zu, dass ein anderer Mann sich ihr nähert. Es ist Chase Andrews. Quarterback und sunny boy, gutaussehend, überheblich, der Held von Barkley Cove. Die zwei beginnen eine Affäre, in die Kia gutgläubig hineingeht denn Chase spricht von Hochzeit, von einem gemeinsamen Haus am Rand von Barkley Cove, er will sie seinen Eltern vorstellen, und so weiter. Doch er findet immer wieder Ausreden, warum es gerade nicht geht, warum er sie nicht mitnimmt in die Stadt, zu den Parties, weil sie sich ja nur langweilen würde, weil die vielen Menschen sie nur stören würden, usw. Für Chase ist Kia nur ein kleines Abenteuer bis zu seiner Hochzeit mit einem Mädchen aus der Stadt, einer guten Partie, mit der beide Familien einverstanden sind. Kia erfährt von der Verlobung aus der Zeitung und weigert sich fortan noch Chase zu begegnen. Eigentlich hat sie Chase nie so geliebt wie Tate, aber er war da und machte ihr die Einsamkeit erträglicher. Letztendlich war Chase nur auch einer von jenen, die eine Zeitlang da waren ums ie dann still und heimlich zu verlassen.
Dieses ist die eine Ebene und Seite des Romans. Kias Leben in der Einsamkeit der Sümpfe, ihre Freundschaft und Liebe mit Tate und ihre Affäre mit Chase, in den Jahren 1952 bis 1967.
Die andere Ebene ist zeitlich versetzt. Sie spielt 1969 – 1970 ab. Chase wurde unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden und die Polizei von Barkley Cove führt die Ermittlungen. Der Verdacht erhärtet sich, dass Chase nicht als Folge eines Unfalls starb und Selbstmord wird auch ausgeschlossen. Nun beginnt die Suche nach dem Mörder. Das Städtchen ist schnell dabei, den Stab über Kia zu brechen. Zum einen ist sie „WhiteTrash“ aus dem Sumpf, zum anderen lebt sie allein, sie hat nie die Schule besucht, wenn sogar die eigene Familie sie verlassen hat, ist sie also schuldig. Außerdem, Chase Andrews war ein rechtschaffener Mann, verheiratet, eine Stütze der Gesellschaft. Bestimmt hat sie ihn verführt, auch wenn Zeugen gesehen haben wollen, wie Kia vor ihm weggelaufen ist, nachdem er versucht hat, sie zu vergewaltigen.
Es kommt zum Prozess. Tate, sein Vater, Jumpin und Mabel stehen zu ihr, auch ihr Bruder Jodie kommt, nachdem er vom Prozess aus der Zeitung erfahren hat. Der Prozess zieht sich hin. Es haben die 70er Jahre des 20. Jahrhundert begonnen. Nicht nur dürfen Mabel und Jumpin im Gerichtssaal direkt hinter Kia sitzen, nein, in den Köpfen einiger weißer Menschen hat ein Umdenken begonnen. Einige erkennen, wie sehr sie als Gemeinschaft versagt haben, ein kleines Mädchen auszustoßen, nie zu fragen, wie sie lebt, ob sie zu Essen hat, ob sie etwas braucht. Jumpin und Mabel haben das auf ihre unaufdringliche liebevolle Art getan. Und auch das wurde Kia vorgeworfen: Sie würde von den „Niggern“ abgelegte Kleidung anziehen und nur mit ihnen Freundschaft pflegen. Aber wenn sie die einzigen waren, die ihr beistanden, wie hätte sie denn je Freundschaft zu anderen Bewohnern von Barkley Cove pflegen können? Und so wird der Prozess über Kia letztendlich auch zu einem Prozess über Barkley Cove, die engstirnige selbstgerechte Kleinstadt in der Außenseiter keine Chance haben.
Von einem Buch über eine schwierige Kindheit zu einem Buch über die Schönheiten der Natur zu einem Krimi und zu einem Roman über einen Prozess, wie sie in den Staaten sehr beliebt sind, ist Delia Owens‘ Buch vielschichtig und faszinierend.
Ein großes Lob möchte ich auch dem Übersetzerteam Ulrike Wasel und Klaus Timmermann aussprechen. Ihnen ist der perfekte Grat zwischen der Hochform der amerikanischen Sprache und dem Südstaatenslang sowohl der weißen als auch der schwarzen Bevölkerung gelungen. Die Arbeit von Wasel und Timemrmann hat wesentlich zum Lesegenuss beigetragen.

