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Veröffentlicht am 21.06.2020

Nicht sterben, nur verschwinden

Tage ohne Hunger
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„Der zweifelnde Gesichtsausdruck scheint Pflicht zu sein. Das soll sie ruhig aushalten, es kann ihr nicht schaden, ihren verblüfften und mitleidigen Blick auf ihr kränkliches Aussehen zu ertragen – ein ...

„Der zweifelnde Gesichtsausdruck scheint Pflicht zu sein. Das soll sie ruhig aushalten, es kann ihr nicht schaden, ihren verblüfften und mitleidigen Blick auf ihr kränkliches Aussehen zu ertragen – ein bisschen vernünftiger Realitätssinn, angemessen verpackt, der die Dinge wieder zurechtrückt.“

Inhalt

Laure hat sich seelisch und emotional komplett in sich zurückgezogen, menschliche Nähe lässt sie nicht mehr zu – warum auch? Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie ihren Körper endgültig zum Schweigen, zum Verhungern gebracht hat, die Zwangseinweisung in das Krankenhaus mit künstlicher Ernährung über eine Magensonde ist eigentlich nicht das, was sie vorhatte. Doch Dr. Brunel begegnet ihr gerade noch im letzten möglichen Augenblick vor der Katastrophe und nimmt sich ihrer an. Er holt sie zurück aus dem Gedankenkarussel, bei dem jede Nahrungsaufnahme einem Verbrechen gleichkommt und jedes gewonnene Kilo ein schwerer Schicksalsschlag ist. Nun muss sie sich mit dem Gedanken arrangieren, dass sie erst wieder nach Hause kann, wenn sie die magische Gewichtsgrenze von 50 kg erreicht hat – doch bis dahin ist es ein weiter, beschwerlicher Weg …

Meinung

Bisher konnte mich jedes Buch der französischen Autorin Delphine de Vigan ansprechen, so dass ich beschlossen habe, mich den noch fehlenden Büchern in meiner Bibliothek zu widmen, um ihr Gesamtwerk kennenzulernen und die Thematik Magersucht kenne ich zudem noch aus eigener Perspektive, nachdem eine gute Freundin von mir in ihrer Jugend ebenfalls im Krankenhaus zwangsernährt wurde.

In diesem Roman begibt sich der Leser tief hinein in das Gedankengut einer gestörten Seele, für die alles Schöne aus dem Leben verschwunden ist. Der Körper selbst hat keinen Wert mehr, er ist nur Ausdruck für das andauernde Verkümmern einer Seele und auch die Krankheit selbst hat kaum etwas mit einem angestrebten Schönheitsideal zu tun, denn es geht nicht um die Kilos an sich, sondern darum, die Kontrolle zu behalten und den Zeiger der Waage mittels Willenskraft immer weiter in die Knie zu zwingen. Was zunächst harmlos mit dem profanen Wunsch beginnt etwas weniger Gewicht zu haben, steigert sich in einen Wahn bei dem die Gesundheit ebenso wie die Schönheit schon lange auf der Strecke geblieben sind.

Laure durchläuft nun in der Gegenwart nicht nur die Schmerzen, die mit einer erzwungenen Kalorienzufuhr verbunden sind, sondern auch das Dilemma, das ihr Körper voller Dankbarkeit annimmt, was ihre Seele schon längst aufgegeben hat, die Chance auf ein mehr an Kraft und Lebensqualität. Bisher wollte Laure zwar nicht wirklich sterben (als logische Konsequenz ihrer Anorexie wäre das zwar denkbar, es gibt aber deutlich effektivere Wege), nein sie möchte aus dieser Welt verschwinden, ganz langsam, ganz bewusst und deutlich sichtbar für alle anderen – weil sie nichts mehr hält, für das es sich zu leben lohnt.

