Das wirkliche Leben
CN: häusliche Gewalt, psychische Gewalt, Tierquälerei (viel davon... damit hatte ich nicht gerechnet)
Dieses Buch hat mich komplett gefesselt und ich habe es fast in einem Rutsch durchgelesen. Und ich ...
CN: häusliche Gewalt, psychische Gewalt, Tierquälerei (viel davon... damit hatte ich nicht gerechnet)
Dieses Buch hat mich komplett gefesselt und ich habe es fast in einem Rutsch durchgelesen. Und ich bin ganz froh, dass es nicht allzu dick ist, denn die Geschichte hat mich doch ziemlich mitgenommen.
Die namenlose Ich-Erzählerin lebt mit ihren (ebenfalls namenlosen) Eltern und dem kleinen Bruder Gilles zusammen. Der Vater ist ein Tyrann, der die Mutter schlägt und immer wieder Wutanfälle bekommt. Alle im Haus haben Angst vor ihm und laufen wie auf Eierschalen, um ihn nicht zu reizen.
Als eines Tages die Sahnemaschine des Eisverkäufers explodiert und ihm vor den Augen der Kinder das halbe Gesicht wegsprengt, bemerkt die Protagonistin eine Veränderung in ihrem Bruder. Aus dem lieben Jungen mit dem hübschen Lachen wird ein zurückgezogener Tierquäler, der später auch anfängt, die große Leidenschaft des Vaters (die Jagd) zu teilen. Die Protagonistin kennt nur eine Lösung: sie muss in der Zeit zurückreisen, um diesen Tag ungeschehen zu machen. Voller Hoffnung stürzt sie sich in die Physik. Dabei vergehen die Jahre und die Lage zuhause spitzt sich zu...
Das Thema häusliche Gewalt - grade Gewalt gegen Frauen - ist eines, das mich sehr umtreibt. Ich habe mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt und darüber gelesen, grade auch zur Psychologie dahinter. Darum hatte ich anfangs schon die Befürchtung, das Buch würde in die typischen Klischees abrutschen. Die Protagonistin verachtet ihre Mutter dafür, dass sie sich so behandeln "lässt" und nie den Mut hat, für sich einzustehen. Sie wird immer wieder als "Amöbe" und als "Nichts" bezeichnet. Als der Vater seine Tochter jedoch einmal geistesabwesend "mein Schatz" nennt, glüht sie vor Freude. Das war für mich echt kaum erträglich. Zum Glück löst sich das alles später dann jedoch ein wenig auf. Die Protagonistin kommt selbst in die Situation gelähmt vor Angst, "das Nichts" und "die Amöbe" zu sein und kann ihre Mutter etwas besser verstehen. Die beiden entwickeln sogar eine kleine Verbindung und die Mutter hat tatsächlich Interessen und Wissen. Ein "Nichts" ist sie also nicht!
Trotzdem hätte ich mir noch ein ganz kleines bisschen mehr Einordnung gewünscht. Gewaltbetroffene Frauen müssen sich immer wieder Fragen lassen, warum sie das denn mitmachen (oder so lange mitgemacht haben). Dabei wird ausgeblendet, dass da ja oft eine sehr lange Zeit der psychischen Manipulation vorausgegangen ist. Die Frauen sind oft isoliert und wissen nicht wohin. Viele sind auch finanziell abhängig. Oft glauben sie, selbst Schuld zu sein, es zu verdienen, schämen sich. Und was auch oft vergessen wird: die Zeit um die Trennung herum ist die mit Abstand Gefährlichste für diese Frauen!
Die Mutter in der Geschichte hatte also auch ihre Gründe dafür, dieses Leben zu führen und ich hätte gerne mehr über sie erfahren, z.B. wie sie den Mann kennengelernt hat und wie es damals zur Hochzeit gekommen ist.
