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Veröffentlicht am 18.01.2017

Überschrift „Nicht behindert, sondern „Leistungs-gewandelt“

Mein Blind Date mit dem Leben
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(Zitat nach S. 11) Sali bekommt gesagt: „…bei dir darf man nicht von Behinderung sprechen, sondern es ist eine Leistungswandlung.“

„Es muss funktionieren. Geht nicht, gibt es nicht.“ S. 82 Bei einem Schulreferat ...

(Zitat nach S. 11) Sali bekommt gesagt: „…bei dir darf man nicht von Behinderung sprechen, sondern es ist eine Leistungswandlung.“

„Es muss funktionieren. Geht nicht, gibt es nicht.“ S. 82 Bei einem Schulreferat kann der 15jährige Saliya genannt Sali seine eigenen Notizen nicht sehen, im Familienurlaub am gegenüberliegenden Berg praktisch nichts wahrnehmen – der Teenager ist bald beinahe blind wegen Netzhautablösung, ohne bekannte Ursache. Durch Einsatz von Mutter und Freunden, die ihm vorlesen, was er auswendig lernt, schafft er dennoch das Abitur, will in die Gastronomie. Als er 19jährig ins Berufsleben eintritt, verheimlicht er sein Augenproblem (denn: „… ich hatte nicht gelernt, behindert zu denken und mich behindern zu lassen.“ S. 38). Er lernt weiter auswendig, memorisiert Wege, zählt Schritte, übt besessen, fängt früher an, arbeitet länger und nutzt Tricks, stets mit nur wenigen Eingeweihten, von denen er vielen nur sagt, er könne nicht so gut sehen – speziell bei Frauen greift er lieber zur „Salami-Taktik“.

Ich hatte Saliya Kahawatte, Sohn einer deutschen Mutter und eines Vaters aus Sri Lanka, vor längerer Zeit in einem beeindruckenden Tnterview gesehen, daher musste ich dieses Buch unbedingt lesen. Beeindruckend schildert er in seiner Autobiographie seinen Werdegang mit all den Tricks. Doch da kommt kein „blinder Supermann“ – die Mehrarbeit und die Lügen, die letztlich an Selbstverleugnung grenzen, fordern ihren Tribut durch die permanente Überforderung – Saliya kompensiert erst mit Alkohol, später kommen weitere Probleme.

Ohne Selbstmitleid oder Selbstgefälligkeit schildet der inzwischen als erfolgreicher Coach arbeitende Autor seine Geschichte, von der sich viele Sätze einprägen, geradezu einbrennen. Sein Vorbild wirkt inspirierend – es gelingt Kahawatte, durch sein von Höhen und Tiefen bestimmtes Leben zu vermitteln, dass Selbstmitleid nicht hilft – dass aber Rückschläge und Verzweiflung durchaus menschlich sind, aber überwindbar.

Ernüchternd hingegen Salis Erfahrungen, sobald er doch nicht mehr selbstbestimmt sein Leben entscheidet, sondern sich sogenannten Beratern der verschiedenen Sozialsystem anvertraut „Ich fand es wahnsinnig traurig, zu erfahren, was aus Menschen wird, denen von Kindesbeinen an eingebläut wird, sie seien zu nichts zu gebrauchen. Wer immer nur hört: »Das kannst du nicht«, der ist irgendwann selbst davon überzeugt.“ S. 140 Dazu mahlen die behördlichen Mühlen fast immer langsam (was nicht nur eine Erfahrung von Blinden oder Sehbehinderten sein dürfte).