Erneut gelingt es der Autorin ein für mich erschütterndes Beispiel für vergeudete Lebenszeit greifbar werden zu lassen, die Ängste und Beklemmungszustände sind schonungslos, ehrlich und voller Traurigkeit. Dabei führt sie ganz allmählich die Ursachen aus dem familiären Umfeld ein, beurteilt nicht, warum es gerade dieser Leidensweg geworden ist und zeigt dennoch Möglichkeiten auf, aus dieser Endlosschleife an Hungern, Abnehmen und Verfallen herauszukommen, wenn man den Strohhalm ergreift, der sich bietet. Ein kleiner Kritikpunkt für mich: der Krankenhausalltag steht hier zentral im Mittelpunkt, die innere Arbeit, die Laure noch leisten muss, um wirklich geheilt zu werden, wird ausgeklammert. Sicherlich findet der Umstand Erwähnung, dass eine Rückkehr zu alten Verhaltensmustern nicht ausgeschlossen ist, und für Laure der Vorsatz zählt, ihr Versprechen nicht zu brechen, was sie Dr.Brunel gegeben hat: am Leben zu bleiben. Aber es hätte mir noch besser gefallen, wenn auch die Zeit danach mehr Aufmerksamkeit bekommen hätte. Selbst wenn das Ende des Buches einen erfreulichen Punkt benennt, so schenkt der Roman keine Einblicke in diese Zeit danach.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne, für einen interessanten, innigen Blickwinkel hinein in die Untiefen der menschlichen Seele, die doch so verschiedenartige Krankheitsbilder hervorrufen können. Ich weiß nicht, ob sich diese Lektüre wirklich für Betroffene eignet, für Außenstehende aber durchaus, denn die Ängste und Bedenken sind bestens greifbar und vielseitig gestrickt, so dass man nicht im Mitleid versinkt aber durchaus nachvollziehen kann, welche Mechanismen hier wirken. Was bleibt ist diese Bedrückung und innere Verzagtheit, aber auch die Hoffnung gemeinsam mit Hilfe von außen die Dämonen zu besiegen. Vielleicht hätte ich mir auch gewünscht, dass irgendwo sichtbar wird, wie viel Last dem Körper zugemutet wird, wie schwerwiegend und irreparabel manche Spätfolgen der Magersucht sind und das es nur wenig bringt, die Wochen im Krankenhaus zu überstehen, wenn man den Ursachen nicht mittels einer Therapie begegnet. Meine Freundin hat sich nie mehr von der Krankheit richtig erholen können, trotz zweier Kinder ist sie selbst mit 34 Jahren an multiplem Organversagen gestorben und rein äußerlich hat sie es nie mehr auf ein gesundes Normalgewicht gebracht.

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Veröffentlicht am 25.05.2020

Die dunkle Vergangenheit von Sommerfuglen

Glasflügel
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"Trauer vergiftet alles Lebende und nimmt ihm die Farbe. Trauer ist ein Nichts, das durch die Blutbahnen läuft, durch Blätter, Halme und Steine, bis nur noch die äußere Hülle von etwas zurückbleibt.“

Inhalt

Die ...

"Trauer vergiftet alles Lebende und nimmt ihm die Farbe. Trauer ist ein Nichts, das durch die Blutbahnen läuft, durch Blätter, Halme und Steine, bis nur noch die äußere Hülle von etwas zurückbleibt.“

Inhalt

Die erste Leiche befindet sich öffentlich zur Schau gestellt in einem Springbrunnen im Zentrum der dänischen Hauptstadt Kopenhagen – eine Frau mittleren Alters, die anscheinend mit einem mittelalterlichen Gegenstand, einem Schröpfmesser hingerichtet wurde. Und als wenig später ein weiteres Opfer mit identischen Verletzungen im Wasser gefunden wird, laufen beim Mordermittler Jeppe Kørner sämtliche Ermittlungsansätze zusammen, die nun ein mögliches Motiv für die grausame Mordserie des Täters zu Tage fördern sollen.

