Profilbild von Viv29

Viv29

Lesejury Star
offline

Viv29 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Viv29 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.08.2020

Detailreiche, warmherzige Geschichte mit vielen Themen

Die Wunderfrauen
0

"Die Wunderfrauen" begleitet vier Frauen in Starnberg durch die Jahre 1953 und 1954. Es handelt sich um Frauen mit gänzlich verschiedenen Hintergründen und Charakteren - die bodenständige, aus der Gegend ...

"Die Wunderfrauen" begleitet vier Frauen in Starnberg durch die Jahre 1953 und 1954. Es handelt sich um Frauen mit gänzlich verschiedenen Hintergründen und Charakteren - die bodenständige, aus der Gegend stammende Luise; die materiell privilegierte Annabelle, durch ihre Ehe aus Münster hierher verschlagen; Helga, die rebellische Tochter aus gutem Hause und Marie, aus Schlesien vertriebene Gutbesitzertochter. Diese Vielfalt bietet Potential für zahlreiche Themen und Gesichtspunkte, und an Themenvielfalt mangelt es im Buch wirklich nicht.

Der Gedanke, diese unterschiedlichen Protagonistinnen zu nutzen, gefiel mir und es ist auch gut gemacht, daß sich ihre Blickwinkel abwechseln. Jedes Kapitel berichtet abwechselnd aus der Sicht einer anderen Frau und so erfahren wir manches Geschehnis auch aus verschiedenen Perspektiven. Das ist größtenteils gut gemacht, so wirkt manche Situation plötzlich ganz anders, wenn wir die zweite Perspektive erfahren, neue Hintergrundinformationen bekommen. Wir lernen so auch die Protagonistinnen auf verschiedene Art kennen, was ihr Bild oft abrundet. Manchmal führt diese Erzählweise zu Wiederholungn (die sich aber im Rahmen halten) und zu leichten Irritationen hinsichtlich des Zeitablaufs. An einer Stelle ist der Zeitablauf leider nicht plausibel, aber insgesamt finde ich diese Erzählweise gelungen und angenehm ungewöhnlich.

Auch der Schreibstil liest sich gut und leicht weg. Ein paar lokale Begriffe und Dialektwörter werden eingestreut, das passt gut. Nicht ganz mein Geschmack waren Erzähltempo und Gewichtung. Das Erzähltempo ist überwiegend gemächlich und detailverliebt. Gerade den Alltagsthemen und kleinen Anekdoten wird viel Zeit gewidmet. Das ist liebevoll gemacht und natürlich reine Geschmackssache, aber es ist nicht ganz mein Fall. Seitenweise Unterhaltungen über das Kuchenbacken, Musiktitel, Kaffeeklatschtratsch und ähnlichem, die für die Handlung nicht wirklich von Bedeutung sind und diese nicht weiterführen, finde ich persönlich zu viel. Ich habe mich doch leider an vielen Stellen gelangweilt, auch wenn anzuerkennen ist, wie viele lokale und historische Details die Autorin einarbeitet. Im letzten Drittel des Buches steigt das Erzähltempo ein wenig an, was mir besser gefallen hat.
Während also diese Alltagsthemen sehr viel Raum einnehmen, kommen viele relevante Themen für meinen Geschmack wesentlich zu kurz. Lebensverändernde Entscheidungen werden plötzlich und schnell getroffen, an einer Stelle habe ich sogar zurückgeblättert, weil ich dachte, ich hätte etwas übersehen. Ernste Themen, wie die Traumata aus den Kriegs-/Nachkriegserfahrungen werden in einem Bruchteil des Raumes abgehandelt, der Küchenvorgängen gewidmet wird. Ich war tatsächlich bei allen für mich interessanten Themen enttäuscht, wie kurz diese behandelt wurden.
Auch Probleme lösen sich für mich zu leicht, zu schnell. Es muß an keiner Stelle jemand wirklich etwas tun oder bewältigen, um ein Problem zu lösen, sondern es klärt sich immer von selbst, ob nun durch eine zur richtigen Zeit kommenden Erbschaft, einer plötzlichen kompletten charakterlichen Änderung oder jemandem, der unerwartet hilft. Als eine potentielle Entscheidung zwischen zwei Männern ansteht, bestimmt einer davon sich so plakativ schlecht, daß es auch hier keinen Konflikt gibt, sondern die Entscheidung sich praktisch von selbst trifft. Es gab keinen Punkt, an dem ich mir ernstlich Sorgen um jemanden oder eine Situation machen, mitfiebern mußte und damit nahm auch meine innere Beteiligung ab.