Fast am Rande gibt er wertvolle Tipps zum Umgang, von früher Ko-Edukation beziehungsweise Integration in Schule und Ausbildung bis hin zu alltäglichem: „Hat ein Sehender den Eindruck, dass ein Blinder vielleicht Hilfe braucht, dann gibt es genau drei Fragen, die angebracht sind: Brauchen Sie Hilfe? Welche Hilfe? Möchten Sie sich einhaken oder möchten Sie neben mir hergehen?“ S. 47 Er lässt mich als Sehende nachvollziehen mit Kommentaren wie „Seitdem ich den Augenfehler nicht mehr verheimliche, gehört die Frage »Was sehen Sie?« zu meinem Alltag.
….Deshalb verzichte ich auf die Gegenfrage, die sich mir aufdrängt: »Was hören Sie?« Ich weiß ja, dass andere weniger hören als ich, und würde gerne erfahren, was ihnen entgeht.“ S. 11.

Das fix und leicht zu lesende Buch empfehle ich als Gewinn für jeden und freue mich schon auf die Verfilmung, die am 26. Januar 2017 startet. Weiß jemand von einer Preview???

Veröffentlicht am 16.01.2017

Eiskalt

Minus 18 Grad
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„Die eigene Wohnung ist der häufigste Mordschauplatz. Dort ist man nicht nur am angreifbarsten, sondern auch allein, und es kann so gut wie alles geschehen, ohne dass es jemand mitbekommt.“ S. 70 Dieser ...

„Die eigene Wohnung ist der häufigste Mordschauplatz. Dort ist man nicht nur am angreifbarsten, sondern auch allein, und es kann so gut wie alles geschehen, ohne dass es jemand mitbekommt.“ S. 70 Dieser Gedankengang aus dem Buch gehört noch zu den Harmloseren.

Da wird die schwedische Kripochefin von Helsingborg beim Autofahren von einem anderen Fahrer angerempelt und liefert sich mit ihm daraufhin eine wilde Verfolgungsjagd, die für den anderen im Wasser endet – und aus dem Auto wird eine Leiche gezogen, die anscheinend sehr lange tiefgekühlt war. Dummerweise wurde der wohlhabende Tote von Zeugen vor kurzem quicklebendig gesehen – wie passt das zusammen? Parallel zu diesem immer verzwickteren Handlungsstrang kommt ein zweiter im auf der anderen Seite des Öresunds in Dänemark liegenden Helsingør. Dort wurde ein obdachloser Junkie mit schwersten Verletzungen gefunden, nachdem eine junge ebenfalls süchtige Frau mit blutbeschmiertem Oberkörper auf der Straße herumgeirrt war.

Während die schwedischen Ermittler in den eigenen Reihen zusätzliche Sorgen haben wie Alkoholismus, schwierige Teenager-Kinder und Eheprobleme, die sich im weiteren Verlauf als noch fast harmlosere Nöte herausstellen werden, kommt es bei ihren Nachforschungen bald zu einer Eskalation. Ihre dänischen Kollegen haben hingegen zu kämpfen mit missgünstigen Vorgesetzten, inkompetenten Kollegen und den Tiefen des Darknet. Gibt es Zusammenhänge?

Die Lektüre von „Minus 18°“ war ein Genuss. Die Grundidee(n) des Krimis, der sich in weiten Strecken eher wie ein Thriller liest, war(en) einmal etwas anderes, jenseits der ausgetretenen Pfade. Das Erschreckende daran ist, dass beide kriminelle Grund-Handlungen realistisch sind. Virtuos jongliert Anhem mit den verschiedenen Fäden und schafft es, alles entwirrt zu bekommen. Ich suche ja wirklich gerne nach dem einen Widerspruch, habe bei zwei für mich Fragen aufwerfenden Punkten zurück- und quergelesen – und musste kapitulieren: Schlüssig durchkonstruiert. Auch für das Thema „beschädigter Ermittler“ fand der Autor angenehme Neu-Interpretationen.

Der Roman ist Stefan Anhems dritter mit dem gleichen Personal, für mich der erste, was wider Erwarten angesichts der anfangs sehr nebulösen Andeutungen zu Therapiesitzungen von Theodor sehr gut lesbar war. Anhem verweist auf die Vorgänger und löst häppchenweise so viel auf, wie unbedingt nötig, was gut ist für Neu-Einsteiger – er wiederholt nicht ganze Vor-Bände, was für „Alte Hasen“ sicher langweilig wäre; ein sehr guter Kompromiss (der, ja, natürlich durchaus „anfixt“ zum Weiterlesen). Und die Liste musikalischer Anspielungen hat dieses Mal besondere Freude gemacht.