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Veröffentlicht am 29.03.2020

Familiengeschichten zum Hirschgulasch

Das eiserne Herz des Charlie Berg
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Um es vorweg zu sagen: Dies ist kein Kochbuch, obwohl ich das Rezept von diesem Hirschgulasch gerne hätte.
Der Hirschgulasch spielt eine zentrale Rolle in der Familie Berg – Del Monte. Aber dieses Buch ...

Um es vorweg zu sagen: Dies ist kein Kochbuch, obwohl ich das Rezept von diesem Hirschgulasch gerne hätte.
Der Hirschgulasch spielt eine zentrale Rolle in der Familie Berg – Del Monte. Aber dieses Buch ist auch kein Familienroman allein, obwohl sämtliche Familienmitglieder darin vorkommen: Die vier Großeltern, die beiden Eltern, Charlie und Fritzi, die beiden Kinder. Auf den ersten Blick scheint dies eine dysfunktionale Familie zu sein, der Vater ein kiffender Musiker, die Mutter Theaterregisseurin mit einem massiven Alkoholproblem, Fritzi ein Savant, die mit vier Jahren schon die städtische Bücherei durchgelesen hat. Und schließlich Charlie Berg der die Familie zusammenhält. Er kocht für die Familie, hält das Haus in Schuss, übernimmt die kleine Fritzi als die Mutter in ganz Europa Regieaufträge annimmt und der Vater sich tagelang in sein Studio für Musikaufnahmen einschließt. Er zieht mit Fritzi um ins Haus der Großeltern als die Großmutter einen Schlaganfall erleidet und übernimmt ihre Pflege. Dysfunktional doch irgendwie halten die Mitglieder doch zusammen, sind füreinander da im entscheidenden Augenblick, unterstützen sich bedingungslos. Und nicht nur strikt die mit verwandtschaftlichen Graden untereinander sondern auch die Freunde die fest zu dieser Familie dazugehören: Stucki, Ditos Freund und das andere Mitglied der Band Toytonic Swing Ensemble; Stuckis Stieftochter Malinche – Mayra; David, Charlies sexbesessener Schulfreund, Laura, die Bibliothekarin die Fritzi bei sich in der Bibliothek aufnimmt und sie alles lesen lässt.
Also gut. Kein Kochbuch aber ein Familienroman. Was noch? Entwicklungsroman? Auf jeden Fall. Zwar kein Tumber Tor der sich zum Gralssuchenden Parzival entwickelt, aber vom schulischen Außenseiter in der Kindheit, der nur im Hause seiner Großeltern und mit Malinche zusammen unbeschwerte Kindheit erleben darf, entwickelt sich Charlie Berg zu einem Mann der die Fäden der Familie fest zusammen hält, Verantwortung übernimmt, über Leben oder Tod von geliebten Menschen aber auch von fremden oder verhassten Menschen fraglos übernimmt.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman. Ist es ein Roman über eine außergewöhnliche Gabe und Begabung? Charlie Berg hat eine Leidenschaft für Gerüche und Parfüms. Er hat ein außergewöhnliches Riechorgan, besser als die eines Spürhundes. Er kann die Düfte und Gerüche, die ihn umgeben zerlegen, aussortieren, sich auf einige wenige konzentrieren und sie akkurat wahrnehmen. Charlies Nase spielt im Roman eine Hauptrolle.