An einer Stelle im Buch sagt ein Fernsehhändler: "Stellen Sie sich vor, der Starnberger See und seine Geschichten in so einem Fernseher drin. Wäre das nicht pfundig?" und ein wenig kam mir das Buch auch wie eine öffentlich-rechtliche Vorabendserie vor: Alltagsgeschichten, keine tiefgehenden Probleme, rasche Lösung der kleinen Probleme. Das ist an sich nichts Schlechtes und es ist auch gut gemacht, nur hatte ich mir einfach etwas mehr Realismus und Tiefe erwartet.

Die Themenvielfalt habe ich schon erwähnt, man lernt hier eine ganze Menge über die 50er Jahre und auch über Starnberg. Es steckt viel Recherche in dem Buch, das merkt man auf jeder Seite angenehm. Viele der Themen sind gelungen in die Geschichte eingewoben, einige eher um ihrer selbst willen erwähnt, was sich beim Lesen auch bemerkbar macht. Es finden sich sowohl Themen zum Alltag und der Entwicklung der 50er, wie auch welche, die die Nazizeit betreffen. Durch diese Vielfalt fehlte mir dann aber die Tiefe ein wenig. Vielleicht wäre hier weniger mehr gewesen, dann hätten gerade die von Natur aus tiefgehenderen Themen auch die ihnen angemessene Beachtung erfahren können.

Die Atmosphäre ist gut getroffen - Luises Laden ist der Dreh- und Angelpunkt, hier finden fast alle wesentlichen Entwicklungen statt und so wächst er einem ans Herz, ebenso wie einem Starnberg immer vertrauer wird. Und auch die vier Frauen lassen einen beim Lesen nicht kalt. Manche mag man mehr, manche weniger, was auch für ihre jeweiligen Partner gilt, alle entwickeln sich weiter. Es ist gut gemacht, wie diese Personen uns Stück für Stück bekannter werden. Die für mich interessanteste Person, Marie, fand leider wenig Raum, aber ihre Szenen gehören dafür für mich zu den besten den Buches. Eine davon habe ich sogar mehrfach gelesen, weil sie in ihrer Schlichtheit so eindringlich war.

So sind "Die Wunderfrauen" ein mit Hingabe geschriebenes Buch mit großer thematischer Vielfalt und einem gewissen "Zuhausewohlfühlfaktor", dessen Erzählweise und Gewichtung mir persönlich leider nicht uneingeschränkt zusagte und bei dem mir auch die Tiefe etwas fehlte, das aber sicher viele Leser mit seiner Warmherzigkeit erfreuen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.07.2020

Durch falsche Gewichtung leider belanglos

Die Welt war so groß
0

Das Buch beginnt recht eingängig mit vier ehemaligen Collegestudentinnen, die nach 20 Jahren zum Klassentreffen nach Radcliffe kommen. Es gibt einige Andeutungen, was sich im Leben der vier Frauen seit ...

Das Buch beginnt recht eingängig mit vier ehemaligen Collegestudentinnen, die nach 20 Jahren zum Klassentreffen nach Radcliffe kommen. Es gibt einige Andeutungen, was sich im Leben der vier Frauen seit ihrem Colleabschluß getan hat, und obwohl sie selbst noch etwas blaß bleiben, wird man neugierig.

Schon nach wenigen Seiten führt uns die Autorin zurück ins Jahr 1957, als diese vier jungen Frauen ihre Collegzeit beginnen. Das liest sich unterhaltsam, gerade auch die Beschreibungen des Wohnheim- und Soziallebens jener Zeit war interessant. Einige junge Männer aus Harvard tauchen im Leben unserer vier Protagonistinnen auf und dann wird es leider etwas langweilig. Fast die Hälfte des Buches über lesen wir detailliert, wer mit wem ausging, wo man hinfuhr, was wer trank - es gibt unwahrscheinlich viele Einzelheiten, die schnell anfangen, sich zu ähneln, als eine Verabredung der anderen folgt. Während die alltäglichen Details uns ausführlich und wiederholend geschildert werden, bleibt die Charakterentwicklung zurück. Das Buch verwendet sehr wenige Dialoge, das Geschehen wird meistens einfach erzählt, und das "einfach" bezieht sich auch auf den Schreibstil. Dieser liest sich leicht weg, hinterläßt überhaupt keinen Eindruck. Er ist nicht schlecht, aber eben auch nicht gut. Die Charaktere bleiben mir größtenteils fremd, was meiner Meinung nach auch daran liegt, daß es zu wenig Dialoge gab. Man erlebt sie nicht, man liest einen Bericht über sie. Auch viele Motivationen werden nicht hinreichend dargelegt. Ich habe mich oft gefragt: "Um warum macht er/sie das nun?"