Veröffentlicht am 11.01.2017

Das perfekte Buch für die Zeit NACH den Plätzchen, Braten…

Easy. Überraschend. Low Carb.
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Low Carb haben die meisten schon gehört – prinzipiell erwartet den Esser eine speziellere Form der vielen Ausprägungen von Trennkost (älter: Atkins, neuer: Schlank im Schlaf). Low Carb heißt dann – möglichst ...

Low Carb haben die meisten schon gehört – prinzipiell erwartet den Esser eine speziellere Form der vielen Ausprägungen von Trennkost (älter: Atkins, neuer: Schlank im Schlaf). Low Carb heißt dann – möglichst nie/wenig Kohlenhydrate.
LCHF kannte ich noch nicht – VIEL Fett essen? Echt jetzt? Ketogene Diät ist ein anderer Name. Durch viel Fett soll die Sättigung verbessert werden. Durch Tricks verspricht die Autorin dieses Buchs einen guten Ersatz von Kohlehydraten mit Gerichten wie Spätzle, Knödeln, Pizzaböden etc. Letzteres liegt mir sehr.

Buch:
Das Buch ist hochwertig gestaltet (riecht toll!), sehr großformatig und mit Schutzumschlag und wirkt fast wie ein Bildband. Dabei sind Rezepte meist auf einer Doppelseite (Ausnahme: einige der kleineren Sachen wie Aufstriche teilen sich die Doppelseite) dargestellt – sehr praktisch, da man so nicht mit klebrigen Fingern blättern muss. Das Format ist mir generell eher etwas zu groß für ein Kochbuch, da kaum für eine Buchstütze geeignet.

Die Erklärungen zum Konzept sind im Buch knapp gehalten, es ist mehr ein Praxisbuch. Zur Langzeitwirkung kann ich noch nichts sagen, ich hinterfrage schon die generellen Verteufelungen bestimmter Lebensmittel je nach Mode. Für kürzere Aktionen jedoch erscheint mir das Konzept plausibel. Ballaststoffe sollte ich über Gemüse ausreichend erhalten.

Zutaten
Die Zutaten bekam ich einfach – man sollte allerdings grob vorplanen.
Spezialzutaten:
Kaufland führt seit neuestem Konjak-Nudeln. Chia (die dunklen) und Leinsamen habe ich bei Kaufland, Rewe und tegut gesehen – mahlen kann ich selbst (es gibt wirklich günstig Handmühlen für den Einstieg, teils Aufsätze für Küchenmaschinen – ungemahlene Produkte sind länger haltbar). Für den Rest bin ich im Bioladen fündig geworden – für Leute aus der Region als Tipp: Das Paradieschen in Gelnhausen liefert auch
Das Buch setzt gemahlene Mandeln (günstig, überall erhältlich, fettreich) wohl gleich mit Mandelmehl (dem, was übrig bleibt, wenn man das Öl aus den Mandeln presst - fettarm, teurer, eher nur im Bioladen). „Spezialzutaten“ werden alle in eher geringeren Mengen eingesetzt, was für mich den Preis relativiert, und sind meist gut haltbar. Dafür sind die „sonstigen Zutaten“ eher günstiger: andere Diäten wünschen Putenfleisch, viel Lachs, Rindfleisch, teurer als z.B. Schwein. Dazu fettarme Produkte, die häufig nur „funktionieren“ durch viel Wasser, Bindemittel und Auszugsverfahren. Nicht so hier: Doppelrahmfrischkäse, gemischtes Hack, Fetakäse usw. Das gibt’s überall und günstiger als die low fat – Varianten.
Milch wird nicht wegen des Milchzuckers abgelehnt (es gibt wenige, aber doch sehr aussagekräftige Internetseiten zu verschieden strengen Auslegungen des Konzepts - teils wohl bedingt durch unterschiedliche Reagibilität der LCHF'ler auf Kohlenhydrat-Anteile im Essen).

