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Veröffentlicht am 22.09.2020

Großartiges Island, toller Erzähler, schwächere Handlung

Kalmann
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Kalmann ist ein sehr liebenswerter, in seinen intellektuellen Fähigkeiten eingeschränkter, Isländer, der im kleinen, einsamen Raufarhöfn seinen Lebensunterhalt mit Gammelhai verdient. Als ein wohlhabender ...

Kalmann ist ein sehr liebenswerter, in seinen intellektuellen Fähigkeiten eingeschränkter, Isländer, der im kleinen, einsamen Raufarhöfn seinen Lebensunterhalt mit Gammelhai verdient. Als ein wohlhabender Bürger seines Ortes verschwindet, gerät Kalmann mitten hinein in den Strudel der Ereignisse.

Ich liebe idiosynkratische, eigenartige und unzuverlässige Erzähler, und deshalb liebe ich auch Kalmanns Figur. Er ist in seinen Kommentaren und seiner Bewertung der Welt einfach herrlich authentisch und belebend. Es macht Freude der Langsamkeit seiner Gedanken und Überlegungen, seinen intuitiven Wahrnehmungen und seinen Gefühlen zu folgen und darüber nachzudenken, was seine Auslassungen und sein Schweigen zu gewissen Fragen zu bedeuten haben. Dem Autor ist es durchgängig gelungen, Kalmanns Stimme einzufangen. Da knirscht nichts, es wird nie vergessen, wer hier eigentlich spricht und wie er die die Welt sieht. Allerdings schöpft dieser Roman, trotz des andeutungsschwangeren letzten Kapitels, die Möglichkeiten, die ein unzuverlässiger Erzähler bietet nicht vollends aus - und das ist sehr schade, denn so bleibt der Roman hinter seinem eigentlichen Potenzial zurück und der (oder mehrere) finale Plot-Twists bleiben aus.

Die Handlung ist eigentlich gut angelegt, wird aber ebenfalls nicht konsequent zu Ende geführt. Die red herrings lösen sich zu schnell in Wohlgefallen auf, das Ganze könnte verstrickter, vertrackter, komplexer sein - für meinen Geschmack ist es einfach etwas zu gemächlich, zu beschaulich. Dazu: ein Krimi ist für mich gerade kein Genre für lose Enden, Mysteriöses darf zwar auch mal ruhig in der Luft hängen bleiben, aber dem Leser sollten zumindest Hinweise zum eigenständigen Schließen der Lücken an die Hand gegeben werden. Darüber hinaus empfinde ich die Eisbären-Handlung als befremdlich - aber das ist mein persönlicher Geschmack. Sie ist so angelegt, dass sie in der heutigen Zeit trotz ihres fiktionalen Charakters, eher unschön und unpassend ist.

Was mich absolut bezaubert hat, ist hingegen das wunderbare isländische Setting. Der Autor weiß, wovon er spricht und bannt diese großartige Insel mit ihren Besonderheiten vollkommen lebensecht auf die Seiten. Man spürt die raue Natur und Einsamkeit, die Abgeschiedenheit und Einfachheit des Lebens, aber auch die Bedrohung durch den Bevölkerungsschwund.

Kalmann ist ein Roman für Island-Liebhaber mit einem Herz für besondere Erzähler, für die die Krimihandlung nicht an erster Stelle steht.

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Veröffentlicht am 18.09.2020

Familiensaga, die sich mehr Zeit nehmen könnte

Die Frauen von Gut Falkensee
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Das Gut Falkensee in Westpreußen ist der Schauplatz dieses fesselnden Schmökers, der uns in eine fast schon vergessene Welt entführt. Im Mittelpunkt der Geschichte, die ihren Ausgangspunkt im Jahr 1904 ...

Das Gut Falkensee in Westpreußen ist der Schauplatz dieses fesselnden Schmökers, der uns in eine fast schon vergessene Welt entführt. Im Mittelpunkt der Geschichte, die ihren Ausgangspunkt im Jahr 1904 nimmt, steht Charlotte, eine recht modern denkend junge Frau, die gern unabhängig und selbstbestimmt wäre, aber recht schnell erkennen muss, dass Wünsche und Pflichten sich selten vereinbaren lassen.

