Doch kein Zauberwürfel
Aufstieg und Fall großer MächteWelche Geschichten sind es wert, aufgeschrieben zu werden und damit fast 500 Seiten zu füllen? Auf diese Frage gibt es vielleicht ebenso viele Antworten wie Leser. Glaubt man den hymnischen Beschreibungen ...
Welche Geschichten sind es wert, aufgeschrieben zu werden und damit fast 500 Seiten zu füllen? Auf diese Frage gibt es vielleicht ebenso viele Antworten wie Leser. Glaubt man den hymnischen Beschreibungen auf dem Buchumschlag, handelt es sich bei "Aufstieg und Fall großer Mächte" um eine solche Geschichte. Da wünscht sich The Telegraph, der Roman möge niemals enden. The Guardian nennt ihn "einfach betörend", und in The New York Times Book Review sagt der Rezensent, das Buch sei so gut, dass er es habe zweimal lesen müssen, es sei konstruiert wie ein Zauberwürfel.
Und ich frage mich, habe ich einen anderen Roman gelesen?
Oja, Tom Rachmann kann schreiben. Er kann eine Geschichte erzählen. Aber warum gerade diese? Da ist Tooly, die eigentlich Matilda heißt, und einen Buchladen in Wales besitzt. Wie gern hätte ich auch einfach nur einen Roman über ein liebenswertes walisisches Antiquariat gelesen. Der Roman ist zwar ungleich tiefgründiger und intellektueller als es solch eine reine Unterhaltungsliteratur gewesen wäre, doch ich fühlte mich durch das Kennenlernen dieser Geschichte einfach nicht bereichert. Sie springt von Kapitel zu Kapitel zwischen 2011, 1999 und 1988, und erst nach und nach erschließt sich kaleidoskopartig Tooleys Geschichte. Zufallsprodukt der Beziehung von Paul und Sarah, reist Paul mit seiner kleinen Tochter durch die Welt, um sie vor ihrer lieblosen Mutter in Sicherheit zu bringen. Dabei ist er selbst ein Gefühlsanalphabet, für den es schon das höchste der Gefühle ist, seiner Tochter die Hand zu schütteln. Sarah spürt Tooley schließlich in Bangkok auf und entführt sie, mitten hinein in einen Kreis aus Schmarotzern und Tagedieben. Seltsamerweise erliegt Tooley dem absolut zweifelhaften Charme dieser Leute und bleibt freiwillig, lässt sich nach und nach in ein Leben hineinziehen, das davon zehrt, andere auszunehmen. Wohl deshalb konnte ich nicht allzuviel Sympathie aufbringen für Tooleys Heimatlosigkeit, auch wenn ich letztere selbst nur zu gut nachempfinden kann. Wärme und Halt findet sie in dieser Entourage über all die Jahre nur bei Humphrey Ostropoler, der als ihr Ziehvater gelten muss, obwohl an ihm das Meiste ebenso Schein ist wie sein Name. Während sie annimmt, dass das Geld, das man ihr die ganze Zeit zukommenlässt, von Venn, dem Anführer dieser Bande kommt, ist es im Stillen vielmehr Humphrey, der ihr dadurch letztendlich auch den Kauf der Buchhandlung ermöglicht. Das Charisma, das alle, Männer wie Frauen, bei diesem Venn zu spüren glauben, ist mir ein völliges Rätsel und nicht nachvollziehbar geblieben. Er ist kälter als ein Fisch und lebt insgeheim von den Unterhaltszahlungen, die Sarah von Paul für Tooley all die Jahre kassiert hat, und von denen Tooley erst als Erwachsene überhaupt erfährt.
Tooly mäandert ziellos durch ihr Leben. Schließlich meldet sich Duncan bei ihr, ein früherer Freund, bei dem sich Tooley damals ursprünglich auch nur in der Hoffnung auf Gewinn eingeschlichen hat. Er hält Humphrey für ihren tatsächlichen Vater und hat sich im Alter um ihn gekümmert. Nun verfällt Humphrey immer mehr, vor allem geistig. Tooley reist zu Humphrey nach New York, erkennt endlich seinen wahren Stellenwert in ihrem Leben und Venns falsches Spiel, und begleitet Humphrey bis zum Tode. Zurückgekehrt nach Wales deutet sich an, dass sie sich vielleicht erstmals auf eine aufrichtige Beziehung zu einem Mann einlassen wird, aber das Ende bleibt offen, was manch einen Leser verärgern könnte.
Mir selbst ist Tooley einfach nicht nahe genug gekommen, dass mir der Ausgang wirklich wichtig gewesen wäre. Die Zeitsprungkonstrunktion mag es nicht in jedem Roman geben, doch ich fand sie nun nicht so brilliant, dass ich sie als besonders originell empfunden hätte. Unter einem Zauberwürfel verstehe ich etwas ganz ganz anderes. Wirklich schade. Ich hätte dieses Buch von einem guten Autor gern viel besser gefunden. Und ich war anders als The Telegraph eigentlich zufrieden, als es dann zu Ende war.