Man bleibt als Leser nachdenklich zurück
REZENSION – Ein angenehmes, sogar fröhliches Wiedersehen alter Jugendfreunde könnte es im Spätsommer 2015 werden, zu dem der inzwischen 66-jährige Immobilienmakler Lincoln seine beiden Studienkollegen, ...
REZENSION – Ein angenehmes, sogar fröhliches Wiedersehen alter Jugendfreunde könnte es im Spätsommer 2015 werden, zu dem der inzwischen 66-jährige Immobilienmakler Lincoln seine beiden Studienkollegen, den Verleger Teddy und den Musiker Mickey, „um der alten Zeiten willen“ in sein altes Sommerhaus auf der kleinen Ferieninsel Martha’s Vineyard vor der Südküste von Cape Cod im Bundesstaat Massachusetts einlädt. So beginnt auch der im Mai auf Deutsch erschienene Roman „Jenseits der Erwartungen“ des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Richard Russo (70) noch recht beschaulich, nimmt aber immer mehr Tempo auf, um schließlich dramatisch zu enden. Nichts ist mehr so, wie anfangs erwartet.
Auf dem College waren die drei jungen Männer, alle aus kleinbürgerlichem Elternhaus, zu Freunden geworden. Die Studiengebühren mussten sie sich in einem Restaurant hart erarbeiten. Sie fühlten sich wie die drei Musketiere und waren alle gleichermaßen in die Elite-Studentin Jacy Calloway verliebt. Nach dem Abschluss im Jahr 1971 trafen sie sich zu viert ein letztes Mal im Sommerhaus, das damals noch Lincolns Mutter gehörte, bevor Mickey als Soldat nach Vietnam gehen und die anderen ins Berufsleben einsteigen sollten. Doch kurz vor dem gemeinsamen Abschied verschwand Jacy spurlos und blieb verschollen. Bis zum jetzigen Wiedersehen, 44 Jahre später, hat keiner der drei Männer die Freundin vergessen, und die Frage, ob und wen von ihnen Jacy geliebt haben mochte, blieb unbeantwortet. Jacys rätselhaftes Verschwinden beherrscht die Gespräche der alt gewordenen Männer. In Rückblenden erfahren wir vom damaligen Wochenende, von der familiären Herkunft und dem weiteren Leben der drei Freunde, zunächst erzählt jeweils aus Lincolns und Teddys persönlicher Sicht. Erst zum Schluss erzählt Mickey seine eigene Geschichte und löst das Rätsel um diesen ungelösten Kriminalfall.
"Chances are", so der Titel der amerikanischen Romanausgabe, heißt auch ein alter Hit von Popsänger Johnny Mathis (84), den die jungen College-Absolventen an ihrem Abschiedsabend vor über vier Jahrzehnten auf der Insel gemeinsam und voller Erwartungen gesungen hatten. Und so handelt auch Russos Roman von den Chancen, die sich die vier vom künftigen Leben erhoffen. Doch die Träume zerplatzen und auch von der Freundschaft der drei Musketiere bleibt nur noch der Schein. Man ist sich nach jahrzehntelanger Trennung fremd geworden.
Der schildert mit der Erfahrung und Menschenkenntnis eines 70-Jährigen und mit der Kunst eines großartigen Erzählers in persönlichen Rückblenden der drei Männer deren weiteren Lebensweg, ihre teils krampfhaften Versuche, sich von den spießbürgerlichen Erwartungen der Eltern zu lösen und dank eigener Entscheidungskraft ein eigenständiges, ein besseres Leben zu führen, um dann doch als Erwachsene ähnliche Fehler wie die Eltern zu machen. Im fast zwanghaften Kampf, das Unabänderliche zu ändern, versäumen sie, die wenigen wirklichen Chancen für ein selbstbestimmtes Handeln zu ergreifen, um ihr Leben selbst zu bestimmen. Nach 44 Jahren zeigt jeder nur noch ein Wunschbild seiner selbst, ohne sich so anzuerkennen, wie er „jenseits der Erwartungen“ geworden ist.
Russos empfehlenswerter Roman „Jenseits der Erwartungen“ ist eine von Seite zu Seite immer spannender sich entwickelnde Geschichte, die schließlich in einem erschreckenden Finale endet und den Leser nachdenklich zurücklässt – nachdenklich über die eigene Person, den eigenen Lebensweg, die eigenen Erwartungen aus Jugendzeiten.