Rezepte
Die allgemeine Gestaltung finde ich toll – „Beilage“ und „Hauptzutat“ sind separat mit den Nährwerten deklariert, so dass man leichter tauschen kann, dafür finden sich auch Vorschläge. Während low carb Diäten sehr fleischlastig sind, funktioniert LCHF gerne auch vegetarisch LC war mir da zu viel des Guten, toll hier. Gleich die ersten Versuche gelingen und sind schmackhaft – die mediterranen Frikadellen überzeugten auch den Diät-feindlichen Mann (einfach Rezept lesen lassen: wieso Diät? Butterschmalz? und Fetakäse vollfett?), der Sellerie mit Knobi dazu ist lecker. Lasagne bzw. die Soße – ein Genuss. Und Brote, die auch so aussehen.
Ich werde wohl einiges Vorkochen /-backen und einfrieren zur zeitlichen Ersparnis.

Und jetzt beginnt der längerfristige Praxistest…

Veröffentlicht am 04.02.2017

Soghaft, beeindruckend, fesselnd - „im Kampf gegen den Rest der Welt“

Die Geschichte eines neuen Namens
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(„…im Kampf gegen den Rest der Welt…“ S. 360) befinden sich die Mädchen Elena „Lenù“ und Raffaella „Lila“ auch im zweiten Band der auf vier Bände angelegten Saga nach „Meine geniale Freundin“. Um es kurz ...

(„…im Kampf gegen den Rest der Welt…“ S. 360) befinden sich die Mädchen Elena „Lenù“ und Raffaella „Lila“ auch im zweiten Band der auf vier Bände angelegten Saga nach „Meine geniale Freundin“. Um es kurz zu sagen – der Hype des „#FerranteFever“ trägt. Ich habe den ersten Band gerne gelesen, erst mit diesem zweiten jedoch bin ich dem Fieber erlegen. Wie das, warum die unterschiedliche Wertung? Nun, aus verschiedenen Gründen.

Ich hatte den ersten Band noch mit dem ähnlich für Deutschland zur gleichen Zeit angelegten „Das verborgene Wort“ von Ulla Hahn verglichen, da es in beiden um Mädchen aus der Arbeiterklasse geht, die mit ihrem Interesse für Bildung sowohl unter den Beschränkungen gegenüber ihrer Herkunft als auch gegenüber ihrem Geschlecht zu kämpfen haben; Beschränkungen, die sowohl in den Köpfen ihres Herkunftsmilieus herrschen, als auch bei denen, für die Bildung selbstverständlich ist, sowie rein in der schieren Möglichkeit des Zugangs: wo Bildung kostspielig ist, wo Bücher, Brillen, Schulgeld, selbst ein einziger Koffer für den Umzug an die Universität weit über den üblichen Ausgaben liegen, wo Umgangsformen schlicht andere sind, blieb sie vielen verwehrt.

Was ist neu, was kann der zweite Band mehr? Vieles. Elena Ferrante gelingt es darzustellen, inwieweit selbst Geld, Ehrgeiz und Intelligenz allein nicht einen sozialen Aufstieg ermöglichen können. Wer von Hause aus keine Theaterbesuche kennt, nicht über weiterführende Ausbildungsmöglichkeiten informiert ist, für wen das Wort „Fakultät“ ein so großes Fremdwort ist, dass eine Entscheidung über ein Studium schon allein an der Entscheidung für eine Ausrichtung scheitert, der wird unweigerlich scheitern. Es lässt tief blicken, als Elena einen Vortrag besucht – so ungewohnt für sie ist das, dass ihr die Situation wie eine Unterrichtsstunde für Erwachsene erscheint. Ungeachtet ihres eigenen Fleißes wird dargestellt, wie eine Weiterführung letztlich nur dank verschiedener Gönner gelingen kann.

