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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.07.2020

3,5*: Moderner Liebesroman & wichtiges Plädoyer für eine tolerantere Welt, aber leider nicht so gut wie erwartet!

Royal Blue
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nach einem Streit sollen sich der Sohn der amerikanischen Präsidentin und der britische Kronprinz medienwirksam versöhnen. Doch was, wenn zwischen den beiden mehr ist ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nach einem Streit sollen sich der Sohn der amerikanischen Präsidentin und der britische Kronprinz medienwirksam versöhnen. Doch was, wenn zwischen den beiden mehr ist als Freundschaft? Was, wenn da etwas ist, das nicht sein darf?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: lang
Tiere im Buch: + Es wird Fleisch gegessen und die Jagd wird (ohne Details) kurz angesprochen, es werden aber keine Tiere im Buch verletzt, gequält oder getötet. Eine Katze lebt in Einzelhaltung, deshalb hier ein wichtiger Hinweis: Katzen sind alleine niemals glücklich (sie sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.
Triggerwarnung: Depression, Alkohol, Drogen, Sexismus, sexualisierte Gewalt, Panikattacken / Angststörung;

Warum dieses Buch?

Nach einigen düsteren und deprimierenden Büchern brauchte ich wieder einmal was Leichtes und Humorvolles. Ich mag zudem Geschichten aus dem LGBT-Bereich. Außerdem hat das Buch viel Lob erhalten und wurde von einigen Magazinen im englischsprachigen Bereich zum Buch des Jahres gewählt. Das alles hat mich natürlich sehr neugierig gemacht!

Meine Meinung

Einstieg (3 Lilien)

Ich habe leider nicht sofort in die Geschichte gefunden, was mit Sicherheit am gewöhnungsbedürftigen Schreibstil lag. Nach einigen Kapiteln war ich aber im Roman angekommen. Übrigens liebe ich die Widmung der Autorin: „Für die Spinner und Träumer“.

Schreibstil (3 Lilien)

Streckenweise kann die Autorin mit ihrem einfachen Schreibstil durchaus punkten und Emotionen und Spannung erzeugen. Insgesamt konnte mich ihre Sprache jedoch leider nicht überzeugen. Einige Aspekte haben mich gestört: Zum einen ist die Erzählsituation etwas unglücklich gewählt. Es wurde sich für einen figuralen Erzähler (Alex, er) entschieden, doch aufgrund der Nähe zur Figur und der Zeit (Präsens) wollte mein Kopf immer wieder in die Ich-Perspektive wechseln, wodurch es zu einer gewissen inneren Spannung bei mir kam. Irgendwann gewöhnte ich mich aber daran.

Nicht gewöhnen konnte ich mich hingegen an die teilweise chaotischen, holprigen und oft sehr unruhig wirkenden Sätze der Autorin. Teilweise gibt es sehr lange Bandwurmsätze, die grundlos aneinandergereiht werden. Hier hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin öfter einmal einen Punkt gesetzt hätte. Das hätte einzelnen Sätzen und Worten auch mehr Gewicht verliehen. Auch gestört hat mich zudem, dass ihre Beschreibungen mir oft nicht anschaulich genug waren – besonders bei den Liebesszenen. Manche Schilderungen blieben so kryptisch, dass ich trotz mehrmaligem Lesen nicht verstand, was eigentlich gerade passierte.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3,5 Lilien)

„‘Er ist ein netter Anblick, oder?‘
Alex verzieht das Gesicht. ‚Ja, ich meine, wenn man auf Märchenprinzen steht.‘
‚Tut das nicht jeder?‘“ E-Book, Position 846

Bei jedem Hype-Buch gibt es auch immer ein paar Leute, die das Buch kritisieren und die Begeisterung nicht teilen können. Dieses Mal gehöre ich leider dazu, da ich den Hype nur bedingt nachvollziehen kann.

Mit „Royal Blue“ hat Casey McQuiston eine moderne Liebesgeschichte geschaffen, die sehr stark beginnt, in der ersten Hälfte wirklich gut unterhält und sich perfekt eignet, um darin einzutauchen und der Realität zu entfliehen. Auch wenn bei mir nicht jeder Witz gezündet hat, gab es doch einige lustige Stellen, die mich zum Schmunzeln gebracht haben. Leider ist die zweite Hälfte schwächer, in der Beziehung zwischen Alex und Henry tut sich nicht viel, die Geschichte plätschert relativ spannungsarm vor sich hin – und hat sich ab einem gewissen Punkt für mich leider wirklich sehr gezogen. Die Kritik an der klischeehaften Darstellung der Briten kann ich übrigens auch bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen.

Thematisch stehen Selbstfindung, Outing, das Leben im goldenen Käfig, der Zwiespalt zwischen den Wünschen des Individuums und seinen Verpflichtungen der Familie und Gesellschaft gegenüber, Ziele, Zweifel, Familie und Liebe im Vordergrund. Auch die Politik nimmt einen unerwartet großen Teil der Geschichte ein, was mich aber nicht weiter gestört hat. Während manche Themen tiefgründig besprochen wurden, hätte ich mir bei einigen Aspekten noch mehr Tiefe gewünscht. Das Ende war meiner Meinung nach vorhersehbar und relativ typisch für einen Liebesroman – ich fand es in Ordnung, es wird mir aber nicht lange in Erinnerung bleiben. Übrigens soll die Geschichte auch verfilmt werden – diese Verfilmung werde ich mir nicht entgehen lassen!

Liebesgeschichte (3,5 Lilien)

„Manchmal springt man einfach und hofft, dass es keine Klippe ist.“ E-Book, Position 3527

Nach den vielen positiven Rezensionen habe ich mir ein Buch mit einer einmaligen, emotionalen, unvergesslichen Liebesgeschichte erhofft, die mich nachhaltig berührt. Leider wurden diese hohen Erwartungen nicht erfüllt, da mir die Gefühle oft zu kurz kamen. Sehr gut gefallen hat mir hingegen der sich langsam und glaubwürdig anbahnende Beginn der Liebesgeschichte – diese Zeit, in der beide noch mit ihren Gefühlen kämpften. Zudem gab es auch einige sehr süße Szenen, die mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert und ein Kribbeln im Bauch ausgelöst haben.

Leider gab es auch einige Aspekte, die mich gestört haben. Zum einen waren mir manche Momente echt „too much“ (zu viel), sie waren so kitschig oder dramatisch, dass ich nur die Augen verdrehen konnte. Zum anderen pflegen Henry und Alex teilweise einen eher rauen Umgang miteinander und beschimpfen sich auch im Bett immer wieder. Das ist wohl Geschmackssache, aber ich fand es unangenehm. Das fühle ich leider nicht, bei so etwas kommt bei mir leider keine Romantik auf. Außerdem lag mir der Fokus zu stark auf der körperlichen Anziehung zwischen den beiden, sodass mir die Gefühle der beiden füreinander zu kurz kamen. Es gibt sehr viele (gleichförmige) Liebesszenen, doch tiefsinnige Gespräche und gemeinsame Unternehmungen sind leider sehr sparsam gesät, was ich schade finde.

Auch den Sexszenen stehe ich etwas zwiegespalten gegenüber. Die Autorin beschreibt hier immer nur den Anfang und blendet dann aus. Das finde ich an sich nicht schlecht. Hier habe ich mich allerdings gefragt, woran das liegt, da das doch für einen Liebesroman mit so vielen Sexszenen ungewöhnlich ist. Denkt die Autorin, dass die Welt (die Masse) noch nicht bereit ist für queere Liebesszenen? Mich hat das jedenfalls nachdenklich gemacht. Sehr gestört hat mich hier, dass ich mir eben vieles nicht vorstellen konnte, weil es so kryptisch umschrieben wurde. Das sollte natürlich nicht passieren, hier hat es die Autorin wohl zu gut gemeint.