Die Frauen von Gut Falkensee ist eine groß angelegte, unterhaltsame und spannende, sehr lesbare und ansprechende Familiensaga für Liebhaber historischer Romane – ein Downton Abbey auf Papier. Er ist durch zahlreiche Perspektivenwechsel und viele Handlungsstränge äußerst abwechslungsreich zu lesen und entwirft durch die vielen beteiligten Figuren quasi ein Panorama der damaligen Gutshauswelt mit ihrem „Oben“ und „Unten“. Sehr positiv ist dabei, dass die Autorin sich nicht nur ausschließlich auf die feine Welt der Herrschaften konzentriert, sondern auch oftmals einen Blick in die Leutestube der Dienstboten wirft. Sicherlich wird hier das innige Verhältnis zwischen Herrschaft und Dienerschaft für den modernen Lesegeschmack auch beschönigt, aber es handelt sich ja auch um einen Unterhaltungsroman.

So lebendig der Roman durch seine Perspektivenwechsel und Zeitsprünge auch ist, liegt hier doch gleichzeitig auch ein wenig die Crux des Ganzen: die recht rasche Abfolge der Ereignisse und der Blick vom Standpunkt der verschiedenen Figuren führen dazu, dass es häufig etwas an emotionaler Durchschlagkraft fehlt. Der Roman wird so sehr stark von der Handlungsebene getrieben, dass die Figurenzeichnung dadurch leider etwas zu kurz kommt. Durch den Handlungsfokus entsteht außerdem der Eindruck, dass einige Ereignisse „untererzählt“ werden – viele wesentliche Themen werden nicht ausformuliert oder passieren, wie man im Theater sagen würde, „off stage“. Sie werden dann im folgenden Kapitel als Verweis auf Vergangenes erwähnt und verpuffen so. Stattdessen sieht sich der Leser vielen einzelnen Schlaglichtern gegenüber. Das ist schade, denn tatsächlich ist dies ein Roman, bei dem so viel passiert, dass ich mir gewünscht hätte, er wäre doppelt so lang – denn dann hätte er die Üppigkeit und das im positive Sinne Ausufernde gehabt, nach der eine solche historische Familiensaga verlangt.

Die Frauen von Gut Falkensee hat alle Anlagen für einen wunderbaren historischen Schmöker, agiert dann aber stellenweise zu hastig. Dennoch habe ich mich sehr mit Charlotte angefreundet, sodass ich gespannt auf den zweiten Teil warte.

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Veröffentlicht am 09.09.2020

Nicht schön, aber gut

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
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Das lügenhafte Leben der Erwachsenen von Elena Ferrante ist eine faszinierende, aber keine schöne, Reise durch die Untiefen weiblichen Heranwachsens mit allem, was dazugehört. Giovanna, genannt Giannì, ...

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen von Elena Ferrante ist eine faszinierende, aber keine schöne, Reise durch die Untiefen weiblichen Heranwachsens mit allem, was dazugehört. Giovanna, genannt Giannì, sucht durch den Kontakt mit anderen Menschen nach sich selbst, verliert und erfindet, missversteht und erkennt sich dabei immer wieder aufs Neue.

Mag ich Giovanna? Das ist die Frage, die mich beschäftigt. Und die Antwort darauf lautet: Nein. Ein klares, kategorisches Nein. Es gibt nichts, was mir an ihr gefällt – so wie ihr selbst eigentlich auch nichts an ihr gefällt. Kann ich Giovanna verstehen? Ja, sehr häufig sogar.

