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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.06.2020

4,5*: Überzeugender Endzeitroman der leisen Töne: tiefgründig, atmosphärisch und berührend!

Mein Name ist Monster
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Inhalt

Eine junge Frau überlebt den Untergang der Menschheit (durch eine unheilbare Krankheit) in einem Saatguttresor in Spitzbergen und wandert einsam durch eine menschenleere Welt – bis sie auf ein ...

Inhalt

Eine junge Frau überlebt den Untergang der Menschheit (durch eine unheilbare Krankheit) in einem Saatguttresor in Spitzbergen und wandert einsam durch eine menschenleere Welt – bis sie auf ein Mädchen trifft…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: sehr kurz
Tiere im Buch: - Im Buch werden Tiere verletzt und getötet (Spatz, Silberfischchen, Schafe, Hühner, Hunde, Maden). Tiere werden gegessen und geschlachtet, um überleben zu können. Es werden keine Tiere gequält.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, Tod von Tieren, Suizid, Erbrechen, Mobbing;

Warum dieses Buch?

Hier hat mich der Klappentext neugierig gemacht – und die Parallelen zur aktuellen Situation.

Meine Meinung

Einstieg (4 Lilien)

Der Einstieg in die Geschichte ist mir trotz der ruhigen Erzählweise und der wenigen Dialoge erstaunlich leicht gefallen. Meine Neugier war sofort entfacht und ich wollte mehr über diese apokalyptische Welt erfahren!

Schreibstil (5 Lilien ♥)

„Hoffnung tötet. Sie bläst einen auf wie einen Ballon und wendet sich ab, wenn die Wirklichkeit mit spitzer Nadel zusticht.“ E-Book, Position 957

Der Schreibstil ist vielleicht ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber ich mochte ihn sehr. Katie Hale schreibt einfach, aber gleichzeitig eindringlich und berührend. Nie ist ihre Erzählweise oberflächlich, die Autorin nimmt sich genug Zeit für philosophische Fragestellungen und die Ausarbeitung ihrer Themen. Außerdem enthält das Buch sehr schöne und gelungene Metaphern, Vergleiche und Zitate.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (5 Lilien ♥)

„Wenn die Welt in Flammen steht, vergisst man leicht, dass es Eis gibt.“ E-Book, Position 11

Manchmal weiß man schon beim ersten Satz: „Das wird gut!“ So war es auch hier. Mit „Mein Name ist Monster“ hat Katie Hale eine ungewöhnliche Dystopie der leisen Töne geschaffen, die mich berühren und emotional mitreißen konnte. Hier steht nicht der Weltuntergang selbst im Fokus, sondern das eigentlich wenig spektakuläre tägliche Leben und Überleben danach. Es geht um Nahrungssuche, Verletzungen, Tierhaltung, Gartenarbeit und die Beziehung zwischen einer erwachsenen, menschenscheuen Frau und einem verwilderten Mädchen. Das Worldbuilding ist sehr gelungen, und trotz der ruhigen Geschichte kann die Autorin mit so mancher unerwarteten Wendung überraschen.

Inspiriert zu ihrem Buch wurde die Schriftstellerin von Klassikern wie „Robinson Crusoe“ und „Frankenstein“, was man der Geschichte auch anmerkt. In ihrer Heimat ist die Britin vor allem als Lyrikerin bekannt und hat bereits Preise für ihre Gedichtbände erhalten. Thematisch stehen philosophische Fragestellungen ebenso im Fokus wie die beklemmende Einsamkeit und Gefährlichkeit der neuen Welt, Freundschaft und Liebe. Alle diese Aspekte behandelt die Autorin tiefgründig; düstere Momente wechseln sich hierbei mit hoffnungsvollen ab. Dass manches unklar bleibt bzw. nur angedeutet wird, hat mich nicht weiter gestört, obwohl ich über die Vergangenheit des Mädchen gern noch mehr herausgefunden hätte. Die Geschichte mündet schließlich in ein sehr gelungenes Ende, das mich zufrieden zurückließ.

