Was passiert eigentlich in und mit den vielen Urlaubsorten, wenn wir TouristInnen wieder weg sind? Gehören sie dann wieder den Einheimischen? Was machen sie dort, wenn wir nicht mehr da sind? Ist das Leben ...
Was passiert eigentlich in und mit den vielen Urlaubsorten, wenn wir TouristInnen wieder weg sind? Gehören sie dann wieder den Einheimischen? Was machen sie dort, wenn wir nicht mehr da sind? Ist das Leben ein anderes als in der Hochsaison? Wäre es nicht spannend, einfach mal länger zu bleiben und zu schauen, was passiert?
Nun, wenn man der Geschichte glaubt, die Marie NDiaye in „Ein Tag zu lang“ (aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer) erzählt, sollte man Ansinnen dieser Art tunlichst unterlassen. Der Protagonist Herman, Lehrer aus Paris, verpasst die pünktliche Abreise aus seinem Ferienort in der französischen Provinz. Anstatt sich wie üblich am 31. August auf den Rückweg zu begeben, bleibt er einen Tag zu lang – seine Frau und sein Sohn sind verschwunden, eine Heimreise ohne die beiden ist selbstverständlich undenkbar. Ein Tag zu lang – und das Wetter ändert sich schlagartig. Ein Tag zu lang – und der vertraut gewordene Ferienort ist Herman gänzlich fremd. Ein Tag zu lang – und seine Mitmenschen scheinen wie ausgewechselt. Ein Tag zu lang – und die Welt ist eine andere.
„Ein Tag zu lang“ ist eine buchstäblich fantastische Reise hinter die Kulissen und Fassaden der Ferientraumwelt: teils grotesk, teils surreal, maximal lesenswert.
Wie man dem Blurb entnehmen kann, schrieb die "Sunday Times" über diesen Roman:
„‚Queenie‘ wurde die ‚Schwarze Bridget Jones‘ genannt. Aber dieses Buch ist noch viel besser.“
Liest man den Klappentext, ...
Wie man dem Blurb entnehmen kann, schrieb die "Sunday Times" über diesen Roman:
„‚Queenie‘ wurde die ‚Schwarze Bridget Jones‘ genannt. Aber dieses Buch ist noch viel besser.“
Liest man den Klappentext, drängt sich der Vergleich mit der lustigen, chaotischen, liebenswerten und etwas verpeilten Bridget tatsächlich auf:
„Queenie ist ein Naturtalent. Darin, sich Ärger einzuhandeln. Zum Beispiel in der Zeitungsredaktion, wo sie die Zeit vertrödelt, anstatt endlich über die Themen zu schreiben, die ihr wichtig sind: Black Lives Matter, Feminismus, seelische Gesundheit. Oder mit ihrem braven weißen Boyfriend, der sie nicht gegen seinen (»Er hat’s nicht so gemeint«) rassistischen Onkel verteidigt. Als die Beziehung zerbricht, sucht Queenie Trost in der digitalen Datinghölle und trifft eine falsche Entscheidung nach der anderen. Die Welt schaut ihr zufrieden dabei zu: ist denn von jungen (Schwarzen) Frauen anderes zu erwarten? Eben. Erst als man schon kaum mehr hinschauen kann, stellt sich Queenie den wichtigen Fragen: Wie kann ich die Welt zu einem besseren, gerechteren Ort machen? Und mich in ihr ein bisschen glücklicher?“
Ich muss sagen: Selten hat eine Inhaltsangabe – nicht zuletzt in ihrem Tonfall – den Wesenskern eines Buches so verfehlt wie diese. Ja, es gibt die eine oder andere Parallele zu Bridget: Queenie ist Single, Queenie hat (hauptsächlich doofe) Dates, Queenie erlebt manche Turbulenzen im Job, setzt sich mit ihrer Familie auseinander und hat sehr liebe Freundinnen, die ihr als Anker in der Not dienen. Und zwischenzeitlich lässt die Story einen auch ein wenig Schmunzeln (insbesondere, wenn es um Queenies Familie geht). Doch nahezu alles, was bei Bridget Jones kurios, witzig oder spaßig-peinlich ist, ist bei Queenie bestürzend, selbstzerstörerisch, verheerend. Denn Queenie ist seit ihrer Kindheit traumatisiert und Queenie ist, im Gegensatz zu Bridget Jones, Schwarz. Und wer meint, dass dies doch keinen Unterschied macht, wird während der Lektüre bald eines Besseren belehrt. Das beginnt bei der wohlmeinenden Schwärmerei der weißen Großmutter ihres weißen Freundes, was für schöne Kinder sie einst haben würden:
„Deine hübsche, glatte braune Haut, Queenie, aber heller. Wie ein schöner Milchkaffee. Nicht zu dunkel“ Und Toms grüne Augen. Dein dichtes Haar, Queenie, diese dunklen Wimpern, aber Toms hübsche gerade Nase.“
... Und nein, außer Queenie ist keiner der anderen Anwesenden schockiert. Was auch immer Queenie tut, was auch immer sie sagt – alles wird unter dem Gesichtspunkt ihrer Hautfarbe (meist tendenziell negativ) konnotiert. Denn, wie Queenie erklärt:
„Ich kann nicht aufwachen und keine Schwarze Frau mehr sein […]. Ich kann nicht einen Raum betreten und keine Schwarze Frau sein […]. Im Bus, in der U-Bahn, bei der Arbeit, in der Kantine. Laut, auffällig, frech, wütend, vorlaut, streitlustig, bitchy.“
„Queenie“ ist – trotz und Gott sei Dank entgegen des unsäglichen Klappentextes – einer der intensivsten und wichtigsten Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Ganz große Leseempfehlung!