Der Name Elena Ferrante war mir zwar geläufig, gelesen hatte ich aber bisher keinen ihrer Romane, daher habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten, stehe außerhalb des #FerranteForever-Hypes und konnte mich sehr unvoreingenommen daran machen, ihre Protagonistin Giovanna auf dem steinigen Weg durch das Alter von 13-16 zu begleiten. Was Ferrante hier gelungen ist, verdient Hochachtung, denn sie versteht es aufs Überzeugendste, die Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, Ausgeschlossenheit, Neugier, Erkenntnis, Eigenständigkeit und Hilflosigkeit des Heranwachsens einzufangen. Die Verwirrungen der Teenagerzeit, das Desinteresse am Leben, die Enttäuschung gegenüber den Eltern, all dies wird von der Autorin gnadenlos, atemlos und tabulos durch eine ungeschönte Innensicht auf ihre Protagonistin geschildert. Der Leser ist unglaublich nah an Giovanna dran, die sich selbst nur selten schont, auch wenn sie sich selbst nicht immer versteht. Diese sehr authentische Darstellung der Introspektion einer Heranwachsenden ist allerdings nicht der Glanzpunkt des Romans, es ist vielmehr die graduelle Weiterentwicklung der Protagonistin durch diese Einblicke in ihr eigenes Ich. So sieht man sich als Leser am Ende des Roman fast staunend einer erwachseneren Giovanna gegenüber, aber weiß kaum mehr, wie sich diese Reifung eingeschlichen hat – nur, dass sie eben allmählich passiert ist. Giovannas Konzeption und ihre Darstellung sind rundum gelungen. Selten gibt es so realistische, authentische, verstörte und dabei nachvollziehbare Romanfiguren wie sie.

Sprachlich (und auch inhaltlich) gleitet der Roman in dem Wunsch, die unterschiedlichen sozialen Hintergründe überzeugend darzustellen, ab und an ins Vulgäre ab. Derbe Sprache und Handlungsteile sind nicht mein Fall, aber in diesen Roman sind diese Aspekte sinnvoll in die Erzählung integriert und notwendig, um die Frage nach Herkunft und Weiterentwicklung aufzuzeigen. Die beiden Einflussgrößen, die von Giovannas Heranwachsen prägen, werden durch ihre Tante Vittoria und ihren Vater bzw. den Studenten Roberto repräsentiert. Diese Nebenfiguren polarisieren in gewisser Weise, vor allem, weil sie im Gegensatz zu Giovanna und dadurch, dass die Wahrnehmung dieser Figuren ausschließlich durch Giovannas Ich-Perspektive gefiltert wird, zu simpel, zu einfach sind, wie im Übrigen alle Nebenfiguren des Romans. Giovanna schreibt jeder Figur nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten und Charakteristika zu, sie hinterfragt diese nur sehr begrenzt und ist auch nicht an ihren Motiven interessiert. So tritt durch die wenig komplexe Nebenfigurendarstellung die grenzenlose Ich-Bezogenheit der Heranwachsenden auch erzählerisch zutage – und wird so zu einem kleinen Meisterstück.

Darüber hinaus erfüllt der Roman auch sonst alle Kriterien, die es für einen (weiblichen) Bildungsroman braucht: zahlreiche Mentorenfiguren, an denen sich die Protagonistin ausrichtet (lediglich der Uneigennutz dieser Figuren muss angezweifelt werden), eine Reise, die zu Erkenntnis führt, unerfüllte Liebe, die Diskussion der eigenen, angeblich mangelnden Attraktivität (das ist ja bereits seit Charlotte Brontës Jane Eyre DAS Thema in der weiblichen Entwicklung), das Auflehnen gegen Autorität usw. Dies ist alles sehr überzeugend, aber auch sehr konventionell – fast schon klassisch – aufbereitet, und birgt daher nicht zu viele Überraschungen und auch das immer wieder zentral gestellte Armband kommt als Symbol nicht besonders raffiniert daher – da wäre sicherlich mehr möglich gewesen.

Der Roman hat mich unterhalten, interessiert, einen Lesesog entfaltet, aber hat mich auch manchmal abgestoßen. Am Ende stelle ich fest: ich habe das lügenhafte Leben aufgesogen, aber „schön“ in der reinsten Form des Wortes war es nicht. Ich mag den Roman nicht einmal besonders, aber gut ist er.