Erinnert hat mich „Mein Name ist Monster“ an die Dystopie „Anna“ von Niccolò Ammaniti. Ich habe das Buch damals mit drei Sternen bewertet (es hatte seine Schwächen), doch beim Lesen habe ich gemerkt, dass viele Szenen aus dem Roman auch heute noch sehr präsent in meinem Kopf sind. Das Buch wirkt also länger nach, als man denkt. Wenn euch also „Mein Name ist Monster“ gefallen hat, könnte auch Ammanitis Dystopie etwas für euch sein.

In „Mein Name ist Monster“ sind Kriege, in denen eine tödliche Krankheit als Waffe eingesetzt wurde, schuld am Untergang der Menschheit. Die Parallelen zur aktuellen Corona-Situation sind natürlich nicht zu übersehen, weshalb man dieses Buch im Moment wohl noch einmal mit ganz anderen Augen liest, als man das normalerweise tun würde. Dadurch wird die Geschichte noch interessanter und erhält eine zusätzliche Bedeutungsebene. Die Dystopie kann mit Sicherheit als Warnung betrachtet werden, welche unkalkulierbaren Folgen es haben kann, wenn biologische Waffen eingesetzt werden.

Protagonistinnen (4,5 Lilien)

„Ich glaube, wenn es alle anderen nicht schaffen, kann man nur als Monster überleben.“ E-Book, Position 85

In der Mitte des Buches gibt es einen unerwarteten Perspektivenwechsel – ab da sehen wir plötzlich alles durch die Augen des Mädchens. Zuerst habe ich mich dagegen gesträubt, weil ich mich an Monster gewöhnt hatte, doch nach und nach hat mich die junge Heldin um den Finger gewickelt und sich in mein Herz geschlichen. Der Schreibstil passt sich auf gelungene und authentische Weise der einfacheren (aber nicht weniger tiefgründigen) Denkweise und Sprache der jungen Hauptfigur an, was mir sehr gut gefallen hat. Ich mochte ihre Intelligenz, ihre Unbeschwertheit, ihre Naivität und ihr Philosophieren, und ich liebte es, wie sie sich oft diese komplizierte Welt erklärte und Theorien zu verschiedenen Dingen aufstellte.

Auch die junge Frau, der wir in der ersten Hälfte des Buches bei ihrer Reise in den Süden über die Schulter schauen, habe ich gerne begleitet. Sie war gut ausgearbeitet, hat glaubwürdige Schwächen und Stärken und es fiel mir leicht, mit ihr mitzufühlen. Dennoch hatte ich zwischendurch meine Probleme mit ihr. Sie ist oft nicht einfach und obwohl ich verstehe, dass sie ihre Vergangenheit (das Anderssein, das Mobbing) geprägt hat, fand ich sie in manchen Momenten unangemessen grausam Erik und Monster gegenüber, wodurch sie mir manchmal etwas unsympathisch war. Insgesamt fand ich aber auch sie interessant und sehr liebevoll ausgearbeitet, weswegen ich hier nur einen halben Stern abziehe.

Spannung (4 Lilien) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

Obwohl dieser Roman in der ersten Hälfte kaum Dialoge enthält, zog sich das Buch zu keinem Zeitpunkt, was mit Sicherheit auch an den sehr kurzen, episodenhaften Kapiteln liegt, die sich schnell weglesen lassen. Eine subtile Spannung durchzieht die Dystopie, man will unbedingt wissen, wie es weitergeht und ob die Geschichte für die beiden „Monster“ gut ausgeht. Die ruhigen Momente sind oft die schönsten. Nur im Mittelteil hätte es die Geschichte noch etwas temporeicher sein dürfen.