„Da Erinnerungen und Sinneseindrücke so ungewiß sind, so vielen Einflüssen unterliegen, beziehen wir uns, um uns die Realität von Ereignissen zu beweisen, stets auf eine parallele Realität – nennen wir ...
„Da Erinnerungen und Sinneseindrücke so ungewiß sind, so vielen Einflüssen unterliegen, beziehen wir uns, um uns die Realität von Ereignissen zu beweisen, stets auf eine parallele Realität – nennen wir sie Meta-Realität. Inwieweit Tatsachen, die wir als solche anerkennen, wirklich so sind, wie sie uns erscheinen, und inwieweit sie nur darum Tatsachen sind, weil wir sie zu solchen erklären, läßt sich unmöglich entscheiden.“ (S. 206)
Was ist wirklich? Was ist Einbildung? Ein Traum? Eine Sinnestäuschung? Das sind die Fragen, die ich mir, wie so oft während und nach der Lektüre eines Romans von Haruki Murakami, auch bei diesem Buch gestellt habe. Und darum geht es:
Hajime ist in der fünften Klasse, als er Shimamoto zum ersten Mal sieht. Sie ist klug und hübsch, und sie ist ebenso Einzelkind wie Hajime, das hebt die zwei eklatant von allen KlassenkameradInnen ab. Die Kinder freunden sich an, verbringen ihre Freizeit miteinander, Hajime ist von diesem außergewöhnlichen Mädchen, das ein Bein nachzieht, fasziniert, und ja, er ist auch ein bisschen verliebt. Als beide auf unterschiedliche weiterführende Schulen wechseln, bricht der Kontakt ab, sie verlieren einander aus den Augen. Doch wirklich vergessen kann Hajime Shimamoto nicht. Daran hat sich auch nach zwanzig Jahren nichts geändert. Hajime hat mittlerweile einer anderen das Herz gebrochen und wieder eine andere geheiratet. Er liebt seine Frau, seine Kinder, seinen Job. Alles könnte perfekt sein. Doch dann taucht eines Abends Shimamoto in Hajimes Jazz-Club auf …
Shimamoto besucht Hajime in unregelmäßigen Abständen; stets regnet es, stets ist sie allein, stets höchst elegant gekleidet: eine beinahe überirdische Erscheinung. Sie gibt so gut wie nichts von sich preis, doch Hajime kann sich ihr immer weniger entziehen, er ist fasziniert, ja, gebannt von seiner einstigen Jugendliebe. Doch je häufiger Shimamoto Hajime besucht, umso mehr fragte ich mich, ob es sich tatsächlich um Besuche – oder nicht vielmehr um eine Heimsuchung handelt. Murakami versteht es meisterhaft, Realitätsebenen zu verschieben. Was scheinbar offensichtlich ist, wird mit fortschreitender Lektüre diffus und obskur, bis man sich am Ende fragt: Was ist wirklich ‚wirklich‘?
Den Inhalt dieses Romans so zusammenzufassen, dass man ihm gerecht wird, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Es ist ein bisschen Coming-out und ganz viel ...