Nach dem Collegeabschluß führt uns die Autorin vergleichsweise rasch durch die folgenden 20 Jahre. Eine der Protagonistinnen bekommt so wenig Raum und Handlung, daß ich ihre gesamte Geschichte etwas unbefriedigend fand. Im Leben der drei anderen Protagonistinnen und ihrer Ehepartner gibt es durchaus interessante Themen und diese sind auch erfreulich vielfältig und einfallsreich. Leider gehen auch sie sehr in der Schilderung alltäglicher Details unter. Ich habe wirklich nicht verstanden, warum die interessanten Themen, die so viel Potential hatten, so stiefmütterlich behandelt wurden, während jedes irrelevante Detail endlos ausgewalzt wird. Hier hat die Gewichtung überhaupt nicht gestimmt und dadurch ist die Geschichte dann leider auch sehr belanglos, obwohl sie viel Tiefe hätte haben können, wenn man nur anders gewichtet hätte. Im Epilog treffen diese drei Protagonistinnen mal eben nebenei wichtige Lebensentscheidungen und keine braucht mehr als eine halbe Seite dafür. Wieder eine Chance verschenkt.

Bis zur letzten Seite berührten mich die Charaktere so gut wie nicht und auch hier merkte ich das verschenkte Potential, denn einige von ihnen hätten - anders geschildert - sehr mitreißend sein können.

So ist "Die Welt war so groß" leider nur eine leicht lesbare, etwas zäh dahinfließende Geschichte, die ihr Potential fast völlig brach liegen läßt und somit die Möglichkeit versäumt hat, ein wirklich gutes Buch zu sein.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.05.2020

Ceecees Rettung

Die Frauen von Savannah
0

"Die Frauen von Savannah" ist im Original mit "Saving Ceecee Honeycutt" betitelt, was besser zum Inhalt paßt. CeeCee, die als Ich-Erzählerin fungiert, ist zwölf Jahre alt und zu Beginn des Buches erfahren ...

"Die Frauen von Savannah" ist im Original mit "Saving Ceecee Honeycutt" betitelt, was besser zum Inhalt paßt. CeeCee, die als Ich-Erzählerin fungiert, ist zwölf Jahre alt und zu Beginn des Buches erfahren wir einiges über ihre Kindheit mit einer Mutter, die psychisch krank ist. Schon der erste Satz des Buches: "Momma ließ ihre roten Satinschuhe mitten auf der Straße stehen" deutet die Thematik an und macht zudem neugierig. Diese traurige Kindheit, die CeeCee verlebt, mit einer selbst leidenden Mutter und einem stets abwesenden Vater, unter gehässigen Schulkameraden und in ständiger Angst, was die Mutter als nächstes "anstellen" wird, geht beim Lesen zu Herzen. Da wir alles durch Ceecee erfahren, können wir uns nur zusammenreimen, was genau mit ihrer Mutter ist und wie der Vater einzuschätzen ist. Das ist ein gutes Vorgehen, weil man gerade über den Vater beim Lesen immer wieder die Meinung ändert und sich viele Schlußfolgerungen selbst überlegen muß. Über die Mutter hätte ich gerne mehr erfahren. Ceecees tiefe Traurigkeit kommt durch die Erzählweise auch sehr gut heraus. So hat dieser Anfang überraschende Tiefe und Vielseitigkeit und ist auf gelungene Weise düster (was ich angesichts des angekitschten Titelbilds (auch da hat die Originalausgabe es besser getroffen) nicht erwartet hatte.