Leider ist Kørner diesmal auf sich allein gestellt und bekommt nur den behäbigen Polizisten Falck zugeteilt, da seine Partnerin Anette Werner im Babyurlaub ist. Zunächst kommt er gut voran, denn die Verbindung zwischen den bisherigen Opfern ist ein mittlerweile geschlossenes Pflegeheim für psychisch gestörte Jugendliche. In Sommerfuglen, einer kleinen Einrichtung mit nur wenigen Patienen und ebenso wenigen Angestellten ist jedoch etwas schief gelaufen: Der Vater einer ehemaligen Bewohnerin, die sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat, verklagte das Heim auf falsche Behandlungsmethoden und stümperhafte psychiatrische Gutachten. Seine erfolgreichen Einwände führten schließlich zur Schließung der Heilstätte. Für Kørner ist das durchaus ein plausibler Grund, für die Ermordung der ehemaligen Angestellten, doch alle Verdächtigen haben ein Alibi und irgendein weiteres Geheimnis muss es in Sommerfuglen noch gegeben haben, denn zwei Hauptverdächtige Patienten halten sich von der Polizei fern, doch gerade ihre Aussage scheint der Schlüssel zur Lösung des Falles zu sein.

Meinung

Dieser Band ist bereits der dritte aus der Kørner -Werner-Reihe der dänischen Autorin Katrine Engberg, die diesmal das korrupte und überlastete Gesundheitswesen unter die Lupe nimmt und dem Leser tiefe Einblicke in die Handlungsgepflogenheiten der ausführenden Gewalt gibt.

Dabei legt sie wie auch schon in den Vorgängerromanen großen Wert auf eine lebensnahe, glaubwürdige Erzählung, die in erster Linie Momentaufnahmen aus dem Leben der Beteiligten einfängt und diese in einen großen, umfassenden Rahmen setzt, um so nicht nur die reine Polizeiarbeit zu beleuchten, sondern generell die Entwicklung all ihrer Figuren. Anders als in blutreichen Action-Thrillern oder akribischen Ermittlungsfällen, lebt die Geschichte hier durch eine atmosphärische, vielfältige und komplexe Hintergrundgeschichte, die neben dem Kriminalfall auch das Privatleben der Ermittler lebendig werden lässt.

Spannungsmomente entstehen durch wechselnde Erzählperspektiven und unvorhergesehene Wendungen. Gerade hier wird z.B. deutlich, dass sich Anette Werner in ihrer Rolle als stillende Vollzeitmutter äußerst eingeengt fühlt und sich stattdessen im Geheimen mit den Eckdaten des aktuellen Falls beschäftigt und dort ansetzt, wo andere noch nicht waren. Auch ihre Präsenz und die diversen familiären Anforderungen nehmen einen hohen Stellenwert innerhalb des Buches ein. Je tiefer man in diese Kriminalreihe eintaucht, umso mehr entsteht das Gefühl, Teil einer großen Familie zu sein und gemeinsam mit den Figuren eine spannende Zeit zu durchlaufen.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen erzählenden Kriminalroman, den man am Besten in chronologischer Reihenfolge liest, weniger wegen der Mordermittlung, sondern auf Grund der Figurenzeichnung und den Zusammenhängen. Inhaltlich werden zahlreiche lose Fäden verteilt, die sich wunderbar zu einem Höhepunkt verbinden und ganz nebenbei noch zahlreiche Hintergrundinformationen liefern. Empfehlenswert ist diese Reihe für alle, die den Mix aus Roman und Krimi mögen und mehr subtile Entwicklungen als brutale Gewalt bevorzugen. Insgesamt wirken sowohl der Plot als auch die Figuren ausgereift und als Leser wird man mit jedem Fall mehr in die Geschichte involviert, definitiv eine Reihe, die ich weiterverfolgen werde.

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Veröffentlicht am 17.05.2020

Schuld ist auch nur ein Synonym für Tod

Marta schläft
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„So funktioniert Schuld, Laura. Du wirst sie in dir tragen wie eine unheilbare Krankheit, wie ein Geschwür, das in dir wuchert, bis es dich eines Tages komplett zerfressen hat.“

Inhalt

Für Nadja Kulka ...