Protagonist & Figuren (3 Lilien & 3,5 Lilien)

Am Beginn tat ich mich mit Alex, dem Protagonisten, wirklich schwer. Er ist selbstverliebt und arrogant, wodurch es mir teilweise schwer fiel, mit ihm mitzufühlen. Mit der Zeit wurde das allerdings besser, da er auch andere – verletzliche und unsichere – Seiten von sich offenbart. Trotzdem schien er mir als Figur nicht so richtig rund – irgendwie wollte seine überhebliche, egoistische Seite nicht mit der philanthropischen, bodenständigen zusammenpassen. Ich hatte leider auch immer das Gefühl, dass eine Distanz zur Hauptfigur blieb, die sich nicht überwinden ließ. Trotzdem mochte ich zum Beispiel seinen Humor und seine Liebe für seine Familie und Freunde und habe ihn ganz gern begleitet.

Was die Nebenfiguren betrifft, bleiben einige etwas blass, andere, wie zum Beispiel Henry und Nora, fand ich hingegen interessant und gut gelungen. Richtig ins Gedächtnis hat sich bei mir aber leider niemand so richtig gebrannt, was schade ist – dafür waren die Figuren einfach zu austauschbar.

Spannung (3 Lilien) & Atmosphäre (3 Lilien)

Auch was die Spannung betrifft, folgt einer starken ersten eine langatmige, zähe zweite Hälfte. Meiner Meinung nach hätte man im Mittelteil wirklich einiges wegkürzen und der Geschichte dadurch mehr Tempo verleihen können. Eine Straffung hätte dem Buch bestimmt gutgetan. Auch einige Wendungen hält die Geschichte bereit, die allerdings teilweise recht vorhersehbar waren. Bei einem Liebesroman finde ich das jedoch nicht so schlimm.

Die Atmosphäre hätte meiner Meinung nach stellenweise noch etwas dichter sein dürfen. Ich hätte mir hier anschaulichere und schlicht mehr Beschreibungen der Umgebung gewünscht, um mir alles besser vorstellen zu können.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Bitch, Hoe, Flittchen

Was die feministische Analyse betrifft, erhält dieses Buch alle Lilien und ein riesengroßes Lob! Das Buch besteht den Bechdel-Test, enthält unzählige starke, mutige, intelligente und kompetente weibliche Figuren und bricht radikal mit Geschlechterstereotypen und Rollenklischees. In dieser Parallelwelt gibt es sogar die erste weibliche Präsidentin – hier lässt das Buch keine feministischen Wünsche offen! Auch die Diversität im Buch und die verschiedenen sexuellen Orientierungen, über die ganz unaufgeregt gesprochen wird, sind positiv hervorzuheben. Dieser Roman ist ein Plädoyer für eine tolerantere Welt – dass er ein Bestseller geworden ist und die breite Masse erreicht hat, stimmt hoffnungsvoll! Nur selten kann ich Folgendes bei diesem Unterpunkt schreiben: Alles richtig gemacht, bitte weiter so, Casey McQuiston!

Mein Fazit

Mit „Royal Blue“ hat Casey McQuiston eine moderne Liebesgeschichte mit einer starken ersten Hälfte und vielen Stärken (Humor, Diversität, süße Momente, Kampf gegen Geschlechterstereotypen, starke weibliche Figuren) geschrieben, die jedoch auch ihre Schwächen hat (holpriger, unruhiger Schreibstil, fehlende Spannung, mir kamen die Gefühle zu kurz). Insgesamt blieb die Geschichte leider hinter meinen hohen Erwartungen zurück. Den Hype kann ich daher nur bedingt nachvollziehen. Dieser Roman ist ein Plädoyer für eine tolerantere Welt – dass er ein Bestseller geworden ist und die breite Masse erreicht hat, stimmt hoffnungsvoll. Ich kann dieses Mal zwar keine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen, aber: Wenn ihr auf der Suche nach einer humorvollen, modernen und locker-leichten LGBT-Liebesgeschichte seid und für einige Stunden der Realität entfliehen wollt – gebt „Royal Blue“ doch eine Chance!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3,5 Lilien
Umsetzung: 3,5 Lilien
Worldbuilding: 3 Lilien
Einstieg: 3 Lilien
Ende / Auflösung: 3,5 Lilien
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonist: 3 Lilien
Figuren: 3,5 Lilien
Spannung: 3 Lilien
Atmosphäre: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3,5 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.05.2020

3,5*: Kreativer dystopischer Reihen-Auftakt mit einer tollen Grundidee, aber auch Schwächen (spannungsarm, vorhersehbar, Luft nach oben)!

Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss
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Die Rezension enthält leichte Spoiler, vor denen aber im Text (in der Überschrift) noch einmal gewarnt wird!

Inhalt

Im Jahre 2099 in einer dystopischen Zukunft: Ein großes Ereignis hat die ganze Welt ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler, vor denen aber im Text (in der Überschrift) noch einmal gewarnt wird!

Inhalt

Im Jahre 2099 in einer dystopischen Zukunft: Ein großes Ereignis hat die ganze Welt verändert. Nun gibt es Vortexe, gefährliche Portale, mit denen man an andere Orte reisen kann, und Splittermenschen, die mit einem der vier Elemente verschmolzen sind und dadurch besondere Fähigkeiten besitzen. VortexläuferInnen beschützen die Menschen, indem sie diese Wesen einfangen und in eine der Zonen bringen, wo diese in Frieden leben können. Elaine will aus persönlichen Gründen eine Läuferin werden und ist bereit, dafür alles zu geben. Doch dazu muss sie zuerst die letzte Prüfung ihrer Ausbildung bestehen: das große Vortex-Rennen als eine der ersten 10 abschließen. Und dann geschieht etwas, das Elaines Leben für immer verändern wird …

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 einer Trilogie; Band 2 erscheint im September 2020, Band #3 im Frühjahr 2021
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: - Es wird Fleisch gegessen und die Bejagung von Splittertieren wird kurz angesprochen. Ansonsten wird im Buch kein Tier verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Tod von Tieren, Tod von Menschen, Gewalt, Sexismus, Blut, Feuer

Warum dieses Buch?

Ich hatte im Vorfeld viel Gutes über dieses Buch gehört und der Klappentext klang nach einer sehr kreativen Welt. Außerdem habe ich mich darauf gefreut, einmal eine Dystopie von einer deutschen Autorin zu lesen!

Meine Meinung

Einstieg (4 Lilien)

„Nur wenige waren dazu bestimmt, ein Läufer zu werden.
Ich ‚musste‘ unbedingt dazugehören.“ E-Book, Position 134

Der Einstieg hätte zwar noch etwas temporeicher sein dürfen, und am Beginn fühlte ich mich mangels Erklärungen etwas verloren, aber ich habe recht schnell und problemlos in die Geschichte gefunden. Nach dem Start des Vortex-Rennens möchte man natürlich unbedingt wissen, wie es für Elaine ausgeht!

Schreibstil (4 Lilien)

Der Schreibstil der Autorin hat mir gut gefallen. Ihre Sprache ist einfach, flüssig, sehr anschaulich, aber nicht zu oberflächlich – und dadurch perfekt für ein Jugendbuch geeignet. Außerdem gibt es vereinzelt humorvolle Szenen, die mich zum Schmunzeln gebracht haben.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3,5 Lilien)

„‘Manche von euch mögen Grunder für langsam halten, Wirbler für zart, Schwimmer für scheu und Zünder für einfältig, doch ich rate euch, diese Schönredereien schnell abzulegen. Wenn wir unsere Kontrolle über die Vermengten auch nur für eine Sekunde lockern, könnte das den Untergang der menschlichen Zivilisation bedeuten.‘“ E-Book, Position 102

Nach den vielen positiven Rezensionen und da das Buch vom Verlag als „Future-Fantasy-Trilogie auf Weltklasseniveau“ beschrieben wurde, waren meine Erwartungen natürlich hoch. Zuerst zu den Aspekten, die mir gefallen haben: Ich finde die Grundidee der Autorin erfrischend und sehr kreativ. Auch das Worldbuilding überzeugt auf ganzer Linie: Häppchenweise erfährt man immer mehr über die dystopische Zukunft. Insgesamt haben mir auch der Aufbau der Geschichte und das Ende, das definitiv neugierig auf den zweiten Band macht, sehr gut gefallen. Themen wie Erwachsenwerden, Emanzipation, Wahrheit und Lüge, Rebellion, Vorurteile, Zeitreisen, Rassismus, Diskriminierung und Liebe behandelt das Buch angemessen tiefgründig und altersadäquat. Auch moralische Fragen und Gesellschaftskritik werden in die Geschichte auf gelungene Weise thematisiert. Praktisch fand ich außerdem die Karte und die kurzen Steckbriefe zu den verschiedenen Typen von Vermengten am Ende des Buches.