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman und ein Roman über eine außergewöhnliche Begabung. Ist es ein Roman über den Literaturbetrieb an sich, wie kleine Selbstverlage funktionieren, wie Preise im Literaturzirkus manchmal vergeben werden (Bitte, lasst wenigstens den Nobel-Preis korrekt vergeben werden!) Die ganze Stadt fiebert dem Literaturfestival und -preis Text.Eval entgegen, die Lesungen werden mit großem Interesse allerseits verfolgt, sie sind ungemein wichtig sowohl für den jungen Literaten, der den Preis gewinnt als auch für den „Literaturpaten“ der das Werk des Debütanten fördert und unterstützt.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman, ein Roman über eine außergewöhnliche Begabung und ein Roman über den Literaturbetrieb der über die Grenzen einer Kleinstadt hinausgeht. Krimi? Oder Thriller? Ja! Beides: Wer ist der Wilderer im Wald? Wieso verschwindet Großvaters Leiche vom Tatort? Wie schafft es der schwerkranke Charlie Berg in einer atemberaubenden Aktion Ramón beim Sterben ein wenig nachzuhelfen? (Von meiner Seite aus: !Hasta nunca! Ramón!). Sehen wir uns mal den Thriller an: das Baumhaus ist fertig, der elfjährige Charlie und die 14jährige Malinche wollen im Wald im Baumhaus übernachten, werden aber von den ärgsten Schulhofschlägern überfallen, das Baumhaus wird in Brand gesteckt, das Mädchen wird fast vergewaltigt, Charlie überlebt nur knapp den Tod. Das Ganze wird so spannend geschildert, dass man mit den Kindern mitfiebert und mitleidet. Oder kurz vor dem Ende des Romans, als Charlie der Polizistin Carla die Hintergründe der Morde, des Plagiatsvorwurf, kurz alles aufdeckt und zur Verhaftung der schuldigen Person führt. Die Szene (wie übrigens alle Buchszenen) ist filmreif und ein Raymond Chandler oder skandinavischer Krimiautor hätten das nicht besser gestalten können.
Sebastian Stuertz ist mit seinem Debüt gleich in die Meisterklasse aufgestiegen. Die ganze Handlungsführung von der ersten zur letzten Seite, die Actionszenen, die Dialoge, die agierenden Personen, alles wirkt natürlich und logisch. Der Spannungsbogen erschlafft an keiner Stelle, noch wird er überzogen. Einige Gestalten finden wir von Anfang an liebenswürdig, wie Malinche – Mayra, wie Charlies Oma, wie die geradlinige Fritzi die nur in Zitaten redet. Andere brauchen etwas, bis sie uns ans Herz wachsen: wie Charlie Berg, der Ich-Erzähler. Zuerst war ich ein wenig abgestoßen, mit welcher Kaltblütigkeit er den erschossenen Opa im Wald beim Hirsch zurücklässt, aber im Nachhinein betrachtet verstehen wir seine Beweggründe, akzeptieren sie und stehen voll hinter Charlie. Oder seine Eltern: Rita del Monte, deren Karriere als Regisseurin vor Familie und vor allem vor den Kindern steht. Nur während der Schwangerschaften verzichtet sie auf weite Reisen, Alkohol und Zigaretten. Aber durch Charlies Trick mit der Kassette aus dem Anrufbeantworter kommt sie zur Besinnung und geht auf Entzug. Der Vater, Dito Berg ist Musiker, ein kiffender Alt Achtundsechziger, der seinem Vater seine NSDAP Vergangenheit nie verziehen hat. Er hat eine „Band“ bestehend aus ihm und seinem Freund Stucki, sie haben sogar Erfolge damit, bringen Platten heraus, sind in Insiderkreisen bekannt. Er zieht sich tage- und wochenlang zurück in sein Studio im Keller, kümmert sich weder um die Kinder noch um das Haus, obwohl er weiß, dass seine Frau abwesend ist. Charlie erledigt praktisch alles: kümmert sich um das Baby und spätere Kleinkind, kocht, putzt, schmeißt den ganzen Haushalt und das neben der Schule.
Die Großeltern sind absolute Gegensätze: Oma ist freundlich, lieb, resolut, tröstet Malinche und hilft ihr als sie zum ersten Mal ihre Regel kriegt. Sie baut mit Charlie und Malinche das Baumhaus und reagiert vernünftig als sie Murat, Mozart und Claudio im Wald erwischt. Hätte sie die Polizei gerufen, wäre aus diesen dreien Kleinkriminelle geworden, ohne Halt im Leben. So werden sie ihren Familien ausgehändigt, die von den Umtrieben der Bande bis dahin nichts wussten und nun ihrerseits Maßnahmen ergreifen können. Opa ein eigenbrötlerischer Mann, trinkt und hat praktisch keinen Kontakt zur eigenen Frau oder zu den Enkelkindern. Das ändert sich radikal als Oma den Schlaganfall erleidet. Als späte Wiedergutmachung hört er mit dem Trinken auf, bringt Charlie sein Jägerhandwerk bei, wird zu dem Opa, der er früher nie war. Wer weiß, vielleicht hätte er es sogar noch geschafft, sich mit seinem Sohn auszusöhnen.
Dann wären da die ermittelnden Polizisten, Carla Bentzin und Dittfurt. Effizient, in einer heimlichen Sexaffäre miteinander verwickelt, kommen sie zu den gleichen Schlussfolgerungen wie Charlie Berg und sind der Lösung der Krimifälle auf der Spur.
Dann wäre da noch die schräge Dr. Helsinki. Kompetent aber schräg. Sie redet in einer verniedlichenden Babysprache mit den erwachsenen Patienten, dass man sich fragen muss, wie fachkundig sie eigentlich ist und ob sie ihr Diplom in der Kita erworben hat.
Eine meiner Lieblingsszenen spielt im Krankenhaus, nachdem Charlie seinen Herztransplant bekommen hat. Er schwebt zwischen Leben und Tod, er kriegt nur olfaktorisch mit, wer ihn besucht, zwischen den Besuchen entschwebt sein Geist aus dem Raum, spricht mit Cernunnos, dem keltischen Gott des Waldes und der Natur. Erst als ihm der gehörnte Gott die Absolution erteilt kann Charlie mit Mayras Hilfe zurück ins irdische Dasein kommen.
Die Schlussszene, als die gesamte Familie samt Freunden beim Hirschgulaschessen zusammen findet, und die letzten losen Enden in diesen wunderschönen Wirkteppich zusammen gefügt werden lässt die Leser aus dem Buch auftauchen, sich umsehen und zurück ins Buch eilen: war das wirklich alles? 714 Seiten sind nicht genug. Bei weitem nicht. Wird Ramon nie aus der Versenkung auftauchen? (Achtung Wortspiel). Wird die adoptierte Gräfin noch Ränke und Intrigen schmieden? Wird Mayra je die volle Wahrheit über Ramon erfahren und wie wird sie darauf reagieren? Und vor allem wird Charlie seine wunderbare Gabe auch nach der Herz-OP behalten?

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Veröffentlicht am 22.03.2020

Wie viele Diktaturen kann ein Mensch ertragen?

Goodbye, Bukarest
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Der Luftwaffenpilot Bruno Seeberger, der lange als verschollen geglaubte Onkel der Autorin Astrid Seeberger hat gleich drei Diktaturen überlebt: zuerst Hitlerdeutschland, dann Kriegsgefangenschaft in einem ...

Der Luftwaffenpilot Bruno Seeberger, der lange als verschollen geglaubte Onkel der Autorin Astrid Seeberger hat gleich drei Diktaturen überlebt: zuerst Hitlerdeutschland, dann Kriegsgefangenschaft in einem der vielen Lager Stalins und zuletzt Ceausescus Diktatur in Rumänien. Die Autorin erfährt erst spät, dass Bruno nicht über Stalingrad abgeschossen wurde, sondern in einem Gulag und anschließend in Bukarest gelebt hat. Er hat geheiratet, hat einen Sohn großgezogen, hat den Freitod seiner geliebten Frau Naja nur schwer überwunden.
In einer Diktatur, egal welcher Couleur, kann man nicht still und versteckt vor sich hinleben. Die Diktatur umfasst jeden einzelnen wie ein Krake, saugt ihn aus, bestimmt sein Leben bis ins kleinste Detail. Man überlebt nur durch das Errichten von Schutzräumen, die man mit geliebten Menschen und Schicksalsgenossen teilt. Dieser Schutzraum kann ein Wort sein, wie Kaolin, oder ein Stück Brot das einem unverhofft zugesteckt wird, oder das Melken einer Kuh, oder Musik aus einem Lautsprecher, ein Bild, dass seine Aura auch dann noch ausstrahlt, als die Schergen des Regimes das Bild längst abgeholt haben, oder einfach nur die Zwei- oder Dreisamkeit in Zeiten der größten sozialen Oppression. Diese Schutzräume bieten kurze Momente des Glücks, das von keiner Behörde zerstört werden kann, denn sie sind tief in unserem Innersten verankert. Und sind gleichzeitig auch unser eigener Anker im Leben. Dank dieser Schutzräume konnte Bruno Seeberger überhaupt überleben.
Ihm selbst begegnen wir im Roman „Goodbye Bukarest“ nur in den Rückblicken der Menschen, die ihn gekannt haben. Zuerst der junge Dmitri Fjodorow alias Hannes Grünhoff, ein junger Strafgefangener im Lager in Kasachstan, dann der Sänger Wolfgang Müller, der zwar Bruno nicht gekannt hat, aber seinen langjährigen Partner und Schwager Dinu Adamescu. Zum Schluss kommt Jakob Seeberger, Brunos Sohn zu Wort, der die Geschichte über Brunos Leben abrundet. Dinu Adamescu selbst nimmt seine und Brunos Geschichte auf einer CD auf, er erzählt von der Flucht aus Sowjetrussland, die abenteuerliche Fahrt nach Bukarest, das Leben in einer einst so wundervollen und lebenshungrigen Stadt die unter Ceausescu immer mehr erlischt, an Lebensfreude und Esprit verliert. Ceausescu lässt ganze Straßenzüge und Wohnviertel niederwalzen, weil er einen monströsen Prunkpalast mit Potemkinschen Boulevards bauen will. Die Securitate bespitzelt immer offener und brutaler alle Menschen, ein Entkommen gibt es nicht. Die Prunkbauten verschlingen Unmengen an Geld, Geld das das Land nicht hat und von den Wehrlosen genommen wird. Das ganze Land leidet an Hunger, Kälte, schlechter Versorgung. Ceausescus Imponiergehabe färbt ab, Demokratie ist ein leeres Wort im Land des Titanen der Titanen, des „meist geliebten Sohnes seines Volkes“, des „größten Steuermanns und Denkers“.
Bruno Dinu und Jakob erleben das Ende der Diktatur nicht mehr in Rumänien. Dinu ist schon früher geflohen, Bruno und Jakob nach Najas Tod, zehn Jahre vor dem Ende der Willkürherrschaft. Die drei verfolgen das unrühmliche Ende der Diktatur wie wir alle anderen, im Fernsehen. Es war die erste gefilmte Revolution. Im Buch beschwert sich Bruno, der Prozess der beiden Diktatoren, Elena und Nicolae Ceausescu sei viel zu kurz gewesen, er hat nicht einmal eine Stunde gedauert vom Verlesen der Anklageschrift bis zum Urteil, das auch sogleich vollstreckt wurde. Ich aber sage, es war richtig so. Nachdem die Bilder ausgestrahlt wurden, fiel im ganzen Land kein Schuss mehr, ein blutiger Bürgerkrieg wurde durch unwiderrufliche Bekanntgabe von Ceausescus Tod im Keim erstickt, Ceausescus Schergen tauchten ab, der Tod durch Heckenschützen war gebannt.
Astrid Seeberger ist eine großartige Erzählerin. Ihre Sprache ist schlicht und direkt, um dann wie en passant sehr bildhafte und bezaubernde Vergleiche zu verwenden. So beschreibt Bruno die Dämmerung als eine leuchtende blaue Weite in der sich die Konturen der Erde auflösen. (S. 75). Oder wie Naja erklärt, warum sie am liebsten am Vormittag malt: da findet der Pinsel die Bilder. „Dann braucht man ihn nur malen lassen, und nicht mit eigenen Ideen zu kommen“ (S. 202). Es sind nicht außergewöhnliche Worte, die Seeberger hier verwendet. Die Worte kommen mitten aus dem Wortschatz, doch durch diese Anordnung in Sätzen ergeben sich Bilder von ungeahnter Stärke und Schönheit.