„So funktioniert Schuld, Laura. Du wirst sie in dir tragen wie eine unheilbare Krankheit, wie ein Geschwür, das in dir wuchert, bis es dich eines Tages komplett zerfressen hat.“

Inhalt

Für Nadja Kulka ist ihr Job in der Anwaltskanzlei bei Gero van Hoven der Einstieg in ein normales Leben, dort muss sie sich nicht erklären, weder das sie die Tochter einer polnischen Prostituierten ist, noch das sie mit 15 Jahren als Mörderin ebenjener eine Gefängnisstrafe absitzen musste. Ihr Onkel, der Seniorpartner in der Kanzlei, hat ihr die Anstellung besorgt, die sie in einen sozialverträglichen Alltag führen soll und weg von ihren Depressionen, Medikamenten und Panikattacken.

Doch die Vergangenheit holt Nadja schneller ein, als ihr lieb ist - als ihre Freundin Laura, die Ehegattin von Gero van Hoven sie vollkommen verstört anruft und ihr mitteilt, dass sie ihren Liebhaber ermordet hat und nicht weiß, was sie machen soll. Nadja kennt die Mechanismen von Angst, Reue, Scham und Schuld und eilt der Freundin zu Hilfe. Doch als sie bei der Leiche zusammensitzen und ihr weiteres Vorgehen besprechen, merkt sie, wie labil ihre heile Welt wirklich ist …

Meinung

Nachdem ich vergangenes Jahr voller Begeisterung das Thrillerdebüt der 1981 geborenen deutschen Autorin Romy Hausmann „Liebes Kind“ gelesen hatte, war mir klar, dass ich unbedingt ihren neuesten Zapfenstreich kennenlernen musste. Meine Erwartungshaltung an die Geschichte rund um ein wildes Verwirrspiel in den Kreisen der Gerichtsbarkeit war also dementsprechend hoch. Und obwohl mir der Einstieg nicht ganz leichtgefallen ist, wurde die Handlung zunehmend schlüssiger und die Spannungsmomente potenzierten sich, so dass ich auch dieses Buch kaum noch aus der Hand legen konnte.

Bei „Marta schläft“ beruht der Clou in erster Linie auf einem hochkomplexen Plot, den der geneigte Leser zunächst kaum versteht. Es existieren mehrere Handlungsebenen, diverse Protagonisten und scheinbar willkürliche Zeitsprünge, die es einerseits hochexplosiv wirken lassen, andererseits keiner klaren Linie folgen.

Die Folge davon ist ein Verwirrspiel der Extraklasse, eine mitreißende Story, eine emotionale Erzählung aus längst vergangenen Tagen und ein brisantes Geschehen in der dunklen und bösen Gegenwart. Die Autorin gestaltet ein intensives Psychogramm ihrer Hauptakteure und lässt mehrere psychisch labile bis aggressive Menschen aufeinandertreffen, die weder vor Intrigen noch gewalttätigen Spielchen, ja noch nicht einmal vor Mord zurückschrecken, um ihr selbstgewähltes Weltbild aufrecht zu erhalten.

Sind die Guten in Gefahr und die Bösen wirklich die Täter? Eine Frage, die sich unwillkürlich aufdrängt und im Verlauf des Thrillers sehr abwechslungsreich und voller Wendungen präsentiert wird. Denn dieser Spannungsroman bietet eine Vielfalt an möglichen Denkansätzen und lässt den Leser lange im Unklaren, eins ist er aber definitiv nicht, ein schnöder Roman mit herkömmlicher Ermittlungsarbeit und ein paar Leichen – hier steckt eine ganze Menge mehr drin.

Besonders die prägnante Textstruktur verleiht diesem Thriller seine Dichte. Kurze Kapitel wechseln sich mit einem Briefwechsel und längeren Episoden im Rückblick ab. Dabei fasziniert es mich, wie wenig Identifikation mit den Hauptakteuren von Nöten ist, um den Text dennoch faszinierend zu finden. Hier steht man als Leser außerhalb des Geschehens, schaut zu, beobachtet, sieht sich genötigt eigene Mutmaßungen anzustellen, die möglicherweise des Rätsels Lösung sein könnten. Dieser ganz eigene, unverwechselbare Grundton, schwingt auch hier wieder mit und macht aus einer eher harmlosen Geschichte einen sehr fesselnden Spannungsroman.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen einprägsamen Thriller, der mit einer Geschichte um Vergangenheitsbewältigung, Schuld und Reue aufwartet und durch seinen animierenden Stil unbedingt dazu auffordert, eigene Verdächtige auszumachen und den komplexen Inhalt auf eine schlüssige Story herunterzubrechen.