Leider gab es auch Aspekte, die mich nicht überzeugen konnten. Zum einen waren das einzelne Brüche in der Logik, die Vorhersehbarkeit der Geschichte und die Verwendung von Klischees. Viele Wendungen und Bausteine kannte ich aus vielen anderen (und besseren) Dystopien schon. Während die Welt also sehr innovativ aufgebaut war, hätte ich mir beim Handlungsverlauf mehr Kreativität gewünscht und zusätzlich im schwächeren Mittelteil mehr Tempo. Zum anderen konnte mich der Fantasy-Jugendroman auch emotional leider nicht immer so erreichen, wie ich mir das gewünscht hätte. Anna Benning hat mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ einen soliden Auftakt abgeliefert, der aber leider auch seine Schwächen hat und für mich nicht „Weltklasseniveau“ hat – dafür ist noch zu viel Luft nach oben. Ein guter Grundstein ist nun allerdings schon gelegt. Es bleibt zu hoffen, dass der zweite Band die vorhandenen Stärken weiter ausbauen und das gesamte Potential der Idee nutzen kann. Ob ich die Fortsetzung lesen werde, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau.

Liebesgeschichte (3 Lilien) (Vorsicht Spoiler!)

Die Liebesgeschichte lässt mich innerlich zerrissen zurück. Einerseits fand ich Balians Verhalten Elaine gegenüber nicht immer nett, ich spürte über weite Teile der Geschichte kein Knistern zwischen den beiden und manche Szenen waren mir echt zu kitschig, andererseits gab es durchaus auch glaubhafte Entwicklungen und sehr süße Momente, die mir gefallen haben.

Protagonistin (4 Lilien) & Figuren (4 Lilien)

„‘Du willst immer, zu jeder Zeit, ohne jeden Zweifel das Richtige tun, oder?‘
‚Und das ist eine Charakterschwäche für dich, oder was?`, fragte ich angesäuert. “ E-Book, Position 3722

In einzelnen Rezensionen habe ich gelesen, dass manche Elaine als Protagonistin nicht mochten. Bei mir war das anders: Ich mochte sie, ihren Ehrgeiz, ihre Empathie und ihren Mut, habe mit ihr mitgefühlt und konnte verstehen, warum sie am Beginn so fixiert auf ihren großen Traum ist. Deshalb habe ich sie auch gerne begleitet. Trotzdem hat sie auch ihre Schwächen: Meiner Meinung nach hätte sie noch ein bisschen dreidimensionaler sein dürfen, ihre manchmal große Naivität und die Tatsache, dass sie ihre Meinung gefühlt alle 2 Sekunden ändert, haben mich außerdem in manchen Momenten ein bisschen genervt.

Die anderen Figuren sind ebenfalls gut gelungen, interessant und sympathisch. Am liebsten mochte ich den überschwänglichen Schneider und die fröhliche, leicht vergessliche Susi. Nur wenige Charaktere blieben etwas blass und hätten noch etwas mehr Farbe und etwas weniger Klischees vertragen können (z. B. Mia).

Spannung (2 Lilien) & Atmosphäre (4 Lilien)

Die über weite Strecken fehlende Spannung ist mein Hauptkritikpunkt. Die Geschichte fängt zwar stark an und erreicht schnell einen ersten Höhepunkt, doch der Mittelteil schwächelt stark und hätte sowohl mehr Tempo als auch mehr Spannung vertragen. Auch ruhige Szenen sind zwar (vor allem für die Figurenzeichnung) wichtig, aber mich konnte die Geschichte leider bis zum Ende nicht mehr so richtig packen. „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ ist meiner Meinung nach vom Spannungsniveau daher leider nicht mit Weltklasse-Dystopien wie „Die Tribute von Panem“ zu vergleichen.

Gefallen hat mir hingegen, wie anschaulich und atmosphärisch Anna Benning das Jahr 2099 zum Leben erweckt. Ihre bildlichen Beschreibungen des sterilen Kuratoriums, der fantastischen und gefährlichen Reisen durch die Vortexe in fremde Länder und der Menschen, die sich mit einem der vier Elemente verbunden haben, überzeugen! Es hat wirklich Spaß gemacht, diese fremde Welt zu entdecken.

Feministischer Blickwinkel (3 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Ziege, Zicke, Miststück

Die feministische Analyse des Buches lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits mochte ich Elaine als starke, mutige, ehrgeizige Protagonistin und die Tatsache, dass beide Geschlechter die gleichen Uniformen tragen und für den körperlich und seelisch anspruchsvollen Beruf der/des VortexläuferIn ausgebildet werden. Mir hat auch gefallen, dass die Geschichte auf Slutshaming verzichtet, dass sie den Bechdel-Test besteht und dass es viele gut gebildete Frauen im Buch gibt – in den höchsten Positionen finden sich allerdings seltsamerweise nur Männer (Stichwort: gläserne Decke!).

Andererseits mochte ich die Stutenbissigkeit und die klischeehafte Ausarbeitung von Mia nicht. Zudem empfinde ich es als problematisch, dass sich Elaine jahrelang in der Ausbildung zurückhält, um nicht das fragile Ego ihres Schwarms zu verletzen, indem sie ihn vom ersten Platz verdrängt. Außerdem war oft nur von „Vortexläufern“ die Rede – hier hätte es wirklich Sinn gemacht, zu gendern! Auch Balians latent sexistische, toxische Verhaltensweisen Elaine gegenüber haben mir nicht gefallen. Warum muss er sie unbedingt Barbie nennen und ständig behandeln, als wäre sie dumm? Auch wenn sich die Beziehung zwischen den beiden schließlich ändert, muss das zumindest angesprochen werden, da es sich hier immerhin um ein Jugendbuch handelt. Es gibt also schon einiges, was die Autorin richtig macht, da ist aber gleichzeitig noch Luft nach oben. Ich hoffe, dass Anna Benning im zweiten Band noch etwas sensibler mit diesen Themen umgeht!

Mein Fazit

Mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ hat Anna Benning einen Jugendroman mit vielen Stärken, aber leider auch einigen Schwächen geschrieben. Ich mochte den flüssigen, anschaulichen und altersgerechten Schreibstil der Autorin. Auch die kreative, erfrischende Grundidee, das überzeugende Worldbuilding, die dichte Atmosphäre und das Ende, das neugierig auf die Fortsetzung macht, haben mir sehr gut gefallen! Themen wie Erwachsenwerden, Diskriminierung und Liebe behandelt das Buch angemessen tiefgründig und altersadäquat. Auch moralische Fragen und Gesellschaftskritik werden in die Geschichte auf gelungene Weise thematisiert. Die Figuren sind gut ausgearbeitet und großteils sympathisch, nur manche bleiben blass. Elaine mochte ich als starke, ehrgeizige und mutige Protagonistin, auch wenn sie noch etwas dreidimensionaler sein hätte können und wenn mich ihre Naivität in manchen Momenten genervt hat. Zweigespalten lassen mich die Liebesgeschichte und die feministische Analyse zurück – manche Dinge sind hier gut, andere eher weniger gut gelungen (mehr dazu in meiner Rezension). Leider gab es auch Aspekte, die mich nicht überzeugen konnten: einzelne Brüche in der Logik, die Vorhersehbarkeit der Geschichte, die Verwendung von Klischees und bekannten Bausteinen und der Mangel an Spannung und Tempo. Anna Benning hat mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ einen soliden Reihenauftakt abgeliefert, der für mich aber nicht mit „Weltklasse“-Dystopien wie „Die Tribute von Panem“ vergleichbar ist. Vielleicht kann sich die Geschichte ja im zweiten Band noch steigern – ob ich ihn lesen werde, weiß ich noch nicht. Aber: Auch wenn mich das Jugendbuch nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte, solltet ihr Anna Bennings faszinierender dystopischer Zukunft auf jeden Fall eine Chance geben – sonst verpasst ihr möglicherweise euer nächstes Lieblingsbuch!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 3,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Protagonistin: 4 Lilien
Figuren: 4 Lilien
Liebesgeschichte: 3 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.09.2019

Nett für zwischendurch, aber ich habe mir eine tiefgründigere Geschichte erhofft

Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden
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Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

Ein junger Briefträger erfährt, dass er bald sterben wird. Der Teufel bietet ihm daraufhin einen Pakt an: Er darf ein paar Tage länger leben, aber an jedem dieser Tage ...

Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

Ein junger Briefträger erfährt, dass er bald sterben wird. Der Teufel bietet ihm daraufhin einen Pakt an: Er darf ein paar Tage länger leben, aber an jedem dieser Tage muss eine Sache aus der Welt verschwinden. Der Teufel bestimmt jedoch, was verschwinden soll. Und am 4. Tag sollen es die Katzen sein – dabei liebt der Protagonist seine Samtpfote doch so!

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: C. Bertelsmann
Seitenzahl: 192
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive (Briefträger)
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: +/- Der Protagonist umsorgt seine Katze sehr liebevoll; als eine Katze stirbt, herrscht in der ganzen Familie große Trauer. Was mir nicht gefallen hat: Es wird Fleisch gegessen und es werden Sardinen verspeist. Als eine Katze todkrank wird und tagelang unter großen Schmerzen leidet, schauen alle zu und behaupten, dass sie sonst nichts tun könnten. Das stimmt aber nicht, in solch einem Fall ist es als HaustierbesitzerIn meine Pflicht, das Tier gehen zu lassen und es von seinen Schmerzen zu befreien – es also fachgerecht einschläfern zu lassen! Noch ein zusätzlicher wichtiger Hinweis: Im Roman wird eine Katze alleine gehalten. Da es sich hier um einen Freigänger handelt, ist die Einsamkeit nicht ganz so schlimm, weil sich die Katze draußen Freunde suchen kann, aber die Situation ist trotzdem nicht optimal, denn grundsätzlich gilt: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten. Von Halsbändern rate ich übrigens auch dringend ab: Wenn die Katze wo hängen bleibt, könnte das ihr Todesurteil sein – auch wenn z. B. der automatische Verschluss sich aus irgendeinem Grund doch nicht öffnet.

Warum dieses Buch?

Aufmerksam bin ich auf dieses Buch durch das wunderschöne Cover und den ungewöhnlichen Titel. Als Katzenliebhaberin konnte ich da natürlich nicht widerstehen! Zudem klang die Idee sehr erfrischend und kreativ, sodass ich das Buch unbedingt lesen wollte.

Meine Meinung

Einstieg (+)

"Wie wäre es wohl, wenn alle Katzen von der Welt verschwänden? Wie würde sie sich verändern?" Seite 5

Der Einstieg ist mir sehr schnell und gut gelungen. Gleich im ersten Kapitel werden die Leserinnen direkt angesprochen und es wird eine verrückte Geschichte angekündigt, die dem Briefträger laut eigenen Angaben tatsächlich passiert ist, was mich sofort neugierig gemacht hat.

Schreibstil (+/-)

„‘Äh – darf ich fragen, wer Sie sind?‘
‚Was glaubst du denn, wer ich bin?‘
‚Der Totengott?‘
‚Der Totengott? Dieser erbärmliche Wicht?‘“ Seite 13

Einerseits ist der einfache Schreibstil sehr locker, schnell und angenehm lesbar – das Buch lässt sich durch die Sprache und die große Schrift extrem schnell lesen! –, andererseits war er mir oft leider auch viel zu oberflächlich. Vor allem der Beginn ist sehr dialoglastig – hier fehlten mir Tiefe und Anschaulichkeit. Manche der „Lebensweisheiten“, die dem Protagonisten bewusst werden, fand ich sehr schön und weise, andere wirkten auf mich zu klischeehaft – ich hatte sie schon viel zu oft gehört. Der Humor hat nicht immer meinen Geschack getroffen, aber da kann man eben nichts machen.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Und mit dem Mobiltelefon hatten wir zugleich auch die Panik erfunden, mal keines zur Hand zu haben.“ Seite 43

Als ich dieses Buch entdeckt habe, war ich sofort Feuer und Flamme für die kreative, neuartige Idee. Ich erwartete eine tiefgründige Geschichte mit tiefschürfenden Reflexionen und philosophischen Fragestellungen. Leider hat mich das Buch deshalb ein wenig enttäuscht. Meiner Meinung nach wurde nämlich viel Potential verschenkt – die Geschichte hätte großartig und sehr erinnerungswürdig werden können. Stattdessen fehlte mir besonders in der ersten Hälfte Tiefe. Themen wie die Liebe zur Katze, Tod, Vergänglichkeit und vor allem die Veränderungen, die das Verschwinden von essentiellen Dingen mit sich bringen (darüber wollte ich viel mehr erfahren, deshalb habe ich das Buch ja überhaupt erst gelesen!), werden leider viel zu oberflächlich abgehandelt. Der Roman ist kurz, das gebe ich zu, aber ich habe schon ähnlich dünne Bücher gelesen, die mich nachhaltig berühren und zum Nachdenken anregen konnten. Das sollte also keine Ausrede sein – hier hätte sich der Autor einfach mehr Seiten nehmen sollen, um die Geschichte ordentlich zu entwickeln. Dazu kommen einige inhaltliche Wiederholungen – manchmal scheint die Geschichte nicht so recht vom Fleck zu kommen.

Zwei Dinge fand ich zudem etwas unglaubwürdig (und ich schreibe das mit einem Augenzwinkern): Erstens kann ich nicht verstehen, dass der Protagonist es schlimm findet, dass die geliebte Katze auf einmal sprechen kann. Wir KatzenlieberInnen wünschen uns doch seit Ewigkeiten, nur einmal hören zu können, was im Kopf des kleinen Lieblings vorgeht! Und zweitens: Die Katze behauptet, dass ihre Art neben Telefonen absolut bedeutungslos ist und dass ihr Verschwinden kein Verlust für die Welt wäre. Welche Katze würde je so reden? Katzenpersonal weiß, dass Katzen so etwas niemals sagen würden, dafür sind sie viel zu stolz und von sich überzeugt! Sie würden eher argumentieren, dass ruhig alles andere verschwinden kann, solange sie – die Krone der Schöpfung – noch auf Erden wandeln dürfen. ;)

Erstaunlicherweise wurde das Buch mit jeder Seite besser. Nach und nach erfährt man mehr über die Hauptfigur und deren Trauer um die geliebte Mutter, an der sie immer noch zu knabbern hat. Im letzten Teil habe ich richtig mitgefiebert, und nach dem offenen, aber gelungenen Ende habe ich gemerkt, dass mich das Buch mehr berührt hat, als ich das zu Beginn erwartet hätte.

Protagonist (+)

Ich fand den Protagonisten, dessen Namen wir übrigens nie erfahren, zwar nicht unbedingt sehr erinnerungswürdig, aber doch insgesamt gut gelungen und sympathisch, auch wenn ich ihn insgeheim während der Lektüre immer ein bisschen bemitleidet habe. Keine Frau, keine Kinder, keinen Kontakt mit dem Vater, keine engen Freunde, fast keine verwirklichten Träume – sein Leben klingt einfach so traurig! Seine Trauer und seine Gefühle seiner Mutter gegenüber fand ich sehr berührend und intensiv geschildert. Was ihn selbst und seine gegenwärtige Situation betrifft, hätte ich mir jedoch manchmal gewünscht, dass sein Innenleben detaillierter beschrieben wird.

Figuren (+/-)

Die anderen Figuren fand ich mittelmäßig ausgearbeitet, besonders da sie alle nur ganz kleine Rollen in der Geschichte spielen. Manche waren sehr gelungen, greifbar und sympathisch, andere blieben blass und erschienen nicht besonders liebenswert.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

In der ersten Hälfte gab es trotz der kurzen, etwas vorhersehbaren Geschichte ein paar Längen. Wahrscheinlich, weil ich mir einfach mehr erwartet hatte und weil mich oberflächliche Geschichten schnell langweilen. Wenn ich lese, möchte ich mitgerissen, emotional berührt, unterhalten und zum Nachdenken gebracht werden – das ist dem Buch leider nur teilweise gelungen. Trotz allem war die Atmosphäre vor allem in der zweiten Hälfte erstaunlich deprimierend – das Buch hat mich echt ein bisschen runtergezogen. Dabei habe ich eigentlich mit einer positiven, herzerwärmenden und lebensbejahenden Geschichte gerechnet.