Als Ceecee nach dem Tod ihrer Mutter von ihrer Großtante in Savannah aufgenommen wird, wandelt sich die Atmosphäre sehr. Savannah - die verträumte Stadt im tiefen Süden, deren teils exzentrische Bewohner auch schon beliebtes Thema anderer Romane waren. Beth Hoffman liefert hier vertraute Motive des Südens in den 60ern: wohlhabende Damen in prachtvollen Häusern, die sich der Erhaltung alter Gebäude widmen, Parties geben und elegante Kleider und Hüte ausführen. Die treue Köchin, ein wenig ruppig, aber mit einem Herzen aus Gold. Ein paar Eifersüchteleien unter den Damen mit zu viel Zeit, ein paar belanglose Gespräche, der Rassismus von Ort und Zeit blitzt gelegentlich durch. Dieses etwas geschönte Südstaatenbild wird liebevoll geschildert und man blüht mit CeeCee auf, die plötzlich in die kuschlige Umarmung dieser für sie neuen Welt genommen wird und sich im Laufe ihres ersten Sommers dort wie eine Blume immer mehr entfaltet.

Dieser Sommer wird gemächlich, atmosphärisch und episodisch erzählt. Ceecee hat ihre kleinen Erlebnisse - Ausflüge, neue Bücher und Kleider, heimliches Schwimmen im Pool der Nachbarin, Treffen mit Bekannten ihrer Großtante und deren Köchin Oletta. Das glitt mir teilweise zu sehr ins Belanglose ab und irgendwann sind die diversen liebevoll-exzentrischen Damen ein wenig überbenutzt. Alle, denen Ceecee begegnet, haben irgendeine Eigenheit, die uns detailliert geschildert wird. Manche dieser Leute werden ausführlich beschrieben, um nach einigen Seiten wieder völig aus der Geschichte zu verschwinden, andere tauchen hin und wieder auf, manche spielen eine ständige Rolle. Ein paar weniger dieser Leute und Erlebnisse hätten es auch getan, denn irgendwann wurde ich all dieser originellen kleinen Eigenheiten etwas müde.

Die Tiefe, die das Buch am Anfang hat, findet es ab und an wieder zurück und das sind die besten Szenen. Immer, wenn Ceecee mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, bekommt das Buch Substanz. Auch die ab und an eingestreute sich verändernde Haltung zu ihrem Vater ist interessant, dazu glaubhaft und gut geschildert. Ein wenig mehr davon und etwas weniger belanglose Episoden hätten dem Buch meines Erachtens sehr gut getan. Während diese Stellen sehr berühren, waren einige der anderen Episoden wirklich albern. Zwei Nachbarinnen führen eine Art Kleinkrieg, der uns die schlechtesten Szenen des Buches bringt - überdreht und platt.

Ein weiterer Punkt, der mir nicht zugesagt hat, war die Tendenz zur Zuckerwattigkeit. An einer Stelle erwähnt Ceecee, dass die Welt um sie herum ganz rosa wirkte und den Eindruck hatte ich auch. Ceecees innere Reise, ihre "Rettung" (wenn man nach dem englischen Titel geht) hätte man auch sehr schön mit weniger ezählerischem Sirup schildern können. Die meisten Probleme lösen sich hier von selbst, oder werden nach einem mit vielen Lebensweisheiten garnierten Gespräch gelöst. Lebensweisheiten werden mit Begeisterung verteilt, keine Gelegenheit für einen Kalenderspruch wird ausgelassen. Auch einige Wendungen waren gar zu zuckrig - der "alles wird innerhalb weniger Wochen gut"-Kurs wird unerbittlich verfolgt.

So war es einerseits sehr interessant, CeeCee - die eine sympathische Ich-Erzählerin ist - zu begleiten, mit ihr zu fühlen und sich zu freuen, wie ihre Seele heilt. Andererseits wäre dies auch mit weniger putzig-originellen Banalitäten und weniger Rosatönung möglich gewesen und hätte mir persönlich dann wesentlich besser gefallen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.05.2020

Agatha Christie geht neue Wege - teilweise sehr gelungen

Das Eulenhaus
0

"Das Eulenhaus" ist ein für Agatha Christie eher untypischer Krimi und das ist zunächst seine Stärke. Wir haben hier schon fast eher ein Psychogramm als einen Krimi. Das bringt erfreulich frischen Wind ...

"Das Eulenhaus" ist ein für Agatha Christie eher untypischer Krimi und das ist zunächst seine Stärke. Wir haben hier schon fast eher ein Psychogramm als einen Krimi. Das bringt erfreulich frischen Wind hinein, aber leider gab es auch mehrere Schwächen.