Auch zum Wettkampf zwischen Elena und Lila, der mir im ersten Band meist seltsam erschien, gibt es hier auch die andere Seite der Medaille zu sehen – während „Meine geniale Freundin“ nur mit den seltsamen Minderwertigkeitskomplexen von Lenù aufwartete, kann man im zweiten Band auch die Sicht von Lila erfahren, darf begreifen, wo ihre Motivation liegt, so Lila zu ihren Aktivitäten: „Vor allem war es eine Möglichkeit..., dir zu beweisen, dass ich etwas gut konnte, auch wenn ich nicht mehr zur Schule ging.“ S. 186 Die Darstellung der Freundinnen wirkt ausgewogener. War mir zuletzt Elena mit ihrem Neid fast unsympathisch, überwiegt jetzt die Wirkung, dass sie von der Autorin nur völlig distanzlos geschildert wird, ohne das Bedürfnis, gefallen zu wollen, sondern als realistische Person.

„Die Geschichte eines neuen Namens“ beschreibt zudem ernüchternd das für die Zeit gängige Rollenverständnis eindringlich: „Wir waren mit der Vorstellung aufgewachsen, dass kein Fremder uns anrühren durfte, dass aber unser Vater, unser Verlobter, unser Ehemann uns ohrfeigen durfte, wann immer er wollte, aus Liebe, um uns zu erziehen und uns zu bessern.“ S. 64 Prügel, Vergewaltigung, die Unterwerfung unter den Willen des Ehemannes erscheinen als völlig normal – wer sich „anständig“ benimmt, habe ja nichts zu befürchten. Die Mädchen, besonders Elena, sind ganz eindeutig Kinder ihrer Zeit, so dass sogar Elena genau diese Art von Ehe bei ihrer Freundin Lila beneidet: „Sie [Lila] wollte mich tatsächlich auf die Rolle von einer, die ständig über Büchern hockt, festlegen, während sie dagegen Geld hatte, schöne Kleider, eine Wohnung, einen Fernseher, ein Auto, sich alles nahm, sich alles leistete“. S. 119

Elena begreift den Unterschied zwischen ihr und Lila: „Ich blieb zurück, wartend. Sie dagegen nahm sich die Dinge, wollte sie wirklich haben…“ S. 379 – erst gegen Ende des Buches wird hier für beide junge Frauen eine Entwicklung deutlich. Gespannt warte ich auf den nächsten Band der Saga, vor allem dank der von Ferrrante ausgelegten Spuren zu zukünftigen Entwicklungen, Lila wolle das „auslöschen“, was ihr an ihr nicht gefällt, an dem Ich, in das andere sie hinein nötigten.

Und, ernsthaft – was kann ein Leser mehr wollen als Neuigkeiten über eine Figur wie Lila, von der geschrieben wird, sie „…versenkte sich bis tief in die Nacht in Romane, Zeitschriften und Zeitungen. Diese Sucht hatte sie erneut gepackt, als interessiere das wahre Leben sie nicht mehr.“ S. 450

Veröffentlicht am 10.01.2017

Ist er nun langschädelig oder rundköpfig? (AC 4)

Der Mann im braunen Anzug
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Damit kennt sie sich aus, die junge Anne Beddingfield, als Tochter eines kürzlich verarmt gestorbenen zerstreuten Professors, für den die Geschichte der Altsteinzeit alles war.

Ich setze meine chronologische ...

Damit kennt sie sich aus, die junge Anne Beddingfield, als Tochter eines kürzlich verarmt gestorbenen zerstreuten Professors, für den die Geschichte der Altsteinzeit alles war.