Feministischer Blickwinkel (-)

Die traditionellen Geschlechterrollen in der Familie des Briefträgers haben mich nicht gerade begeistert: Die Frau kocht gern und hält alles sauber, muss trotz ihrer Krankheit die Hausarbeit erledigen, bis sie zu schwach ist (nicht einmal dann fällt dem werten Gemahl ein, ihr zu helfen!?), ist emotional und liebevoll, kauft immer nur Kleidung fürs Kind, nie für sich selbst; einmal fragt sich der Sohn sogar, ob sie Hobbys hat oder mal Zeit für sich. Klingt ein bisschen nach weiblicher Selbstaufgabe in meinen Ohren! Der Vater ist natürlich kühl und zeigt kaum Emotionen. Eine Frau kritisiert zudem alles Mögliche als „unmännlich“, manches Mal findet sich auch die Formulierung „alle Frauen / alle Mütter“, was mir zu stereotypisierend war.

Aber es gibt auch Dinge, die ich loben möchte: Der Briefträger ist sensibel und darf weinen, und die ehemalige Freundin des Protagonisten wirkt sehr selbstbewusst – unsympathisch zwar, aber immerhin selbstbewusst.

Mein Fazit

„Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden“ ist ein Buch, von dem ich mir zum einen eine herzerwärmende, tiefgründige Geschichte mit philosophischen Reflexionen erwartet habe und zum anderen, dass es mich berührt und mich zum Nachdenken anregt. Das hat das Buch leider nur zum Teil und hauptsächlich in der zweiten Hälfte geschafft. Für die kreative, neuartige Idee war ich sofort Feuer und Flamme, leider wurde jedoch viel Potential verschenkt. Vor allem in der ersten Hälfte fehlte mir bei Themen wie Tod, Vergänglichkeit und den Veränderungen, die das Verschwinden von essentiellen Dingen mit sich bringt (deshalb habe ich das Buch ja überhaupt erst gelesen!), Tiefe. Hier hätte sich der Autor einfach mehr Zeit nehmen sollen, um die Geschichte ordentlich zu entwickeln. Dazu kommen einige inhaltliche Wiederholungen – manchmal scheint die Geschichte nicht so recht vom Fleck zu kommen. Der Einstieg ist mir leicht gefallen, der Schreibstil ist auf den ersten Blick einfach, locker und schnell und angenehm lesbar. Schon bald merkt man jedoch, dass er oft sehr dialoglastig ist und dass häufig Tiefe und anschauliche Beschreibungen fehlen. Manche der „Lebensweisheiten“ fand ich sehr schön und weise, andere wirkten auf mich zu klischeehaft – ich hatte sie schon viel zu oft gehört. Der Humor hat leider auch nicht immer meinen Geschmack getroffen. Ich fand den Protagonisten zwar nicht unbedingt sehr erinnerungswürdig, aber doch insgesamt gut gelungen und sympathisch, auch wenn ich ihn insgeheim während der Lektüre aufgrund seines traurigen Lebens bemitleidet habe. Die anderen Figuren sind verschieden gut gelungen: Manche überzeugen, andere bleiben blass. Nicht so gut gefallen haben mir die sehr traditionellen Geschlechterrollen in der Familie des Protagonisten. Zwischendurch gab es trotz der kurzen, etwas vorhersehbaren Geschichte ein paar Längen. Wahrscheinlich, weil ich mir einfach mehr erwartet hatte und weil mich oberflächliche Geschichten schnell langweilen. Trotz allem war das Buch überraschend deprimierend – ich hätte mit einer positiveren Atmosphäre gerechnet. Erstaunlicherweise wurde die Geschichte aber mit jeder Seite besser. Nach und nach erfährt man mehr über die Hauptfigur und deren intensive Trauer um die geliebte Mutter, an der sie immer noch zu knabbern hat. Im letzten Teil habe ich richtig mitgefiebert, und nach dem offenen, aber gelungenen Ende habe ich gemerkt, dass mich das Buch mehr berührt hat, als ich das zu Beginn erwartet hätte. Insgesamt ist „Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden“ durchaus ein nettes Buch für zwischendurch, ich habe mir trotzdem mehr davon erhofft.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3,5 Sterne
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 2 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonist: 4 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Atmosphäre: 3,5 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3-4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: -

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 22.08.2019

3,5*: Atmosphärische, unheimliche starke erste Hälfte, dann geht dem Spannungsroman die Luft aus

Der Kinderflüsterer
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Buch geht es um den Witwer Tom und seinen Sohn Jake, die beide umziehen und im kleinen Städtchen Featherbank noch einmal neu anfangen wollen. Die Trauer hat beide ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Buch geht es um den Witwer Tom und seinen Sohn Jake, die beide umziehen und im kleinen Städtchen Featherbank noch einmal neu anfangen wollen. Die Trauer hat beide noch fest im Griff, immer wieder gibt es Konflikte und Streit, weil sie sich gegenseitig nicht so richtig verstehen. Die neue Stadt hat eine düstere Vergangenheit: Mehrere Kinder wurden ermordet, der Mörder zum Glück gefasst. Tom interessiert sich eigentlich nicht für die alten Mordfälle, da er genug um die Ohren hat - bis erneut ein Kind verschwindet und Jake behauptet, ein Flüstern am Fenster zu hören…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blanvalet
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler & Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: mehrere männliche und eine weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt, gequält oder absichtlich getötet. Einige Schmetterlinge sterben jedoch an Altersschwäche oder Hunger, das ist nicht eindeutig.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang unheimlich spannend und hat mich sofort an C. J. Tudors „Der Kreidemann“ erinnert - einen Thriller, den ich absolut geliebt habe! Daher musste ich dieses Buch natürlich unbedingt lesen.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

"Der schlimmste Albtraum von Eltern ist die Entführung ihres Kindes durch einen Fremden. Allerdings ist dies statistisch gesehen ein höchst unwahrscheinliches Ereignis. Die größte Gefahr geht für Kinder tatsächlich von nahen Angehörigen aus und findet hinter verschlossenen Türen statt [...]" Seite 11

Ich habe sofort und ohne Probleme in die Geschichte gefunden, da das Buch sofort sehr unheimlich und spannend mit der Entführung eines kleinen Jungen und der darauf folgenden Suchaktion beginnt.

Schreibstil (+)

Alex Norths Schreibstil hat mir wirklich durchgehend sehr gut gefallen. Der Autor schreibt etwas anspruchsvoller als viele andere ThrillerautorInnen, seine Sätze sind nicht so kurz und abgehackt. Seine Sprache ist flüssig und sehr angenehm zu lesen. Glänzen kann der Schreibstil sowohl in unheimlichen und hoch atmosphärischen Momenten als auch dann, wenn es um die Gefühle und Gedanken der Hauptfiguren geht. Beides gelingt Alex North sehr gut!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Wenn die Tür halb offen steht,
ein Flüstern zu dir rüberweht.
Spielst du draußen ganz allein,
findest du bald nicht mehr heim.
Bleibt dein Fenster unverschlossen,
hörst du ihn gleich daran klopfen.
Denn jedes Kind, das einsam ist,
holt der Flüsterer gewiss.“ Vgl. Seite 119

Für den „Kinderflüsterer“ hat Alex North im englischsprachigen Raum bereits viel Lob erhalten und auch bei uns gibt es große Marketing-Kampagnen und einen regelrechten Hype. Bestimmt lag es daran, dass meine Vorfreude sehr groß und meine Erwartungen so hoch waren. Leider blieb das Buch insgesamt hinter meinen Erwartungen zurück.

Auch wenn auf dem Cover „Roman“ steht, war doch meist von „Spannungsroman“ die Rede, und vermarktet wurde das Buch sowieso als Thriller. In der ersten Hälfte war die Geschichte auch sehr spannend (wie ein Thriller) und gut geschrieben, der zweite Teil war leider deutlich schwächer. Es kommt zu einigen inhaltlichen Wiederholungen und der Verwendung von „Füllmaterial“; immer wieder wird das gleiche Thema besprochen – jedoch leider nicht so, dass das Buch etwas Neues bieten kann. Das führt leider zu einigen Längen.