In „Mein Name ist Monster“ gelingt es Katie Hale, eine sehr dichte Atmosphäre zu kreieren. Die Leere der Welt, die Stille, der Verfall, die Einsamkeit – der Untergang der Menschheit wird in jeder Zeile, in jeder treffenden Beschreibung spürbar. Man fühlt sich, als wäre man selbst dort und liest die Geschichte gerade zur Corona-Zeit noch einmal mit ganz anderen Augen.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden! (wenn man das Mädchen als junge Frau zählt)
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: brünstiges Miststück

Hier hat das Buch wirklich alle Lilien verdient! Wir begleiten zwei starke, mutige Frauen, die hart arbeiten und ganz ohne männliche Hilfe dafür sorgen, dass sie überleben. Beide Hauptfiguren sind nicht konventionell schön (was ich erfrischend finde!), aber intelligent und wild und entsprechen keinen Geschlechterklischees. Katie Hale hat hier alles richtig gemacht!

Mein Fazit

Mit „Mein Name ist Monster“ hat Katie Hale eine ungewöhnliche Dystopie der leisen Töne geschaffen, die mich emotional mitreißen konnte. Ich mochte den eigenwilligen, aber eindringlichen Schreibstil, die schönen Vergleiche, die tiefgründige Behandlung der Themen des Buches, die Parallelen zur aktuellen Situation, die unkonventionellen, starken, mutigen und liebevoll ausgearbeiteten Protagonistinnen, die kurzen Kapitel, die dichte Atmosphäre und die subtile Spannung der dialogarmen Dystopie. Nur zwei kleine Kritikpunkte habe ich: Die ältere Heldin war mir in manchen Momenten unsympathisch und der Mittelteil hätte noch etwas temporeicher sein dürfen, weswegen ich eine halbe Lilie abziehe. Meiner Meinung nach hat diese Dystopie viel mehr Aufmerksamkeit verdient! Von mir gibt es deshalb eine klare Leseempfehlung – vor allem für Fans der ruhigeren Töne!
Wer dieses Buch mochte, mag möglicherweise auch: „Anna“ von Niccolò Ammaniti.

Wer dieses Buch mochte, mag möglicherweise auch: „Anna“ von Niccolò Ammaniti.

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 4,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Protagonistinnen: 4,5 Lilien
Spannung: 4 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.04.2020

Eindringlicher, intensiver Roman über menschliche Fehler, Schwächen und Schuld

Miracle Creek
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht bei einer HBO-Therapiesitzung, bei der die PatientInnen mit purem Sauerstoff versorgt werden, um damit unter anderem ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht bei einer HBO-Therapiesitzung, bei der die PatientInnen mit purem Sauerstoff versorgt werden, um damit unter anderem Autismus zu heilen, ein Sauerstofftank in Flammen auf. Es war Brandstiftung. Kitt, Mutter von fünf Kindern, und Henry, ein achtjähriges Kind, sterben, drei weitere Menschen werden schwer verletzt. In einem Gerichtsprozess soll nun geklärt werden, wer das Feuer gelegt hat. Auf der Anklagebank sitzt Elizabeth, Henrys Mutter. Doch sie ist nicht die Einzige in Miracle Creek, die Geheimnisse hat…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive (im Wechsel)
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + Eine Mücke wird getötet, ein Hund stirbt (wird nur kurz erwähnt) und Tierversuche werden angesprochen. Ansonsten werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt, Suizid, Tod von Menschen (Erwachsene und Kind) und schwere Verletzungen durch Feuer, Rassismus, Misogynie

Warum dieses Buch?

„Miracle Creek“ hat mich sofort angesprochen. Der Klappentext klang nämlich so vielversprechend! Die Geschichte erinnerte mich an "Kleine Feuer überall" von Celeste Ng, das ich auch sehr mochte. Das Buch hat außerdem schon sehr viel Lob erhalten und wurde von einigen Magazinen zu einem der besten Bücher des Jahres gewählt - das machte mich zusätzlich neugierig!

Meine Meinung

Einstieg (4 Sterne)

Obwohl die Geschichte am Anfang nur langsam ins Rollen kommt, dauerte es nicht lange, bis ich ins Buch fand. Das Buch konnte mich aufgrund des eindringlichen, unaufgeregten Schreibstils sofort in seinen Bann ziehen. Ich wollte unbedingt weiterlesen.