Die Ich-Erzählerin wird in den Lobgesängen für das Buch oft als stark beschrieben. Wahrscheinlich deshalb, weil sie sich "männlicher" Interessen bedient (Mathe, Physik) und immer wieder betont, dass sie nicht so werden will, wie ihre Mutter. Dabei fand ich sie grade in ihrer Schwäche großartig. Sie muss nämlich feststellen, dass auch sie sich nicht gegen den Vater wehren kann, weil der nun mal einfach körperlich viel stärker ist, als ein kleines Mädchen. Außerdem trägt sie eine ziemliche Arroganz in sich, weil sie klüger ist als andere - was wunderbar in das Gesamtbild dieses Charakters passt. Sie hat keine Freunde und wertet die anderen in der Schule immer wieder ab, um sich selbst aufzuwerten. Und irgendwie ist das auch typisch Teenie!
Hinten auf dem Buch steht etwas davon, dass sie sich "aus der weiblichen Opferrolle befreit". Da kann die Autorin wohl nichts für, aber das finde ich eine absolute Frechheit. Erstmal: weibliche Opferrolle? Was ist das? Und was ist eine männliche Opferrolle, wenn es die gibt? Außerdem spielt hier niemand eine Rolle! Die Frauen in diesem Buch sind wirklich Opfer und es wäre so schön, wenn dieser Begriff nicht so negativ besetzt wäre. Die Protagonistin sagt am Ende selbst, dass sie kein Opfer sein will, wie so viele Menschen, denen Gewalt angetan wurde. Aber warum eigentlich nicht? Wie konnte es so weit kommen, dass der Begriff als so schlimm empfunden und mit Passivität und Schwäche verbunden wird? Und: Wo kein Opfer ist, weil sich alle "befreien", gibt es dann überhaupt noch einen Täter? Das sind nur so meine Gedankengänge dazu, ich weiß es leider selbst nicht.
Übrigens, kleiner Spoiler: Ich fand nicht, dass sie sich am Ende selbst befreit hat. Aber wer weiß, wie andere das interpretieren.
Der Wissensdurst der Protagonistin hat mir gefallen. Ich mochte ihre Sitzungen beim alten Physiker. Ihre Motivation den kleinen Bruder zu retten, ist allerdings nichts Neues. In Büchern (und anderen Medien) werden Mädchen immer wieder zu Heldinnen, weil es um ihre Familie geht, selten um ihrer selbst willen. (Bekanntestes Beispiel Katniss, die sich freiwillig als Tribut meldet, um ihre Schwester zu beschützen.)
Die Geschichte der Frau des Physikers, hat mich zutiefst berührt. Auch hier spielt wieder geschlechtsspezifische Gewalt eine Rolle und ich musste richtig weinen. Das passiert mir so selten beim Lesen!
Eine Sache auf die ich hätte verzichten können, war die Sexszene. Die Protagonistin arbeitet als Babysitterin für ein junges Paar, die sie "die Feder" und "der Champion" nennt. Sie steht auf letzteren und dabei ist es ihr egal, ob sie erstere mag. Es kündigte sich schon eine Weile an, doch ich hatte trotzdem gehofft, dass die Autorin darauf verzichtet. Ein erwachsener Mann schläft also mit einem Teenie-Mädchen und mir persönlich dreht sich da komplett der Magen um. Das ist überhaupt nicht mein Ding, egal, ob es einvernehmlich war.
Der Schreibstil ist übrigens toll. Simpel, um die Kindlichkeit der Protagonistin zu unterstreichen und doch sehr fantasievoll. Das hat mir richtig gut gefallen. Hinzu kommt die bedrückende Stimmung, die Angst vor dem, was als nächstes passiert, weil man da schon so eine Ahnung hat... Man will das Buch weglegen und kann doch nicht aufhören zu lesen.
Insgesamt muss ich einfach sagen, dass mich die Geschichte total erreicht hat. Es ist aber verdammt harter Tobak und ich lag gestern noch lange wach und habe darüber nachgedacht. Und die besten Bücher sind doch die, die richtig nachhängen und auch nach der letzten Seite nicht loslassen wollen!