Wer „Liebes Kind“ mochte, wird auch an „Marta schläft“ Gefallen finden, obwohl das Debüt noch etwas mehr Durchschlagskraft besaß, so ist es hier der vielschichtige Hintergrund, der überzeugt. Ich freue mich jetzt schon auf weiteres Lesefutter aus der Feder der Autorin, sollte die Nr. 3 ebenfalls in dieser Liga spielen, hat Romy Hausmann eine neuen Fan gewonnen, allein schon weil sich ihre Bücher ganz wunderbar vom herkömmlichen Actionthriller abheben und irgendwo auch eine Saite im Inneren des Lesers zum Klingen bringen, die normalerweise nicht angesprochen wird.

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Veröffentlicht am 11.05.2020

Einer ist der Stärkere, der andere liebt mehr

Die wir liebten
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„Wenn es in der Rückschau ein Motto für das Leben meines Bruders und für meines gab, so war es die Erkenntnis, dass es keine Konstanz gibt im Leben und keine Verlässlichkeit in dem, was wir sind und was ...

„Wenn es in der Rückschau ein Motto für das Leben meines Bruders und für meines gab, so war es die Erkenntnis, dass es keine Konstanz gibt im Leben und keine Verlässlichkeit in dem, was wir sind und was wir tun, und das wir andere sind, sobald wir uns aus einem anderen Blickwinkel betrachten oder betrachtet werden.“

Inhalt

Edgar und Roman sind fast gleichaltrige Brüder, die mit ihren Eltern, dem ortsansässigen Bäckermeister und der Lotto-Frau in einem Dorf in der Nähe von Mönchengladbach aufwachsen. Zunächst haben die beiden Jungs eine recht unbeschwerte, freie Kindheit, da beide Elternteile einen zeitintensiven Job haben und nur wenig Kontrolle ausüben und kaum Einschränkungen setzen. Der Zusammenhalt zwischen ihnen ist stark ausgeprägt, sie sind begeisterte Fußballer und ziehen in ihrer Freizeit um die Häuser.

Erst als der Vater die Tierärztin kennenlernt, sich neu verliebt und von seiner Frau trennt, wird klar, dass die Familienstruktur fortan eine ganz andere sein wird. Die Mutter versinkt in ihrem Unglück und greift zur Flasche, der Vater kapselt sich ab und verschwindet von der Oberfläche. Roman und Edgar müssen sehen, wo sie bleiben. Als dann auch noch ihre letzte zuverlässige Vertrauensperson, ihre Großmutter dem langen Krebsleiden erliegt, überstürzen sich die Ereignisse und wenig später steht das Jugendamt vor der Tür.

Angeblich gehören die halbwüchsigen Jungs nicht länger in die Obhut, einer zerrütteten Familie, sondern in die Erziehungsanstalt „Gnadenhof“, die dem beginnenden Sittenverfall Einhalt gebieten wird. Das Kinderheim, direkt im gleichen Ort ist ein dunkler Fleck in der Gemeinde, keiner von draußen spricht über die Geschehnisse hinter den Mauern und das stattliche Anwesen agiert äußerst autonom. Für die Brüder, die sich der Gesetzeskraft beugen müssen, wird bald klar: irgendwie muss ihnen die Flucht aus dieser Hölle gelingen, bevor die Willkür und Gewaltanwendung gegenüber den Jugendlichen eskaliert …

Meinung

Der 1958 am Niederrhein geborene Autor Willi Achten ersinnt in diesem Buch eine bewegend-erschütternde Familiengeschichte, die sehr betroffen macht und sich in ihrem Verlauf zu einem regelrechten Gesellschaftsporträt auswächst. Zunächst ist es ein Coming-of-Age Roman, der lebendige Bilder von einem Aufwachsen in der ländlichen Idylle der 70er Jahre in Deutschland heraufbeschwört.