Es beginnt noch recht typisch Christie. Diverse Menschen kommen für ein Wochenende in einem Landhaus zusammen, als Gäste von Henry und Lucy Angkatell. Lucy ist die Erste, der wir begegnen und wir merken auch gleich, sie ist ungewöhnlich. Die ältere Dame neigt zu gedanklichen Abschweifungen und exzentrischen Gedankengängen. Was zu Beginn noch etwas Amüsantes hat, wird im Verlauf des Buches zunehmend ermüdend. Viel Platz wird darauf verwandt, Lucys Monolog widerzugeben und die Charaktere versichern und unablässig, wie herrlich charmant und exzentrisch sie ist. Herrlich fand ich es allerdings immer weniger, abgesehen davon, daß es viel zu viel Raum einnahm. Irgendwann weiß man auch schon, in welche Richtung es gehen wird, da diese ganze "charmante" Exzentrik absolut überbenutzt wird.

Die anderen Charaktere sind teilweise sehr interessant und gut gezeichnet, teilweise bleiben sie blass und sind für die Geschichte überflüssig. Interessant war es, einen Einblick in die Gedanken vieler der Charaktere zu bekommen. Wir erleben das Geschehen ausnahmsweise nicht durch die Augen von Hastings, Poirots normalerweise treuem Begleiter, und erfahren so mehrere Perspektiven, lernen die Personen deshalb auch viel besser kennen. Das war erfreulich und oft interessant. Einige Handlungsstränge zogen sich leider ziemlich und hatten keine Relevanz für die Geschichte. So hatte ich am Ende das Gefühl, ziemlich in der Luft hängengelassen zu werden. Zum Ende aber später mehr.

Poirot kommt im Buch vor, aber er spielt keine wirklich Rolle. Ursprünglich war nicht geplant, ihn mitspielen zu lassen und das merkt man. Er ist hier halbherzig eingebunden, ermittelt eigentlich nicht, taucht nur ab und an auf. Überhaupt spielen die Ermittlungen nur eine geringe Rolle. Nachdem der Mord geschieht und viele interessante Fragen aufwirft, widmet sich Christie ihren diversen Charakteren und berichtet uns viel Unnötiges. Allerdings geschieht dies überwiegend durchaus kurzweilig. Während ich in vielen Christie-Büchern die ständigen Verhöre, in den die ewiggleichen Fragen wiederholt werden, oft langweilig fand, gibt es so etwas hier gar nicht. Die Perspektiven wechseln, das Geschehen wechselt, wir gehen von einem zum anderen und das in einem meistens guten Erzähltempo.

Das Ende kommt dann recht unerwartet und natürlich gelingt es Christie wieder, mich damit zu überraschend. Ich hatte bis zum Ende keine Ahnung, wer der Täter ist. Allerdings ist der Weg zur Lösung plötzlich und nicht wirklich nachvollziehbar. Auch eine Entscheidung, die Poirot am Ende trifft, finde ich nicht passend. Während sie interessante Fragen rund um Schuld und Sühne berührt, läßt sie andere wichtige Aspekte außer Acht und wirkt deshalb nicht stimmig für mich. Auch blieben einige Fragen unbeantwortet, bzw. erwiesen sich als irrelevant. Insgesamt hatte mir die Handlung des Buches zu wenig mit dem Ende und der Auflösung des Falles zu tun.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.02.2020

Ausgezeichnet geschildert, leider ein wenig überladen

Raffael - Das Lächeln der Madonna
0

In „Raffael“ bringt uns Noah Martin in das Italien der Renaissance und läßt uns in eine Zeit eintauchen, in der sich prachtvoller Kunstsinn neben Korruption und Grausamkeit entfaltet. Auf über 600 Seiten ...

In „Raffael“ bringt uns Noah Martin in das Italien der Renaissance und läßt uns in eine Zeit eintauchen, in der sich prachtvoller Kunstsinn neben Korruption und Grausamkeit entfaltet. Auf über 600 Seiten wird dies detailreich und opulent erzählt – so detailreich und opulent, daß Raffael in dem nach ihm benannten Roman leider lange Zeit eher eine Nebenrolle einnimmt.

