Zum Abtauchen, Mitfiebern und Mitfühlen
“Die längste Nacht” von der deutschen Autorin Isabel Abedi ist eines der Buchereignisse des Frühjahrs 2016! Neun Jahre ist es her, dass die Autorin ein Jugendbuch veröffentlich hat. Nun gibt es ENDLICH ...
“Die längste Nacht” von der deutschen Autorin Isabel Abedi ist eines der Buchereignisse des Frühjahrs 2016! Neun Jahre ist es her, dass die Autorin ein Jugendbuch veröffentlich hat. Nun gibt es ENDLICH wieder neues Lesefutter. Darauf haben viele gewartet: Eine Geschichte über ein geheimnisvolles Manuskript, über eine Reise in die Vergangenheit und die einer großen Liebe. Fesselnd. Atmosphärisch. Brillant. Von einer Meisterin des Erzählens. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Die 17-jährige Viktoria, genannt Vita, entflieht ihrem Elternhaus für ganze neun Monate. Ihrem Vater, seines Zeichens Verleger und einem intellektuellen Mann und ihrer Mutter, die in ihrer ganz eigenen strukturierten, gefühlserkalteten Welt lebt, in die sie sich seit dem Tod von Vitas älteren Schwester zurückgezogen hat. Nicht einmal richtig verabschiedet hat sie sich von ihrer Tochter: “Anstatt mich anzusehen, starrte meine Mutter auf die Asche meiner toten Schwester, und dieser Anblick war so grauenhaft, dass ich schreien wollte. Aber es kam kein Laut aus meiner Kehle, wie immer, wenn es um meine Schwester ging. Stumm machte ich einen Schritt auf meine Mutter zu, es war nur eine winzige Bewegung, die mich eine ungeheure Kraft kostete. Doch meine Mutter erhob die Hand, fast panisch, als sei ihr ein wildes Tier auf den Fersen, und noch immer, ohne sich zu mir umzudrehen.” (Zitat aus “Die längste Nacht” S.37) Doch nun ist Vita auf Europa-Reise. Mit ihren besten Freunden, die zugleich ein Paar sind: Trixie und Danilo. Gerade haben sie das Abitur bestanden und jetzt fahren sie mit ihrem VW-Bus Richtung Italien. Jetzt kann Vita erst einmal vergessen. Wie seltsam ihr Vater in der letzten Zeit war, als sie ihn eines Nachts beim Lesen eines Manuskripts in seinem Arbeitszimmer überraschte und er sie aus diesem ohne weitere Erklärungen hinausschmiss. Was hat ihn an diesem Papieren so aufgewühlt? Zufällig hat Vita vor ihrer Abreise herausgefunden, dass das noch unvollendete Manuskript von dem Bestsellerautor Sol Shepard stammt. Der normalerweise ganz andere Geschichten erzählt. “Der Roman soll weltweit erscheinen und wurde jetzt auch uns angeboten. Die Namen sind alle geändert, aber dass es die Geschichte aus Viagello ist, scheint mir unmissverständlich. Wie sehr ich mir wünsche, dass ich mich irre.” (Zitat S.18) Dieses Schreiben von einem befreundeten Lektor lag dem Manuskript bei, das Vita in seinem Arbeitszimmer entdeckte. Es gelang ihr sogar ein paar Zeilen des Werks zu lesen, die sie seltsam berührten. Umso überraschter ist sie nun auf ihrer Tour durch Europa in der Nähe eines Klosters, das Danilo unbedingt besuchen möchte, auf der Landkarte das Städtchen Viagello zu entdecken. Vita, die ihren Freunden von dem Roman von Sol Shepard erzählt hat, beschließt einen kurzen Abstecher dorthin zu machen. Dort Isabel Abedi Die längste Nachtlernt sie zufällig Luca kennen, der über den Häuser auf einem Seil balanciert. Er lädt sie ein, ihren VW-Bus auf seinem Grundstück abzustellen, auf dem er in einem Bauwagen nahe des Grundstücks seiner Eltern lebt. Eine seltsame Anziehungskraft geht von ihm aus. Doch ein Abendessen bei Lucas Eltern ändert alles, als Vita erzählt, wer ihr Vater ist. “Nein”, hörte ich Antonio [Lucas Vater] sagen mit einer Stimme, die so schneidend kalt war, dass meine Eingeweide gefroren. […] “Sag, dass das nicht wahr ist!”, schrie er mir ins Gesicht. “Du würdest das nicht tun. Nicht auf diese Weise. Nicht nach all den Jahren. Sag, dass du es nicht bist!” (Zitat S.121). Völlig verstört kann Vita nur das Weite suchen. War sie früher tatsächlich einmal in Viagello, wie Lucas älterer Bruder behauptet? Warum haben ihre Eltern ihr nie davon erzählt? Und was verdammt noch mal ist damals geschehen, das man ihr nun mit solch einer Feindseligkeit begegnet?