Ich setze meine chronologische Lektüre der Agatha Christie – Romane fort mit
O: The Man in the Brown Suit, 1924. Meine Auflage ist von 1983 aus dem Scherz Verlag in der Übersetzung von Margret Haas und hat ein anderes Cover, siehe Foto.
Es ist das vierte Buch der Autorin, das Personal des Bandes taucht später nicht wieder auf mit Ausnahme von Oberst Race, der in „Mit offenen Karten“ („Cards on the table“, AC 20, Poirot 13), „Blausäure“ („Sparkling Cyanide“, AC 36) und „Der Tod auf dem Nil“ („Death on the Nile“, AC 22, Poirot) wieder erscheint (ein häufigerer Kunstgriff der Autorin).

Wer die Rezensionen verfolgt, möge mir bitte hinsichtlich der chronologischen Abfolge gewisse Freiheiten verzeihen – die Autorin hat ihre Reihen mit den Detektiven, zu denen es mehrere Bände gibt, „wild durcheinander“ geschrieben und teils Romane eingestreut mit Hauptpersonen, die kein zweites Mal ermitteln. Ich erlaube mir da gewisse Sprünge, behalte aber die Chronologie innerhalb der Reihen bei. Schuldig im Sinne der Anklage – ich habe eine besondere Schwäche für die in der Öffentlichkeit eher weniger bekannten „Ermittler“.

Die Handlung ist, wie auch im bereits beschreibenen „Ein gefährlicher Gegner“, kein „Whodunnit“, sondern wieder eher eine Mischung aus Abenteuer- und Spionageroman, ähnlich Filmen der Reihe „Der dünne Mann“ oder einem Cary-Grant-Hitchcock-Film wie „Verdacht“.

Christie lässt das Buch mit einem Prolog in bester Hollywood-Manier starten, in dem zwei Personen mit – natürlich – russischen Namen aufeinandertreffen. Beide unterhalten sich über einen „Oberst“, der wie ein tüchtiger Geschäftsmann einen Verbrecherring unterhalte. Nur ein Mann könne den Ring enttarnen, der sei jedoch in Südafrika gestorben.

Ab da ist das Buch aus der Ich-Perspektive Anne Beddingfields geschrieben, im Wechsel mit Auszügen des ihr zur Verfügung gestellten Tagebuchs von Sir Eustace Pedler: Nach dem Tod ihres Vaters sehnt sich die junge Frau nach Romantik und Abenteuer und sucht ihr Glück in der Hauptstadt. Auf dem Bahnsteig in London wird Anne Zeugin, wie ein Mann erschrickt, auf die Gleise stürzt und so zu Tode kommt. Ein anderer Mann mit einem braunen Anzug bietet sich als Arzt an. Im Weggehen verliert er einen mysteriösen Zettel: „1 7 .1 22 Kilmorden Castle“. Etwas an der Situation mutet Anne im Nachhinein seltsam an – würde ein Arzt sich genau so verhalten? Leider weiß sie der Polizei nur eines zu dem „Mann im braunen Anzug“ zu berichten: „Seine Kopfform war ausgesprochen brachyzephal.“ S. 23 Die Handlungsorte wechseln von Annes kleinem Dorf nach London, dann über ein Schiff nach Südafrika und Rhodesien, heute Zimbabwe, immer auf der Suche nach dem Mann im braunen Anzug und dem geheimnisvollen „Oberst“. Zu den bemerkenswerten Vorkommnissen der Handlung gehören verschwundene Diamanten, diverse Heiratsanträge, Verkleidungskünstler, ein Mordverdächtiger, in den sich die weibliche Hauptfigur rettungslos verliebt, ein mutmaßlicher Geheimdienstmann, diverse merkwürdige Sekretäre und Sekretärinnen, wohlhabende Damen und Herren der Gesellschaft,….Warum eigentlich hat das niemand mit Cary Grant verfilmt?