Wir lernen Raffael im Jahr 1494 kennen, als Jungen, der gerade seinen Vater verloren hat, und von Anfang an gelingt es dem Autor, die Szenerie auferstehen zu lassen. Der Schreibstil ist das ganze Buch hindurch ausgesprochen angenehm, die Beschreibungen gelungen und lebhaft. Raffael und sein Freund Daniel werden sofort mit Leben gefüllt. Daniel ist eine fiktive Person, es werden uns im Roman aber auch erstaunlich viele historisch belegte Personen begegnen. Ein fünfseitiges Personenverzeichnis zeigt an, welche Personen historisch belegt und welche fiktiv sind. Das fünfseitige Personenverzeichnis weist aber auch schon auf einen Punkt hin, der mir an dem Buch nicht sehr gut gefallen hat – es ist zu viel von allem. Gerade in der ersten Hälfte des Buches wechselt die Szenerie in jedem Kapitel. Sind wir eben noch im beschaulichen Elternhaus Raffaels in Urbino, werden wir kurz darauf ins Schlachtengetümmel unter Cesare Borgia gestürzt, um dann plötzlich mitten im Vatikan wieder neuen Charakteren zu begegnen. Es werden so viele Charaktere eingeführt, daß ich mich auf keinen davon wirklich einlassen konnte und ich muß gestehen, daß ich am Anfang mehrerer Kapitel verzweifelt aufseufzte, wenn schon wieder ein neuer Name erschien. Alle diese Charaktere werden ausgiebig beschrieben und bei einer solchen Fülle an Hintergrundgeschichten und Informationen ist das Lesevergnügen beeinträchtigt – jedenfalls war es bei mir so. Auch rissen die ständigen Szenenwechsel mich immer wieder heraus. Weniger ist mehr, das fiel mir beim Lesen ständig ein.

Die ersten zwei Drittel hindurch war das Buch für mich kein Roman über Raffael, da er viel zu wenig vorkam. Es geht um Kriege, um Politik, um Intrigen, nur kaum um Raffael. Dies ist alles hervorragend recherchiert und ausgezeichnet erzählt, nur war es mir wesentlich zu überladen und paßte überhaupt nicht zu dem, das ich aufgrund des Klappentextes von dem Buch erwartete. Auch die zahlreichen ausführlichen Kriegsschilderungen waren überhaupt nicht mein Fall. Insofern muß ich zugeben, daß die ersten zwei Drittel des Buches ein sehr gemischtes Vergnügen für mich waren. Im letzten Drittel geht es dann endlich wirklich und ausschließlich um Raffael. Das war ein wahres Lesevergnügen und hat mir gezeigt, wie sehr ich das gesamte Buch genossen hätte, wenn es sich seiner eigentlichen Thematik etwas konzentrierter gewidmet hätte.

Beeindruckend ist das fundierte historische und kunsthistorische Wissen – hier merkt man, daß der Autor Kunstgeschichte nicht nur studiert hat, sondern auch wirklich für sein Thema brennt. Die ausgesprochen verwickelte Geschichte des heutigen Italien in jenen Jahren wird uns sehr sorgfältig geschildert, historische Personen wie u.a. Leonardo da Vinci und Michelangelo, sowie die drei Päpste, die Rom zwischen 1494 und 1520 erlebte, werden hier lebensnah und echt geschildert. Man kann absolut in diese Welt eintauchen. An manchen Stellen waren mir die Dialoge ein wenig zu modern (besonders gestolpert bin ich über die Formulierung „Es könnte mir nicht egaler sein…“), aber im Allgemeinen paßten Dialoge und historische Details gut zur Zeit. Besonders interessant fand ich die Schilderungen, wie Rom in jenen Jahren aussah, diese Mischung aus Ruinen der Antike und vatikanischen Prachtbauten; auch das Leben der einfacheren Bevölkerung in z.B. Siena wird hervorragend in die Geschichte eingebunden, überhaupt sind die historischen Hintergründe immer passend in die Geschichte eingeflochten. Italienische Begriffe werden immer wieder mal verwendet, sorgen so einerseits für Lokalkolorit, aufgrund eines fehlenden Glossars leider auch manchmal für ein wenig Verwirrung.

Eine farbige Landkarte Italiens in Vorder- und Hinterdeckel war sehr willkommen, auch die innere Gestaltung ist ansprechend. In einem kurzen Nachwort gibt der Autor einen kleinen Überblick über historische Abweichungen, die er bewußt vorgenommen hat und erklärt seine Inspiration für die Geschichte, was informativ war. Auch die im Buch beschriebenen Hintergründe zu vielen Kunstwerken waren interessant und ich habe mir so manches erwähnte Gemälde im Internet angesehen.

So ist „Raffael“ ein Buch, das sich durch eine gelungene Kombination von sorgfältig recherchierten Fakten und gelungenem Schreibstil auszeichnet und aus dem man viel lernen kann, das aber meiner Ansicht nach inhaltlich viel zu überladen war und sich von der eigentlichen Geschichte zu oft entfernte. Lesenswert ist es jedenfalls allemal.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere