Vom Glück, seinen eigenen Weg zu finden
Es gibt Bücher, da hat man noch nicht mal eine Seite gelesen und ist sich trotzdem sicher: Mit dieser Lektüre wird man sich wohl fühlen, sogar sehr wohl. Und so war es bei 'Offene See'.
Die Geschichte ...
Es gibt Bücher, da hat man noch nicht mal eine Seite gelesen und ist sich trotzdem sicher: Mit dieser Lektüre wird man sich wohl fühlen, sogar sehr wohl. Und so war es bei 'Offene See'.
Die Geschichte selbst ist eher unspektakulär: Der II. Weltkrieg ist gerade vorbei, als sich der 16jährige Robert aufmacht, die Welt zu erkunden. Aufgewachsen im Norden Englands in einem armen Bergarbeiterdorf scheint sein Leben vorherbestimmt zu sein wie das seines Vaters und seines Großvaters und all der Nachbarn um ihn herum: Unter Tage zu arbeiten um Kohle zu fördern. Doch in ihm wächst das Fernweh und die Lust auf ein Leben, das nicht bestimmt ist vom grauschwarzen Staub der Kohle. Mit nichts als einem Rucksack und etwas Verpflegung macht er sich auf Richtung Süden, zu Fuß durch das zerstörte England. Fast am Meer angelangt, trifft er auf die ältere Dulcie, eine allein lebende, unkonventionelle Frau, die ihm ein Leben zeigt, das so völlig anders ist als alles, was er bislang kannte.
Nein, hier geht es nicht um eine Liebesgeschichte 'ältere Frau verführt jungen Mann', sondern um eine Freundschaft im besten Sinne. Dulcie lässt Robert auf ihrem Grundstück übernachten und bei gemeinsamen Essen erzählt sie ihm von einer Welt und ihren Möglichkeiten, die er teilweise nicht einmal vom Hörensagen kennt. Sie bestärkt ihn, sich eigene Gedanken zu machen über das, was ER vom Leben erwartet, und nicht was seine Eltern wünschen; zeigt ihm Möglichkeiten auf, die er nutzen kann; und ermuntert ihn, seinen eigenen Weg zu gehen.
Robert, der als alter Mann seine Geschichte im Rückblick erzählt, macht dies auf eine so einfühlsame Weise, dass ich mich mit dem Sechzehnjährigen eng verbunden fühlte. Die Entwicklung seiner Persönlichkeit vollzieht sich in jenem Sommer so eindrucksvoll und vielversprechend, dass man sich für jeden jungen Menschen eine Dulcie an seine Seite wünscht.
Doch es ist nicht nur Roberts Entwicklung, die dieses Buch so lesenswert macht. All seine Sinne (sehen, hören, riechen, fühlen) nehmen die Welt überaus deutlich war und geben sie ebenso detailliert, farbig und lebendig wieder, sodass einem dieses Nachkriegsengland im Frühsommer fast vorkommt wie ein Garten Eden. Beispielsweise dieser kleine Absatz über Honig und Bienen (der allerdings von Dulcie ist ): "Weil Honig flüssige Poesie ist. Er ist wie ein Scheibchen Sonne auf deinem Brot. Er ist die Essenz der Natur - die Essenz von Land und Insekt und Mann oder Frau, die in vollkommener symbiotischer Harmonie zusammenarbeiten. Bienen sind wahre Wunderwesen, die unermüdlich Pollen in Gold verwandeln." Oder "Da war das polyphone, gurrende Zweinoten-Mantra von zwei rastenden Ringeltauben, eine in der Nähe, die andere weiter weg, Doppelklänge der Zufriedenheit. Darüber das kleinliche Gezanke eines Möwenschwarms, ..."). Auch sonst gibt es reihenweise Sätze und Abschnitte, die ich mir am liebsten abschreiben und an die Wand heften würde (gäbe es noch Platz ;)), wie beispielsweise "Denn niemand gewinnt einen Krieg wirklich; manche verlieren bloß ein bisschen weniger als andere." Oder "Zeit war wertvoller geworden. Sie war das Einzige, das wir in Hülle und Fülle besaßen, obwohl der Krieg uns gelehrt hatte, dass auch sie eine begrenzte Ressource war und dass es eine der größten Sünden war, sie unklug zu verbringen oder verschwenderisch mit ihr umzugehen."
Ein Buch, das man (ich) sicherlich mehrmals lesen kann - und jedes Mal wieder mit Gewinn.