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Veröffentlicht am 11.03.2020

Wann kommt endlich der 3D Drucker der menschliche Ersatzorgane drucken kann?

Feuerland
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Der Thriller beginnt langsam, bedächtig, lässt uns Zeit uns einzulesen, zuerst ein Einbruch in einem Juwelierladen, der eigentlich kein Einbruch ist, eine Polizistin muss eine Psychotherapie beginnen, ...

Der Thriller beginnt langsam, bedächtig, lässt uns Zeit uns einzulesen, zuerst ein Einbruch in einem Juwelierladen, der eigentlich kein Einbruch ist, eine Polizistin muss eine Psychotherapie beginnen, weil sie mit Alkohol am Steuer erwischt wurde, ein Tellerwäscher der eigentlich zu schade und zu gut für den Abwasch ist, dies alles in Stockholm. Und dann plötzlich schwenken wir rüber, über den Atlantik, an die Südspitze Chiles und begegnen dem Abgrundtief Bösen. Die Colonia Rhein, in Feuerland, hat nach dem Wegbruch der Pinochet-Diktatur sich um andere Verdienstmöglichkeiten bemüht, nun, da keine Folterknechte mehr von Pinochet benötigt wurden. Und Colonia Rhein ist fündig geworden: Organtransplantationen. Kranke Menschen, die neue Organe benötigen, gibt es immer, und reiche Menschen, die sich privat und diskret neue Organe einsetzen lassen, gibt es auch. Bloß mit den Organspendern will es nicht so recht klappen. Aber Don Carlos hat die Marktlücke entdeckt: Waisen- und Straßenkinder aus Asien und als die Quelle versiegt, Flüchtlingskinder aus Schweden. Sein Pech, dass er sich die falschen Handlanger in Schweden aussucht.
Was als mehrere lose Erzählstränge begann wird schnell zu einem brisanten Geflecht und einer atemlosen Handlung. Nicolas Paredes, der Tellerwäscher entpuppt sich als ein Profi mit eisernen Prinzipien und Familienmensch, hält zu und hilft seinem Freund nur um fest zu stellen, besagter Freund meint es nicht ganz so ehrlich mit ihm. Don Carlos entdeckt den zweiten Frühling, weiß ihn aber nicht zu halten. Vanessa Frank, die Polizistin ermittelt in zwei Fällen von nicht oder nur spät gemeldeten Kidnappings und nebenbei übernimmt sie die Verantwortung für ein Flüchtlingskind, stellt auch fest, dass jemand in den Reihen der Polizei korrupt ist und ein doppeltes Spiel treibt. Aus diesen Verwicklungen heraus entsteht letztendlich eine ungemein spannende und erfolgsgekrönte Zusammenarbeit zweier Kontrahenten, die es so offiziell nicht geben darf, zwischen Polizei und Verbrecher.
Rasanter knapper Stil, ein Page-Turner par Excellence, fiebern wir dem dramatischen Showdown auf Feuerland entgegen.
Die Hauptgestalten, kommen glaubhaft und realistisch dargestellt rüber. Schön finde ich auch die sehr fein gezeichnete Unterscheidung zwischen bösen richtig abgrundtief bösen Verbrechern und den guten Verbrechern, à la Robin Hood. (Wie Nicolas Paredes wohl in Strumpfhosen aussieht?) Vanessa Frank, die Kriminalkommissarin hat ein offensichtliches kleines Alkoholproblem und ein viel größeres mit der Hierarchie bei der Stockholmer Polizei. Wenn sie der Meinung ist, der Polizeichef ist ein inkompetenter Idiot tja, dann ist es wohl so und der Chef muss sehen wie er damit zu Rande kommt.
Ich hoffe, Pascal Engmann wird uns die Wiederbegegnung mit Vanessa und Nicolas auch in zukünftigen Thrillern ermöglichen, sie geben ein tolles Gespann ab.