Schreibstil (4 Lilien)

"Eine Tragödie macht einen nicht immun gegen weitere Tragödien, und Schicksalsschläge werden nicht gerecht hier und da verteilt - mit Unglück wird klumpenweise, gebündelt nach einem geworfen, unkontrollierbar und chaotisch." Seite 10

Ich liebe den Schreibstil von Angie Kim! Sie schreibt relativ komplex und anspruchsvoll (ihre oft verschachtelten Sätze gehen nicht selten über mehrere Zeilen), dabei aber sehr flüssig und angenehm lesbar. Ihre unaufgeregte, ruhige Sprache ist unheimlich eindringlich und voller wunderschöner Vergleiche und Beschreibungen. Am meisten beeindruckt hat mich aber, wie unvergleichlich nuanciert sie Menschen beschreibt: ihre Gefühle in allen Schattierungen, ihre Gedanken, ihre Gesten, Blicke und Mimik. Großartig!

Inhalt, Themen & Ende (4 Lilien ♥)

„‘Wir haben alle hin und wieder Gedanken, für die wir uns schämen.‘“ Seite 481

Menschliche Fehler und Schwächen und ihre tragischen Folgen – sie machen den Kern dieses tragischen, intensiven und berührenden Romans aus, der auch euch nicht kaltlassen wird. Es geht in „Miracle Creek“ um jene düsteren Gedanken, die wir uns verbieten, um Seiten an uns, die wir verleugnen, um starke negative Emotionen wie Neid, Frustration und Kränkung, um Lügen und Fehler, die man nicht wiedergutmachen kann, und um Bereuen und brennende Schuldgefühle. Diese Themen behandelt die Autorin emotional und tiefgründig und bringt uns dazu, über unsere eigenen Unzulänglichkeiten nachzudenken. Wer von uns hatte noch nie einen unangemessenen, düsteren und verwerflichen Gedanken, auch wenn er uns nur einen Sekundenbruchteil durch den Kopf geschossen ist? Wer hat noch nie einen Anflug von Neid verspürt, wenn einer anderen Person etwas gelingt, das man sich schon lange wünscht? Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein! Und: Wer hat auch diese Gefühle sofort verdrängt und verurteilt und sich selbst einen schlechten Menschen geschimpft? Dieses Buch hat mich, auch wenn ich gerade nicht gelesen habe, nicht mehr losgelassen. Solche Bücher sind doch die besten, oder? Die offene Schilderung von Fehlern und Schwächen hilft vielleicht auch, eigene unerwünschte Gefühle ein Stück weit zu akzeptieren und als menschlich anzunehmen.

Neben Rassismus, Heimat und den Schwierigkeiten, die Migration mit sich bringt, wird auch Gewalt in der Erziehung und wie erschreckend weit verbreitet und alltäglich sie immer noch zu sein scheint, angesprochen – hier muss sich endlich etwas ändern! Sehr interessant fand ich zudem, dass verschiedene Menschen sich an eine Situation ganz unterschiedlich erinnern und diese auch ganz unterschiedlich bewerten. Und keine Sorge: Auch positive Themen wie Liebe, Familie und Freundschaft haben Einzug in die Geschichte gefunden.

Noch etwas anderes ist in „Miracle Creek“ ganz zentral: die Abwesenheit der Väter. Im Mittelpunkt stehen Mütter von Kindern mit Behinderung und ihre Liebe, aber auch ihre Probleme, ihre Fehler und Schwächen, ihre hohe Verantwortung, ihr Ganz-allein-für-alles-zuständig-Sein, ihre Überforderung, ihr Verzicht und alles, was sie aufgeben müssen. Unweigerlich stellt man sich eine Frage: Wo sind eigentlich die Väter? „Miracle Creek“ zeichnet leider ein authentisches, trauriges Bild unserer Gesellschaft, das leider der Wahrheit entspricht: Wenn es schwierig wird, sind es oft die Männer, die gehen und die Frauen, die ganz selbstverständlich bei ihrem Kind bleiben und am Ende ganz alleine dastehen. Mehr dazu beim Unterpunkt „Feministischer Blickwinkel“.