Prinzipiell fand ich das Setting, die Idee und auch die Themen, die im Roman behandelt werden, wie zum Beispiel Trauerbewältigung, Familie, Alltag als alleinerziehender Vater, Einsamkeit, Überforderung, sehr interessant und gut gewählt. Es gab viele starke Momente im Buch, die erste Hälfte konnte mich rundum überzeugen! Übrigens ist dieser Roman auch für Menschen mit empfindlichen Mägen geeignet, da der Autor auf psychologische Spannung setzt und bei der Beschreibung der Mordopfer nicht ins Detail geht. Leider wurde nach dem ersten starken Teil Potential verschenkt. Es hätte gerne noch viel emotionaler und tiefgründiger sein dürfen.

Die nur ganz zart eingewebte, beginnende Liebesgeschichte hat mich nicht gestört – im Gegenteil, ich war froh, dass Tom endlich einmal Kontakt mit anderen Menschen hat. Das Ende fand ich zudem rund und gelungen, auch wenn die Auflösung keine wirkliche Überraschung mehr war, wenn manches offen bleibt und wenn ich mir für manche Figuren vielleicht ein positiveres Ende gewünscht hätte.

Geschrieben ist das Buch oft sehr filmisch, es erzeugt starke, einprägsame Bilder im Kopf, die mir sicher lange in Erinnerung bleiben werden. Da wundert es nicht, dass die Filmrechte bereits verkauft wurden. Auf diese Verfilmung bin ich schon sehr gespannt – ich denke, dass sie als Thriller / Drama mit Horror-Elementen ausgezeichnet funktionieren wird (weil dann nämlich auch das Tempo angezogen und die Wiederholungen gestrichen werden können)!

ProtagonistInnen & Figuren (+/-)

„Wir würden hier sicher sein.
Wir würden glücklich sein.
Und in der ersten Woche waren wir das auch.“ Seite 60

Was die Hauptfiguren, aus deren Sicht wir die Geschichte erzählt bekommen, betrifft, so bin ich zwiegespalten. Jake und seinen Autorenvater Tom mochte ich beispielsweise beide sehr gerne. Beide sind authentische, komplizierte und komplexe Persönlichkeiten, die nicht nur gute Seiten, sondern auch Schwächen haben – jedoch waren sie mir niemals unsympathisch. Vielmehr habe ich (meist) mit ihnen mitgefühlt und mit ihnen mitgetrauert. Die schwierige, stressige Zeit spiegelte sich auch in ihrem Verhalten sehr gut wieder wider. Beide sind häufig mit der neuen Situation überfordert. Sehr seltsam fand ich nur, dass Tom und Jake so dermaßen isoliert leben und keinerlei FreundInnen oder Verwandte zu haben scheinen. Das fand ich schon etwas unglaubwürdig und unnatürlich (es wirkte konstruiert).

Die anderen ProtagonistInnen und Figuren, wie zum Beispiel Pete, Amanda, aber auch der im Gefängnis sitzende Mörder Carter, bleiben jedoch in vielen Fällen leider zu blass. Obwohl die meisten von ihnen eine Entwicklung durchmachen, waren sie mir oftmals nicht dreidimensional und einmalig genug. Manchmal fehlte mir auch einfach Tiefe. Ein Beispiel: Carter wirkte wie der typische 08/15-Bösewicht, der den Polizisten provoziert und unheimlich ist, aber es gab leider nichts, wodurch er sich von anderen Mördern in anderen Büchern abgehoben hätte.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch was die Spannung und Atmosphäre betrifft, habe ich gemischte Gefühle. Die erste Hälfte des Buches fand ich wahnsinnig stark – ich war mir sogar sicher, dass ich es hier mit einem 5-Sterne-Buch zu tun habe. Es gab viele unglaublich atmosphärische Gänsehaut-Momente und unheimliche Szenen mit Horror-Elementen, die mich absolut begeistern konnten. Krächzende Stimmen, knackende Dielen, ein neues Haus, das den frischen Besitzern nicht ganz geheuer ist. Immer wieder stellt sich auch die Frage, ob Jakes unsichtbare Freunde real sind oder nur seiner Fantasie entspringen. Die erste, unvorhersehbare und wendungsreiche Hälfte habe ich wirklich geliebt, denn ich liebe es, mich zu gruseln!

Im zweiten Teil ging der Geschichte dann aber ein wenig die Luft aus. Der Spannungsbogen brach ein, immer wieder gab es Wiederholungen und die Geschichte schien auf der Stelle zu treten. Ich war zwar nie gelangweilt, dennoch wurde hier Potential verschwendet, weil es schon die eine oder andere Länge gibt. Besonders im letzten Drittel, in dem viele Thriller und Romane noch mit einigen unerwarteten Wendungen verblüffen, geschah dann überraschend wenig. Zudem stand der Mörder zu früh fest, was mir die Möglichkeit genommen hat, selbst zu rätseln. Der Showdown war kurz und irgendwie unaufgeregt, auch hier hätte ich mir mehr erwartet.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Ich finde es großartig, dass Alex North einen alleinerziehenden Vater und diese schwierige Vater-Sohn-Beziehung in den Mittelpunkt seiner Geschichte gestellt hat, da alleinerziehende Väter in der Literatur ohnehin unterrepräsentiert sind. Ich mochte auch, dass Tom und Alex beide sehr sensibel, gefühlvoll und liebevoll sind, dass sie ängstlich und handwerklich ungeschickt sein und weinen dürfen und sehr am Tod der Mutter / Ehefrau zu knabbern haben (alles andere wäre ja auch unglaubwürdig!). Sehr interessant fand ich auch, dass Tom einfach zugibt, dass er manchmal Abstand von seinem Sohn braucht, weil ihm alles zu viel wird. Ist ja eigentlich auch nichts dabei. Aber: Würde das eine Frau sagen, würden sofort wieder einige Leute „Rabenmutter“ schreien.

Manche Dinge haben mir allerdings nicht so gut gefallen. Zum einen, dass es viel mehr männliche als weibliche Figuren im Buch gibt. Hier hätte ich mir mehr Ausgeglichenheit gewünscht. Zum anderen wird geschildert, wie der Vater nach dem Tod der Frau zum ersten Mal Geschenke einpackt, das Kind zum Frisör bringt und alles sauber halten muss. Hier kam es mir so vor, als hätte sich Tom davor weniger in Kindererziehung und Haushalt eingebracht hat als seine Ehefrau, obwohl er von zu Hause arbeitet, da er Autor ist. Es gibt nur ein Beispiel für gegenderte Beschimpfungen (Hu++), diese wird aber vom Bösewicht ausgesprochen. Den „Bechdel Test“, den ich in Zukunft bei jedem Buch durchführen werde, weil er einen Hinweis auf die Repräsentation von Frauen in einem fiktiven Werk geben kann, besteht das Buch leider nicht. Hierfür müssten zwei weibliche Figuren miteinander ein Gespräch über etwas anderes als Männer führen. Dafür haben wir hier leider zu wenige Frauenfiguren.