Der Zeitgeist wird lebendig, die Natur, die Streiche, die Erlebnisse einer ganz normalen Jugend und die Hoffnungen und Wünsche, die damit verbunden sind. Langsam und szenenhaft widmet er sich im Mittelteil des Buches dem Auseinanderbrechen einer Familie: dort wo früher der Bruder ein guter Kumpel war, wird er nun das letzte Fünkchen Hoffnung, in einem Auflösungsprozess, den die Teenager nicht aufhalten können. Viel zu schnell müssen sie erwachsen werden und zusehen, wie jeden Tag ein weiteres Stückchen Mauer ihrer heilen Welt zerbröckelt.

Erst im dritten Teil des Romanes konzentriert sich die Handlung auf die Hintergründe innerhalb der Erziehungsanstalt, deren Mitarbeiter noch Jahrzehnte nach dem Wirken nationalsozialistischer Grundsätze agieren und ihre Zöglinge mit Härte und Drill bestrafen, im schlimmsten Fall sogar mit Injektionen, wenn sie nicht gefügig bleiben oder sich dem Willen der Heimleitung widersetzen.

Der Roman schafft lebendige Bilder, beschreibt detailliert und umfassend die Lebensumstände der Protagonisten und besticht mit einer intensiven, stimmungsvollen Textstruktur, die sich aus der Erinnerung des jüngeren Bruders heraus entwickelt. Inhaltlich ist es an vielen Stellen eine harte Kost, nicht nur was die politischen Hintergründe betrifft, sondern auch die genauen Abläufe von Gewalt, Kindesmisshandlung und Machtmissbrauch. Stellenweise war mir das zu viel, die Bilder zu ausgereift, zu hart und mit wenig Spielraum für die eigene Fantasie des Lesers – vor dem inneren Auge entsteht ein Film in all seiner Klarheit und Präzession, ein Geschehen, dem man sich gedanklich nur schwer entziehen kann.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne und empfehle das Buch all jenen Lesern, die abseits des Mainstream eine Geschichte erleben wollen, die voller Wahrheiten steckt, mit zahlreichen Ängsten agiert und mit der Überzeugung geschrieben wurde, den eigenen Wohlfühlbereich zu verlassen, um Aufklärungsarbeit zu leisten.

Es ist ein Roman, der nachhallt, der zwar anklagt aber letztlich nicht verurteilt, der Familiengeschichte und historische Rahmenbedingungen vereint und individuell ausgestaltet, er erzählt von Menschen, die lieben, leiden und leben und immer wieder an Scheidewege gelangen, an denen sie Entscheidungen treffen müssen, oder andernfalls für sie entschieden wird. Zwei starke Protagonisten, eine beklemmende Handlung und die Einsicht, dass nicht jeder für seine Sünden bestraft wird und nicht jeder für seine Heldentaten gerühmt. Diese Geschichte wird mir in Erinnerung bleiben.

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Veröffentlicht am 30.04.2020

Erinnerungen an den Sommer in New Bremen

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich
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„Wird ein Verlust zur Tatsache, dann ist er wie ein Stein, den man in der Hand hält. Er hat Gewicht, Umfang, Konsistenz. Er ist fassbar, man kann ihn einschätzen, mit ihm umgehen. Man kann sich damit geißeln ...

„Wird ein Verlust zur Tatsache, dann ist er wie ein Stein, den man in der Hand hält. Er hat Gewicht, Umfang, Konsistenz. Er ist fassbar, man kann ihn einschätzen, mit ihm umgehen. Man kann sich damit geißeln oder ihn wegwerfen.“

Inhalt

Frank Drum erinnert sich an den Sommer 1961, der für ihn wegbereitend für sein ganzes weiteres Leben werden sollte. Damals lebte er mit seiner Familie in New Bremen, einem fiktiven Ort am Minnesota River – der Vater war Dorfpfarrer der Gemeinde, die Mutter eine begnadete Sängerin im Kirchenchor und die große Schwester ein Talent an der Orgel. Franks Tage verliefen typisch für einen 13-Jährigen, der sich gemeinsam mit dem kleinen Bruder Jake die Freizeit vertreibt und zwischen Schule, Freunden und Fahrradtouren die Sonne und das Abenteuer genießt. Doch dem ersten Toten des Sommers, einem Außenseiter aus der Schule, der zu lange an den Bahnschienen verweilte, sollen noch etliche weitere folgen und Frank ist irgendwie immer mittendrin, als Zeuge oder Betroffener. Besonders den Verlust seiner geliebten Ariel, der älteren Schwester mit dem großen Herzen, verkraftet Frank nur schwer. Denn ihr Tod, so ergibt es die Obduktion, war nicht einfach nur ein Unfall, sondern vorsätzlicher Mord. Frank möchte zu gern den Mörder seiner Schwester stellen und ihn seiner gerechten Strafe zuführen, wenn da nur nicht die Beschränkungen seiner Jugend wären und Erwachsene, die seinen Worten immer etwas entgegenzusetzen haben …

Meinung

Nachdem ich vergangenes Jahr so viele begeisterte Leserstimmen zu diesem Roman wahrgenommen habe, musste ich ihn unbedingt lesen, um so wie andere den wundervollen Erzählton und die berührende Geschichte über das schmerzliche Erwachsenwerden eines Jungen kennenzulernen. Dementsprechend hoch war auch meine Erwartungshaltung an die Geschichte, deren Thematik gleich in mehrere Richtungen schwenkt.

Zum einen ist es eine klassische Familiengeschichte, mit den Problemen, Wünschen und Geheimnissen mehrerer Beteiligter, die in enger verwandtschaftlicher Bindung zu einander stehen. Darüber hinaus ist es ein Kriminalroman, bei dem ein Junge versucht, hinter die Machenschaften seiner Mitmenschen zu kommen, um deren Handlungen besser verstehen zu können und dann ist es der unwiderrufliche Weg von der Kindheit zum Erwachsenwerden, verstärkt durch traurig-dramatische Erlebnisse, die sich nicht mehr verbergen und in schöne Worte kleiden lassen.

Das Leseerlebnis war für mich von widersprüchlichen Empfindungen geprägt: zum einen ist es ein ausgesprochen bildhafter, atmosphärischer Roman, der das Lebensgefühl seiner Protagonisten und deren Erlebnisse in absolut stimmige Handlungsabläufe umwandelt, zum anderen ein Grundsatzroman der sich oftmals an Glaubensfragen und moralischen Werten orientiert – diese beiden Punkte haben mir ausgesprochen gut gefallen und mir echten Zugang zum Text gewährt. Doch dann kommt die Wertigkeit der Erzählung hinzu, ihre Bedeutsamkeit über den Roman hinaus und davon war ich dann leider enttäuscht, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, in einem Film zu stehen, die Menschen immer nur von außen zu betrachten und ihnen nicht wirklich nahe zu kommen. Doch dieses Vorgehen wirkt nicht versehentlich, sondern eher gewollt, deshalb hatte ich mehrfach das Gefühl keinen Roman, sondern ein Drehbuch zu lesen.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für eine bildhafte, emotional erzählte Geschichte, die mich in weiten Teilen an einen Film erinnerte und die ich wirklich lieber auf der Leinwand erlebt hätte als auf dem Papier. Die wichtigen Fragen über Schuld und Schicksal, Freude und Leid, Vergeben und Vergessen – sie werden alle aufgegriffen und erlebbar gemacht, aber ihre Reichweite verlässt nicht die gut 400 Seiten des Buches.

Die Protagonisten habe ich mehr gesehen als verstanden, die Geschichte birgt unzählige Erinnerungen jedweder Natur, zeigt auch deren Verblassen im Lauf der Zeit, ebenso wie die Vielschichtigkeit diverser Erlebnisse auf unterschiedliche Personen, doch irgendwie bleibt nicht viel zurück, nachdem ich das Buch beendet habe und deshalb muss ich ganz klar einen Lesestern abziehen.

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