Für mich war „Miracle Creek“ bis zur gelungenen Auflösung und zum runden, mich zufrieden zurücklassenden Ende ein wahrer Lesegenuss! In der Geschichte, die aus mehreren Perspektiven erzählt wird und viele Rückblenden enthält, werden Stück für Stück neue Puzzleteile und überraschende Geheimnisse offenbart, wodurch sich ein richtiger Sog einstellt. Die spannende Gerichtsverhandlung mit ihren unerwarteten Wendungen wechselt sich hierbei auf gelungene Weise mit ruhigeren Schilderungen des Privatlebens der Figuren ab.

„Gute und schlechte Dinge – jede Freundschaft, jede Liebe, jeder Unfall, jede Krankheit – waren das Ergebnis der Verschwörung hunderter Kleinigkeiten, die jede für sich genommen vollkommen belanglos waren.“ Seite 500

ProtagonistInnen (5 Lilien ♥) & Figuren (5 Lilien ♥)

Die Figurenzeichnung ist ohne Zweifel eine der größten Stärken des Romans: Durch Kims nuancierte Schilderungen der Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen, durch deren authentische Schwächen, Träume, Zweifel und Ängste, wirken sie sehr plastisch und dreidimensional. Man fühlt und leidet unheimlich intensiv mit den liebevoll ausgearbeiteten Figuren mit und identifiziert sich mit ihnen. Auch die Nebenfiguren sind durchgehend sehr lebendig beschrieben und sehr gut gelungen. „Miracle Creek“ zeigt, dass es leider oft gute Menschen sind, die Fehler machen, die schlussendlich in eine Tragödie münden.

Spannung & Atmosphäre (4 Lilien)

Eine gewisse Grundspannung ist im Buch durchgehend vorhanden, ebenso wie zahlreiche hochemotionale und atemlos spannende Momente. Jedoch bricht der Spannungsbogen hin und wieder auch ein. Mir hätte etwas mehr Tempo an manchen Stellen gut gefallen, aber das ist Kritik auf hohem Niveau, denn auch so war ich mit „Miracle Creek“ und seiner dichten Atmosphäre sehr zufrieden.

Feministischer Blickwinkel (2 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++, Hu++

„‘Mein Mann ist das überhaupt nicht gewöhnt, sich um die Kinder zu kümmern.‘ […] ‚Bei mir genau das Gleiche. Hoffentlich ist der Prozess schnell vorbei.‘“ Seite 155

„Miracle Creek“ enthält viele starke und interessante Frauenfiguren und besteht problemlos den Bechdel-Test. Außerdem ist die Feministin Janine ein echter Lichtblick. Leider gibt es aber auch einiges, was ich kritisieren muss. Angie Kim, eine ehemalige Anwältin, die sich selbst als Feministin beschreibt, hat zwar eine Art authentische Milieustudie über das Leben von Müttern von Kindern mit Behinderung geschrieben und zeigt darin auf, wie sehr die Frauen unter der Belastung, ganz alleine für alles verantwortlich zu sein, leiden, aber sie kritisiert diese Situation meiner Meinung nach nicht deutlich genug. Stattdessen wird (vielleicht auch unabsichtlich) der Mythos der Mutter, die sich selbst für ihr Kind aufgibt, gefördert. Warum gibt es keinen einzigen Vater, der mit seinem Kind zur Therapie fährt? Warum sind es die Männer nicht gewohnt, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern? Das ist doch einfach nur traurig!