Mein Fazit

„Der Kinderflüsterer“ ist ein Spannungsroman, um den es momentan einen großen Hype gibt. Deshalb bin ich mit hohen Erwartungen herangegangen, die aber leider nur zu einem Teil erfüllt werden konnten. Der Schreibstil ist flüssig, angenehm und etwas anspruchsvoller als in einem durchschnittlichen Thriller, was mir sehr gut gefallen hat. Dem Autor gelingt es mit seiner Sprache sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten zu glänzen. Die Figuren konnten mich leider nicht durch die Bank überzeugen. Jake und Tom waren zwar sehr gut und glaubwürdig ausgearbeitet (ich habe mit den Trauernden meist sehr mitgefühlt), die anderen ProtagonistInnen und Nebenfiguren blieben leider oft blass. Inhaltlich fand ich die Themen – Trauer, Einsamkeit, Überforderung, Alltag als alleinerziehender Vater (endlich!) -, das Setting und die Idee in der ersten Hälfte großartig, leider wurde bei der Umsetzung in der zweiten Hälfte viel Potential verschenkt. Es hätte oft gerne emotionaler und tiefgründiger sein dürfen. Durch einige inhaltliche Wiederholungen, „Füllmaterial“, zu wenige Twists und die frühe Enthüllung des Täters geht dem Buch leider in der zweiten Hälfte die Luft aus. Ich hatte das Gefühl, dass die Geschichte stellenweise auf der Stelle tritt. Mir fehlten Spannung – das Buch wies leider ein paar Längen auf – und ein überzeugender Showdown. Absolut begeistern konnte mich hingegen in den ersten 250 Seiten die dichte und unheimliche Atmosphäre, die der Autor kreiert! Krächzende Stimmen, knackende Dielen, ein neues Haus, das den frischen Besitzern nicht ganz geheuer ist: Es gab viele Gänsehaut-Momente und Horror-Elemente, sodass ich mich echt gegruselt habe! Mein Fazit: „Der Kinderflüsterer“ ist ein Spannungsroman mit einer unglaublich starken, unheimlichen und atmosphärischen ersten Hälfte, dem in der zweiten Hälfte aber leider die Luft ausgeht und der deshalb hinter meinen Erwartungen zurückblieb. Den Hype kann ich leider nicht wirklich nachvollziehen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Figuren: 2 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Atmosphäre: 3,5 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 14.08.2019

Erschreckende Dystopie mit wichtiger Botschaft, aber auch Schwächen

Dry
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Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. ...

Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. Die Behörden bitten die Bewohner Kaliforniens, ruhig zu bleiben und versprechen baldige Hilfe. Doch diese kommt nicht. Schon am ersten Tag beginnt die dünne Schicht der Zivilisation zu bröckeln, als die Leute im Supermarkt um die letzten Wasserflaschen streiten, bereits am dritten Tag eskaliert die Lage. Es ist erschreckend, wie schnell das geht. Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein. Bald wird um jeden Schluck Wasser erbarmungslos gekämpft…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: FISCHER Sauerländer
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: mehrere weibliche und männliche Perspektiven
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: +/- Angeblich tötet eine der Figuren mit einem Luftdruckgewehr Tiere (hier ist nicht sicher, ob das den Tatsachen entspricht), Kelton redet zudem gerne über die Jagd und ist ein überzeugter Jäger. Dutzende Fische sterben, weil jemand ein Aquarium zerstört, die überlebenden haben auch keine guten Chancen; es werden Witze auf Kosten der toten Tiere gemacht, ein Hund wird bei der Flucht trotz Platz im Auto zurückgelassen, jemand trägt eine Kaninchenpfote als Glücksbringer am Schlüsselbund mit sich. Andererseits gibt die Familie auch dem Hund Wasser, als dieses knapp wird und behandelt ihn sehr gut. Es werden keine Tiere von den Hauptfiguren gequält oder getötet.

Warum dieses Buch?

Ich liebe Endzeitszenarien, verfolge besorgt die Auswirkungen des Klimawandels und mochte auch die „Scythe“-Reihe von Neal Shusterman gern. Das alles, das Thema der Geschichte und die Tatsache, dass der Autor das Buch gemeinsam mit seinem Sohn geschrieben hat, haben mich sofort neugierig gemacht!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

"Der Wasserhahn in der Küche gibt sehr bizarre Geräusche von sich. Er keucht und hustet, als hätte er einen Asthmaanfall. Er gurgelt wie ein Ertrinkender, spuckt einmal und verstummt dann ganz." E-Book, Position 41

Ich hatte keinerlei Probleme, ins Buch zu finden. Im Gegenteil, die Geschichte beginnt im genau richtigen Tempo, lässt uns Zeit, die Protagonistin und ihre Familie kennenzulernen, und kommt dann immer mehr ins Rollen, als das Unglück seinen Lauf nimmt, und die Welt im Chaos versinkt. Sehr gelungener Anfang!

Schreibstil (+)

Der anschauliche Schreibstil des Vater-Sohn-Gespanns konnte mich auch dieses Mal überzeugen. Neal und Jarrod Shusterman schreiben sehr flüssig, einfach und angenehm, sodass das Buch nicht nur für das jugendliche Zielpublikum, sondern auch für Lesemuffel gut geeignet ist. Dabei kann das Buch sowohl in spannenden als auch in eher stillen, emotionalen Momenten glänzen, auch wenn einen die Sätze meist ästhetisch nicht umhauen und manchmal etwas unmotiviert aneinandergereiht wirken. Ich bin insgesamt zufrieden!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Irgendwas fühlt sich komisch an. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es hängt in der Luft wie ein Geruch. Es ist die Ungeduld der Menschen vor den Kassen. Fast wie mit einem Rammbock bahnen sich die Leute mit ihren Einkaufswagen einen Weg durch die Schlangen. Es herrscht eine Art primitive Ur-Feindlichkeit, nur verdeckt von einer dünnen Schicht aus vorstädtischer Höflichkeit, die langsam fadenscheinig wird.“ E-Book, Position 148

Den Aufbau des Buches und das Worldbuilding fand ich sehr gut gelungen. Neben Kapiteln aus vier verschiedenen Perspektiven gibt es zwischendurch immer wieder so genannte „Snapshots“, die kurz das Leben einer anderen Person beleuchten. Auf diese Weise erfahren wir wie Nachrichten-Moderatorinnen, LKW-Fahrer, die Wasser liefern, und die verweifelten Menschen in den Versorgungszentren die Katastrophe erleben und damit umgehen. So erhalten wir ein recht umfassendes Bild von der schrecklichen Lage, was ich sehr gelungen fand. Die vielen Perspektivwechsel haben mich nicht gestört – im Gegenteil, sie haben Tempo in die Geschichte gebracht. Positiv fand ich auch, dass dieses Mal keine kitschige Liebesgeschichte die Hauptstory in den Hintergrund gedrängt hat – denn das hatte ich zwischenzeitlich schon fast befürchtet.

Mit „Dry“ haben die beiden Autoren mit Sicherheit eine wendungsreiche, glaubwürdige Dystopie geschaffen, die diesen Namen verdient hat. Am erschreckendsten an der Katastrophe ist mit Sicherheit die Tatsache, dass diese gar nicht allzu weit hergeholt ist. Schon jetzt spüren wir die Folgen des Klimawandels, schon jetzt gibt es immer schlimmere Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und noch immer verschwenden wir Wasser, leben, als hätten wir es unbegrenzt zur Verfügung. Wasserknappheit wird noch Konflikte und Kriege auslösen, prophezeien Experten. In der Geschichte ist der Tap-Out bereits geschehen – und die Folgen sind verheerend. Denn ohne Nahrung kann der menschliche Körper immerhin mehrere Wochen leben, ohne Flüssigkeit jedoch nur ein paar Tage. Schnell bricht Panik aus, die Lage eskaliert, durch verunreinigtes Trinkwasser kommt es zu Infektionen und Krankheiten. Wertgegenstände werden in Autos und Häusern zurückgelassen, weil nur mehr eines zählt und sich schnell zum wertvollsten Gut überhaupt entwickelt: Wasser.

Die Botschaft der Geschichte scheint klar: Schluss mit der Wasserverschwendung! Und: Wir müssen endlich aufhören, den Klimawandel und seine schrecklichen Folgen zu verharmlosen und zu verdrängen! Wir müssen die Notbremse ziehen, bevor es zu spät ist! Und schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser für einige Wochen einlagern. Immer wieder gibt es im Buch auch Situationen, in denen moralisch schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Unweigerlich fragt man sich irgendwann: Was hätte ich getan? Wie hätte ich gehandelt?

Nicht überzeugen konnte mich neben der immer wieder fehlenden Tiefe und einigen Logiklöchern, auf die ich gleich noch näher eingehen werde, das Ende.

Achtung: Spoiler!

Wie auch schon andere RezensentInnen geschrieben haben, ist das Ende nicht nur „Friede, Freude, Eierkuchen“, sondern da ist sogar noch Zuckerguss obendrauf. Ich fand das besonders bei einer Dystopie zu unrealistisch; mir war das eindeutig zu viel.

Spoiler: Ende!