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Veröffentlicht am 11.03.2020

Wiedersehen in Doggerland

Doggerland. Tiefer Fall (Ein Doggerland-Krimi 2)
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Was ist so faszinierend an Doggerland? Es gibt ja diese Inseln gar nicht. Aber anders als in Auenland oder Liliput, gab es einmal, in grauer Vorzeit Doggerland wirklich. Die Ortsnamen, die Landschaft, ...

Was ist so faszinierend an Doggerland? Es gibt ja diese Inseln gar nicht. Aber anders als in Auenland oder Liliput, gab es einmal, in grauer Vorzeit Doggerland wirklich. Die Ortsnamen, die Landschaft, die Menschen, alles klingt so vertraut als wäre es im Nachbarort. Dabei entspringt alles Maria Adolfssons Fantasie. Das macht den Roman so interessant. Natürlich auch die Handlung, ein gut gemachter Krimi ist immer spannend und abwechslungsreich, und dies ist ein guter Krimi. Ein weiterer Anziehungspunkt ist das Auftreten der Hauptgestalten, die wir aus Adolfssons ersten Krimi schon kennen: Die Ermittler und ihre mehr oder weniger komplizierten Familienverhältnisse.

Karen Eiken Hornby verbringt Weihnachten mit ihrer Mutter, deren Partner, mit dem obdachlosen Leo Friis, der bei ihr eine Bleibe gefunden hat, mit Sigrid Smeed, der Tochter des Polizeichefs von Doggerland, mit Marike, der dänischen Freundin. Karen ist sich dabei nicht sicher, will sie vielleicht lieber allein sein und ihre Ruhe haben oder doch lieber die Freunde und all den Trubel um sich haben? So kommt ihr die Aufforderung ihres Chefs auf die Nachbarinsel Noorö überzusetzen, weil da ein Mord passiert ist nur gelegen. Und so nimmt die Handlung Fahrt auf. Wie bei einem guten Krimi rutschen abwechselnd unterschiedliche Verdächtige in den Fokus nur um dann wieder entlastet und in unseren Augen rehabilitiert in den Hintergrund zu treten oder selber als Leiche zu enden, denn es geschieht ein zweiter Mord auf Noorö.

Zusätzlich lernen wir neue Familienmitglieder von Karen kennen und auch wie Karens Mann und Sohn ums Leben kamen, damals in England. Dies ist alles notwendiger Teil der Handlung, denn nur so können wir Karen Eiken Hornby besser kennen und verstehen lernen. Wenn sich anfangs die Ermittlungen mühsam und fast zäh dahinziehen, so wächst die Handlung allmählich an, die Spannung wächst und die Verschnaufpausen werden immer geringer und seltener. Parallel zur eigentlichen Krimihandlung entwickelt sich noch ein zweiter genauso spannender Erzählstrang um Karens Freundin Aylin und deren Mann Bo Ramnes.

Und wie es sich für einen spannenden Krimi gehört, wird Karen Eiken Hornby unter Einsatz ihres Lebens beide Mordfälle lösen und Aylins Problem eher unkonventionell letztlich endgültig aus der Welt schaffen.

Maria Adolfsson hat mir schon mit dem ersten Doggerland Roman gefallen, mit diesem zweiten ist sie definitiv in meinen persönlichen Autorenpantheon aufgestiegen.

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