Trivia: Interessant finde ich folgende biographische Bezüge https://de.wikipedia.org/wiki/DerMannimbraunenAnzug
„Das Buch hat einige Parallelen zu Ereignissen auf der Weltreise, die Christie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann Archie Christie unter der Leitung von dessen ehemaligen Lehrer vom Clifton College, Major E. A. Belcher, unternommen hatte. Belcher war im Auftrag der britischen Regierung unterwegs, um für die British Empire Exhibition 1924 zu werben und hatte Archibald Christie als Assistenten engagiert. Die Reise dauerte vom 20. Januar 1922 bis zum 1. Dezember 1922. Auf dieser Reise schrieb Christie die meisten der Kurzgeschichten, die später als Poirot rechnet ab und Die Arbeiten des Herkules[6] veröffentlicht wurden. Vor der Reise sind die Christies zum Dinner bei Belcher eingeladen. Er schlägt ihr vor, einen Kriminalroman zu schreiben, der in seinem Haus, Mill House, spielt und den Romantitel „Das Geheimnis von Mill House“ tragen sollte - und er bestand auch darauf. Belcher ist die Inspiration für die zentrale Figur des Sir Eustace Pedler, der Titel wurde aber auf Wunsch von Ehemann Archie geändert.[7] Auch das Mill House tritt in Erscheinung, es ist aber nach Marlow verschoben.
Christie fand Belcher „als Person kindisch, bedeutend und irgendwie manisch: ‚Niemals, bis heute, konnte ich mich von einer schleichenden Vorliebe für Sir Eustace losmachen‘, schrieb Christie über den fiktionalen Belcher alias Sir Eustace, dem sie mit „Der Mann im brauen Anzug“ ein Denkmal setzte. Ich weiß, das ist verwerflich, aber es ist so.“[8] Auch aus Annes Äußerungen am Ende des Romans kann man Christies ambivalentes Verhältnis zur Hauptfigur erkennen.“


Einige Bemerkungen im Zuge der Handlung veranlassen mich zu gewissen Schlussfolgerungen, so leiden – auffällig? - Poirot wie auch Anne Beddingfield an Seekrankheit. Einige Kommentare verleiten mich zu Rückschlüssen auf die Autorin, mindestens zum Schmunzeln, so „Es gibt kein besseres Mittel als geheuchelte Teilnahmslosigkeit, um einen Menschen zum Reden zu bringen.“ S. 27 oder“Sanfte Männer sind fast immer dickköpfig.” S. 42

Zeitgeist:
Kleidung wird noch bevorzugt vom Schneider gefertigt und nicht im Kaufhaus erworben, Zugang zu einer Arbeitsstelle bekommt man über eine auf eine Visitenkarte gekritzelte Empfehlung und die Theorie eines Ursprungs der Menschheit in Afrika gilt als vorsintflutlich. Eine Schiffskarte erster Klasse von Großbritannien nach Kapstadt kostet 87 Pfund.
Auch wenn Anne letztendlich alles im Griff, sieht sie sich doch gewissen Voreinstellungen gegenüber, so sagt ihr der Inspektor: „ Junge Damen sind eben romantisch veranlagt, ich weiß.“ S. 21. Der Oberst ist „abergläubisch wie eine Frau“ S. 6, als Kriminal-Reporterin zu arbeiten ist „unweiblich“ S. 99. Und Anne selbst sagt „Ich werde nie heiraten ohne die ganz große Liebe – und es gibt nichts Schöneres für eine Frau, als alles zu tun für den Mann, den sie liebt. Je eigenwilliger sie sonst ist, desto glücklicher wird sie dabei sein.“ S. 111 Jaaa, das Buch erschien 1924, nicht vergessen! Dafür kann man in Kapstadt sein Gepäck in einen Zug stellen und einfach wieder aussteigen: „Kümmere dich nicht um dein Gepäck; das kannst du morgen telegrafisch zurückbeordern.“ S 91 So (!) romantisch veranlagt, mein unbeaufsichtigtes Gepäck irgendwo auf der Welt wieder zurück zu bekommen, wäre ich dann auch gerne wieder. Und, einmal ehrlich – wenn nachts auf einem Schiff ein verletzter Mann an meine Zimmertür klopft mit der Bitte, ihn zu verstecken… (außer, wie gesagt, Cary Grant natürlich!).