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Veröffentlicht am 07.05.2020

Erwachsenwerden in düsteren Zeiten

Mohnschwestern
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Mohnschwestern hat ein wunderschönes Cover, das mich ebenso wie der Klappentext sofort angesprochen hat. Der Klappentext entspricht jedoch nicht ganz dem, was im Roman geschieht, da u.a. angedeutet wird, ...

Mohnschwestern hat ein wunderschönes Cover, das mich ebenso wie der Klappentext sofort angesprochen hat. Der Klappentext entspricht jedoch nicht ganz dem, was im Roman geschieht, da u.a. angedeutet wird, dass ein wesentlicher Teil der Handlung sich um den Versuch der Liebenden, einander wiederzufinden, dreht.

Die Haupthandlung des Romans spielt in den Jahren 1943/44 und ist den Erlebnissen der jungen Lotte gewidmet. Lotte will Lehrerin werden, ist mit dem Soldaten Hans verlobt, der wie Lottes Vater an der Front ist, und lebt mit ihrer Mutter und ihren Brüdern in Darmstadt. Ihr mehr oder weniger geordnetes Leben gerät aus den Fugen als sie Wilhelm kennenlernt und sich in ihn verliebt. Durch ihren Bruder Fritz, der sich gegen das Regime auflehnt, lernt sie außerdem neue Freunde kennen, während sich die alte Freundschaft mit ihrer Kindheitsfreundin Hedwig aufzulösen scheint. Die Liebe von Lotte und Wilhelm steht von Beginn an unter keinem guten Stern…

In einer Nebenhandlung begleitet man Hazel, die an einem gebrochenen Herzen leidet, der es aber durch eine glückliche Fügung vergönnt ist, ihre alte Jugendliebe wiederzutreffen.

Die Hazel-Handlung ist gut geschrieben und hat mich sehr angesprochen. Ich finde diese Teile sehr wichtig, da sie zum einen die düstere Handlung um Lotte auflockern und zum anderen einen Bezug zum Leser schaffen. So wird betont, dass die Vergangenheit stets auch eine Relevanz für das Jetzt hat. Am Ende hätte ich mir eventuell gewünscht, dass es eine nähere Beziehung zwischen Hazel und Mathilda gegeben hätte, aber für mich hat der Erzählstrang um Hazel auch so funktioniert.

Die Lotte-Handlung ist hochspannend, fast schon atemlos. Viele Dinge sind hier gut gemacht, wie z.B. die Darstellung der ideologischen Verblendung anhand verschiedener Figuren, die Erschaffung der düsteren und bedrohlichen Atmosphäre und vor allem in weiten Teilen auch Lottes Entwicklung. Für mich ist Mohnschwestern vor allem ein coming-of-age-Roman mit vielen der klassischen Elemente (Magda als Mentorin, Revolte und Unabhängigkeit, mehr oder weniger unglückliche Liebeserfahrung usw.) und Lottes Entwicklung unter dem Eindruck der auf sie einwirkenden Ereignisse bietet interessante Lesestunden.

Ermüdend für mich ist allerdings die häufige Analyse und Erörterung von Lottes Gefühlslage und die überaus starke Fokussierung auf ihre Perspektive, die man so ausgeprägt auch in Kinder- und Jugendliteratur findet. Daher hatte ich insgesamt für den Großteil des Romans oft den Eindruck, dass die Zielgruppe eher junge Erwachsene/Heranwachsende sind. Viele Dinge, die offensichtlich sind oder schon einmal erwähnt wurden, werden wiederholt oder erklärt. Immer wieder wird auf die Unnahbarkeit Wilhelms und sein Geheimnis eingegangen oder auf die Enttäuschung über Hedwig. Ich hätte mir an einigen Stellen einen Wechsel zwischen verschiedenen Fokalisierungsinstanzen gewünscht, da ich Lottes gedankliches Kreisen um die immer gleichen Fragen anstrengend fand. Wilhelms Figurenzeichnung leidet meiner Meinung nach sogar unter Lottes Perspektive, da er dem Leser zwar mysteriös erscheint, für mich aber als Figur so schemenhaft bleibt, dass ich keine Nähe zu der Liebesgeschichte von Lotte und Wilhelm aufbauen konnte. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum mich der Roman emotional nicht in letzter Konsequenz berührt hat. Die Beziehung Lottes zu ihren Brüdern, vor allem zu Otto, ist da sehr viel intensiver dargestellt.
Darüber hinaus erschien es mir so, als ob in der Figur von Lotte alle Erfahrungen und Geschehnisse der Zeit auf einmal gebündelt werden sollten. Da wäre für mich etwas weniger mehr gewesen: das war schon sehr viel auf einmal für eine Figur.