„Mensch zu sein, ist ein Vollzeitjob, Max.“
Den Inhalt dieses Romans so zusammenzufassen, dass man ihm gerecht wird, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Es ist ein bisschen Coming-out und ganz viel Coming-of-Age, es handelt von Freundschaft und Einsamkeit, von Liebe und Trennung. Es geht um Kunst und Literatur, Theater und Film, um Selbstsuche, Selbstfindung, Selbstausdruck. Und es geht um nationale Traumata und individuelle Bewältigungsversuche, all das dicht beschrieben und geschrieben auf über 1200 Seiten.
Ich habe eine Weile gebraucht, um in das Buch hineinzufinden und mich auf die Geschichte einzulassen. Doch es hat sich mehr als gelohnt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt während einer Romanlektüre so viel nebenher recherchiert habe (was allerdings auch meinen bis dato sehr überschaubaren Kenntnissen über den Vietnam-Krieg geschuldet war).
Johan Harstad schreibt detailliert und ausführlich, ohne dass ich es je als Länge oder Redundanz empfunden hätte. Die Geschichte, die er erzählt, ist durchzogen von Melancholie, dabei doch stets von einer unterschwelligen Hoffnung getragen, denn:
„Es gibt keine Helden; es gibt nur Leute, die sich abmühen, Leute, die versuchen, ihr Bestes zu tun.“
Max, Mischa und die Tet-Offensive (aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein) ist eine intensive, lohnenswerte Lektüre und schon jetzt eines meiner Jahres-Highlights 2020.
Es ist ein bisschen Sachbuch, ein bisschen Biografie, ein bisschen Philosophiegeschichte – doch ist das beschriebene Geschehen so unglaublich und so wunderbar erzählt, dass es sich fast wie ein Roman liest.
Der ...
Es ist ein bisschen Sachbuch, ein bisschen Biografie, ein bisschen Philosophiegeschichte – doch ist das beschriebene Geschehen so unglaublich und so wunderbar erzählt, dass es sich fast wie ein Roman liest.
Der Autor John Kaag ist Professor für Philosophie an der University of Massachusetts, Lowell, und was er erlebt hat, bietet wahrlich den Stoff für einen Roman. Kaag stößt bei einer Reise ins Hinterland von New Hampshire auf die in Vergessenheit geratene Bibliothek des großen amerikanischen Denkers William Ernest Hockning. In einem Wald auf dem Grundstück des Hockney-Anwesens, am A… der Welt. Dieser Fund erweist sich als wahrer Schatz, wenngleich einer, der jahrzehntelang unter alles andere als konservatorisch sinnvollen Umständen vor sich hin moderte: handgeschriebene Notizen von Walt Whitman. Bücher, die nachweislich Robert Frost und Ralph Waldo Emerson gehörten. Briefwechsel.
Die Erbinnen, drei betagte Schwestern, haben sich zwar redlich bemüht, die Bibliothek zu erhalten, doch aus zeitlichen und gesundheitlichen Gründen sowie aus Mangel an Fachkenntnis gedieh dieser Versuch nicht besonders gut. Sie gestatten Kaag, die Bücher zu sichten, zu restaurieren, zu katalogisieren und sich mit ihnen zu befassen. Und so stürzt sich der junge Philosophieprofessor – der sich zu jenem Zeitpunkt selbst in einer Krise befindet – in ein wahres Abenteuer.
„Das Bücherhaus“ ist ein ganz wunderbares Buch. Kaag nimmt uns nicht nur auf seine philosophische Reise mit, sondern er verquickt seine Erkenntnisse mit eigenen Erlebnissen bzw. eigenen biografischen Details und stellt sie in einen geisteswissenschaftlichen Kontext. Liebhaber*innen der amerikanischen Philosophie werden ihre Freude daran haben, doch auch für Laien wie mich, die allenfalls Interesse, aber keine tieferen Kenntnisse besitzen, bietet dieses Buch eine erkenntnisreiche und zudem charmante Lektüre. Mir persönlich wurde wieder einmal bewusst, auf wie viele Fragen die Philosophie Antworten liefert. Auch in der jetzigen Zeit:
„Die angemessene Reaktion auf unsere existenzielle Situation ist nicht, zumindest nicht für [William] James, absolute Verzweiflung oder Selbstmord, sondern der immer neue brennende, sehnsuchtsvolle Versuch, etwas Gutes aus den gefährlichen Optionen des Lebens zu machen.“ (S. 19)