Isabel Abedi ist einfach — und das möchte ich meiner Rezension nun nochmals vorne heranstellen — eine begnadete Erzählerin. Sie spinnt ihre Geschichte mit einer geradezu magischen Fabulierkunst und zieht ihre Leser schnell in einen Sog. Vor allem Italien und das kleine, fiktive Städtchen Viagello bringt sie einem in atmosphärischen Beschreibungen so nahe, dass man tatsächlich ein wenig Reisesehnsucht entwickelt. Der Roman wird fast durchgehend aus Vitas Perspektive geschildert. Vita, die die Geschichte mit vielen Andeutungen vor allem für ihre Schwester erzählt: “Ich bin keine Schriftstellerin […] ich will nur meine Geschichte erzählen — aus meiner Perspektive, meinem Blickwinkel. Ich will die Wahrheit erzählen, sie loswerden und gleichzeitig festhalten, auch für meinen Schwester. Ja, vielleicht schreibe ich all das vor allem für Livia…” (Zitat S.9ff) Man kann sich in Vita — in ihre Gedanken- und Gefühlswelt — sehr gut hineinversetzen. Sie ist ein sehr sympathischer Charakter. Ein paar merkwürdige Begebenheiten lassen den Leser bereits zu Anfang munter mit rätseln. Warum hat Vita Angst vor allem, was fällt? “Ich selbst hatte kein Problem damit, auf Leitern oder Gerüste zu klettern, aber einen anderen Menschen vom Zehnmeterbrett springen zu sehen, konnte einen Asthmaanfall bei mir auslösen, und wenn ein reifer Apfel vom Baum plumpste, schnürte sich meine Kehle zu.” (Zitat S.9). Und warum träumt sie immer wieder von einem Mädchen ohne Mund, das in einem Brunnenschacht feststeckt? Viele kleine Details — auch die zwischen eingeschobenen Bemerkungen des Autoren des Manuskripts — lassen die Geschichte sehr geheimnisvoll erscheinen und drängen danach endlich zu erfahren, was in jener längsten Nacht damals geschehen ist. Diese Frage hält die Spannung in dem Buch aufrecht und lässt einen geradezu über die Seiten des immerhin 408-Seiten-dicken Schmökers fliegen. Dazu die sich langsam anbahnende Liebesgeschichte zwischen Vita und Luca — ein wahres Lesevergnügen! Sehr gut gefallen hat mir auch das filigran gestalte Cover, selbst der Bucheinband unter dem Schutzumschlag (mit dem ausgestanzten Gesicht) ist ein Hingucker. Auch wenn das Cover in seiner Gestaltung von den anderen vorhergehenden Romanen etwas abweicht, muss ich trotzdem sagen — lieber Arena-Verlag, da habt ihr euch echt etwas Schönes einfallen lassen Das Ende des Buches: ein dramatischer Paukenschlag!
Fazit: Eine Roman zum Abtauchen, Mitfiebern, Mitfühlen — ganz große Klasse! Am besten eine “lange Nacht” dafür reservieren.