Mein Lesevergnügen wurde durch zu viele, sich wiederholende Erklärungen und eine eher unbefriedigende Liebesgeschichte getrübt, dennoch sind die Mohnschwestern ein durchaus gelungener Entwicklungsroman für eher junge Leser mit einer spannenden und interessanten Handlung, einigen gut verpackten Lerneffekten, schönen Popkultur-Bezügen in den modernen Teilen und einer großen Nachwirkung, der Geschichte erlebbar macht.

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Veröffentlicht am 14.11.2024

Leben in der netten WG

Wohnverwandtschaften
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„Wohnverwandtschaften“ gehen manchmal sehr viel tiefer als echte Verwandtschaft – das zeigt Isabel Bogdahn in ihrem liebevollen und warmherzigen Roman, der mir im Hinblick auf seine innovative Erzählidee ...

„Wohnverwandtschaften“ gehen manchmal sehr viel tiefer als echte Verwandtschaft – das zeigt Isabel Bogdahn in ihrem liebevollen und warmherzigen Roman, der mir im Hinblick auf seine innovative Erzählidee gut gefallen hat.

Über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren folgt der Leser dem Leben in der WG von Jörg, Constanze, Anke und Murat – Einblicke erhält man unmittelbar über die unterschiedlichen Ich-Perspektiven. Unterbrochen werden die einzelnen Reflexionen und Berichte der Figuren über ihr Leben in und außerhalb der WG, über ihre Gemeinschaft, Sorgen, Ängste und ihre Vergangenheit durch Gemeinschaftsszenen, die als dramatischer Text verfasst sind. Diese Erzählstruktur ist sehr gelungen und abwechslungsreich, allerdings hat mir bei der Umsetzung ein bisschen die ureigene Stimme der Figuren gefehlt. So unterschieden sich die Kapitel in ihrer inhaltlichen Ausrichtung natürlich, aber bis zu dem Zeitpunkt, an dem Jörgs Kapitel von der fortschreitenden Demenz gekennzeichnet werden, fehlte mir der klar identifizierbare Ton der jeweiligen Figur – so wie man es z.B. aus Nick Hornbys A Long Way Down kennt, wo man eigentlich gar keine Überschrift braucht, da die Erzählstimme so klar erkennbar dem entsprechenden Charakter zuzuordnen ist.

Inhaltlich haben mich sowohl die Darstellung tiefer erwachsener Freundschaft als auch die des sich entwickelnden Gemeinschaftsgefühls überzeugt, der schmerzhafte allmähliche Verlust eines Freundes an die Demenz wird von Isabel Bogdahn ebenfalls sehr eindrücklich dargestellt, zumal sie das Abgleiten in das Vergessen nicht nur aus der Perspektive der Umgebung, sondern auch aus dem Blickwinkel des Betroffenen selbst schildert.

Dennoch hat mich der Roman insgesamt nicht wirklich mitreißen und begeistern können. Mir war insgesamt alles ein wenig zu niedlich, oftmals auch hinsichtlich der Figurenkonzeption zu verspielt und kindlich, die Figuren denken und fühlen häufig nicht unbedingt erwachsen, auch wiederholt sich so einiges – das mag authentisch und unterhaltsam sein, aber es verleiht diesem in Thema und Erzählstruktur durchaus ambitioniertem Roman eine zu oberflächliche Note. So habe ich den Roman durchaus mit einigem Interesse und auch Vergnügen gelesen, aber er wird in mein Lesetagebuch als „nettes Buch“ eingehen – unterhaltsam und voller Wärme, aber ohne nachhaltigen Effekt.

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