ProtagonistInnen (+/-)

„‘Sie sagen, wir sollen ruhig bleiben‘, betont Alyssa.
‚Ja, das haben sie auch zu den Leuten auf der Titanic gesagt, als sie schon wussten, dass sie sinken wird.‘
Und er hat recht. Vom Standpunkt der Behörden aus sind ruhiggestellte Menschen, die still und leise sterben, viel einfacher zu händeln als wütende Menschen, die um ihr Leben kämpfen.“ E-Book, Position 1226

Man merkt, dass sich die Autoren Mühe gegeben haben, ihre Figuren eine Entwicklung durchmachen zu lassen. Alle Charaktere haben ihre Stärken und Schwächen und handeln moralisch nicht immer vollkommen einwandfrei – etwas anderes wäre in einer solchen Situation auch unrealistisch. Besonders ihr Verhalten in Ausnahmesituationen – wenn es um Leben und Tod ging – war für mich sehr spannend zu beobachten. Trotzdem hat mir auch hier oft Tiefe und Einzigartigkeit gefehlt; vielleicht fiel es mir deswegen stellenweise schwer, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern. Zudem fand ich ihr Handeln leider nicht immer logisch und glaubwürdig. Ein Beispiel: Die Familie findet heraus, dass aus den Leitungen kein Wasser mehr kommt und weiß, dass es nun wichtig und schlau wäre, sich mit Wasser- und Essensvorräten einzudecken. Aber aus irgendeinem Grund beschließen sie, erst Stunden später einkaufen zu fahren und müssen dann um die letzten Flaschen kämpfen – obwohl es überhaupt keinen Grund gab, so lange zu warten!

Einige Figuren waren mir auch sehr unsympathisch, besonders der egoistische, feige Henry. Aber auch der Waffenfreak Kelton, der vor Ehrfurcht feuchte Augen bekommt, weil seine Waffe so schön glänzt, hat bei mir immer wieder Augenrollen und Gefühle der Hassliebe ausgelöst.

Figuren (+)

Die anderen Personen fand ich sehr gut gelungen, auch wenn sie nur kurze Auftritte im Buch hatten. Für Nebenfiguren waren sie wirklich erstaunlich gut ausgearbeitet und durften viele Facetten von sich zeigen. Das hat mir gefallen!

Spannung & Atmosphäre (+/-)

„Für eine Wasserkrise gibt es keine Radarbilder. Keine Sturmfluten, keine Trümmerfelder. Der Tap-Out ist so lautlos wie Krebs.“ E-Book, Position 319

Das Buch überzeugt mit einem sehr starken Beginn. Es lässt uns miterleben, wie unscheinbar alles beginnt, wie schnell die Lage aber immer weiter eskaliert. Leider kann die Geschichte ihr hohes Spannungslevel nicht bis zum Schluss halten, im Mittelteil gibt es einige Passagen, in denen der Spannungsbogen einbricht. Jedoch gelingt es den Autoren immer wieder, Spannung neu aufzubauen und die Neugier der LeserInnen mit vielen unerwarteten Wendungen, einer unvorhersehbaren Geschichte und so manchem geschickt platzierten Cliffhanger neu zu entfachen.

Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre im Buch. Leere Wohnsiedlungen, aufgebrachte Menschenmengen, geplünderte Häuser - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Die vielen „Snapshots“ geben kurze Einblicke in die Welt verschiedener Figuren und vermitteln ein erschreckendes Gesamtbild. Das ist wirklich eine Dystopie, die sich so nennen darf! Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war es schöner, den Wasserhahn aufzudrehen und ein paar Schlucke Wasser zu trinken!

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Hier gibt es einige Dinge, die mich gestört haben. Wütend und traurig hat mich beispielsweise gemacht, dass schon einem kleinen Jungen Genderstereotype eingetrichtert werden. Ihm wird eingeredet, dass ihm die Klempnerarbeit mehr im Blut liege als zum Beispiel seiner Schwester, weil er ja ein Mann ist. Es ist nämlich sehr wichtig, dass wir schon bei Kindern daran arbeiten, dass sie ein starres Männlichkeitsbild entwickeln – denn wo kämen wir sonst hin? In eine gleichberechtigte Welt, in der niemand in Schubladen gezwängt wird, sondern jede/r sein darf wie er ist? Pff, das wäre ja noch schöner!

Nach dem Tap-Out wird es durch den Ausnahmezustand viel besser, aber davor sprüht die Geschichte nur so vor veralteten, traditionellen Geschlechterrollen: die Mütter kochen, die Männer schrauben an den Autos herum, sind fürs Reparieren und Renovieren zuständig (auch wenn sie es nicht wirklich gut können), Kinder zeigen bereits erste Anfänge von „Machogehabe“, es gibt „Stutenbissigkeit“ unter Mädchen, Mütter neigen zu „Frustputzen“, die „Eroberung“ eines Mädchens wird mit der Jagd auf ein Reh verglichen, die Väter sind natürlich die, die alles bestimmen und „Machtwörter“ sprechen. Einmal werden sogar „männliche Geräusche“ in der Garage produziert. Wie die wohl klingen? Auch gegenderte Beschimpfungen gab es, allerdings nur wenige: Tussi und Hu+++sohn. Dennoch würde ich mir wünschen, dass solche Wörter keinen Einzug in Jugendbücher finden! Hier sehe ich eindeutig noch Verbesserungsbedarf. Besonders AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit Geschlechterrollen und -klischees umzugehen und auch die eigene Sozialisation zu hinterfragen!

Aber es gibt natürlich auch Aspekte, die man loben kann. Die Mutter von Alyssa ist Psychologin, die sportliche Alyssa spielt im Fußballteam der Schule und ihre Eltern sind überzeugt, dass sie einmal Anwältin wird. Beide Protagonistinnen sind stark, Jacqui bricht sicherlich mit Geschlechterklischees und auch Jungs dürfen weinen.

„‘Warum muss ich das machen?‘, zetert er.
‚Weil wir uns abwechseln‘, erinnere ich ihn, dann appelliere ich an sein männliches Ego. ‚Außerdem bist du ein Mann. Dir liegt Klempnerarbeit einfach mehr.‘“ E-Book, Position 784

Mein Fazit

Mit „Dry“ haben Neal und Jarrod Shusterman eine Dystopie geschrieben, die diesen Namen verdient hat. Die Autoren skizzieren in ihrem Buch ein leider gar nicht so weit hergeholtes, aber absolut erschreckendes Endzeitszenario: Eskalation, Kämpfe um jeden Schluck Wasser, durch verunreinigtes Wasser ausgelöste Infektionen, ausgestorbene Siedlungen und geplünderte Häuser. Die Botschaft ist klar: Schluss mit der Wasserverschwendung, Schluss mit der Verharmlosung des Klimawandels! Und: Schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser einlagern. Eindrucksvoll beschäftigt sich die Geschichte mit dem Überleben, den Opfern, die wir bereit sind, dafür zu bringen, und mit der Frage nach moralisch richtigem Verhalten in Ausnahmesituationen. Trotzdem gibt es leider auch einige Logiklöcher und immer wieder fehlte mir Tiefe. Auch wenn der Schreibstil ästhetisch nicht umwerfend ist, so ist er doch flüssig und angenehm lesbar und somit perfekt für die jugendliche Zielgruppe und auch Lesemuffel geeignet. Mein Verhältnis zu den Figuren ist hingegen zwiegespalten: Teilweise sind sie gut ausgearbeitet und entwickeln sich weiter, teilweise sind sie aber auch sehr unsympathisch; insgesamt fehlten mir auch hier Tiefe und Einzigartigkeit. Vielleicht konnte ich deshalb nicht immer mit ihnen mitfühlen und mitfiebern? Nicht überzeugen konnten mich zudem das übertriebene, unrealistische Ende und die oft starren Geschlechterrollen, die in diesem Buch vermittelt werden. AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit diesem Thema umzugehen! Das Buch beginnt sehr stark, kann sein hohes Spannungslevel aber leider nicht durchgehend halten. Regelmäßig bricht der Spannungsbogen ein, kann jedoch durch gezielt gesetzte Cliffhanger und eine wendungsreiche Geschichte auch immer wieder neu aufgebaut werden. Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war man dankbarer, den Wasserhahn aufdrehen und ein paar Schlucke trinken zu können.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!