Das Buch enthält viele Rollenstereotype und besonders in Youngs Familie herrscht (bedingt durch Einflüsse aus der koreanischen Kultur) eine sehr traditionelle Rollenaufteilung, bei der der Mann als Familienoberhaupt Befehle verteilt und Entscheidungen trifft und bei der die Frau still zu sein und diese auszuführen hat, was mir als Feministin ebenfalls nicht gefallen hat. Zum Beispiel schreibt Young ihre Masterarbeit nicht fertig, weil ihr von ihrer Mutter gesagt wird, dass kein Mann eine besser ausgebildete Frau haben möchte. Auch wenn es zumindest bei einer weiblichen Figur im Laufe des Romans eine positive Entwicklung gibt, lassen sich die Frauen in diesem Buch (mit Ausnahme der einzigen Feministin Janine) viel zu viel von den Männern gefallen!

Auch die Doppelmoral hat mich wütend gemacht: Als eine Ehefrau vermutet, dass ihr Ehemann (der ihr die Treue geschworen hat!) eine Beziehung zu einer Minderjährigen unterhält, stellt diese nicht etwa ihren schuldigen Mann zur Rede, sondern beschimpft lieber die vermeintliche Affäre (die single ist und somit keine Verpflichtungen hat) als Hu++ und Schlam++. Das ist wieder ein wunderschönes Beispiel für verinnerlichte patriarchale Werte, Schuldumkehr und Slut Shaming! Ich würde mir wünschen, dass die Autorin beim Thema Geschlechterstereotype noch etwas sensibler wird und dass ihre feministische Einstellung beim nächsten Buch stärker Einzug in den Text findet. Dann gibt es auch alle Sterne!

Mein Fazit

„Miracle Creek“ ist ein intensiver, tragischer und berührender Roman über menschliche Fehler, Schwächen und Schuld, der auch euch nicht kaltlassen wird. Das lag vor allem am wunderbaren Schreibstil von Angie Kim: Sie schreibt relativ komplex und anspruchsvoll (ihre oft verschachtelten Sätze gehen nicht selten über mehrere Zeilen), dabei aber sehr flüssig und angenehm lesbar. Ihre unaufgeregte, ruhige Sprache ist unheimlich eindringlich und voller wunderschöner Vergleiche und Beschreibungen. Am meisten beeindruckt hat mich aber, wie nuanciert sie Menschen beschreibt: ihre Gefühle in allen Schattierungen, ihre Gedanken, ihre Gesten, Blicke und Mimik. Großartig! Die Figurenzeichnung ist ohne Zweifel eine der größten Stärken des Romans: Die Figuren haben authentische Schwächen, Träume, Zweifel und Ängste und wirken dadurch sehr plastisch und liebevoll ausgearbeitet. Man fühlt und leidet unheimlich intensiv mit ihnen mit. Es geht in „Miracle Creek“ (neben positiven Themen wie Liebe und Freundschaft) um die düsteren und verwerflichen Gedanken und Gefühle, die wir uns verbieten, um Seiten an uns, die wir verleugnen, um schwerwiegende Fehler und um Bereuen und brennende Schuldgefühle. Diese Themen behandelt die Autorin emotional und tiefgründig. Noch etwas anderes ist in „Miracle Creek“ ganz zentral: die Abwesenheit der Väter. Im Mittelpunkt stehen Mütter von Kindern mit Behinderung und ihre Liebe, aber auch ihre Probleme, ihre hohe Verantwortung, ihr Frust, ihre Überforderung und ihr Verzicht. Unweigerlich stellt man sich eine Frage: Wo sind eigentlich die Väter? „Miracle Creek“ zeichnet zwar (leider!) ein authentisches (und trauriges) Bild unserer Gesellschaft und zeigt auf, wie sehr Mütter unter der Belastung, ganz alleine für alles verantwortlich zu sein, leiden, aber sie hinterfragt und kritisiert diese Situation meiner Meinung nach nicht deutlich genug. Problematisch fand ich auch die traditionellen Rollenbilder, die Geschlechterstereotypen und die Doppelmoral (inklusive Slut Shaming). Dafür gibt es einen halben Stern Abzug. Ich würde mir wünschen, dass die Autorin im nächsten Buch sensibler mit diesen Aspekten umgeht und dass sich ihre feministische Einstellung stärker im Text spiegelt. In der Geschichte, die aus mehreren Perspektiven erzählt wird und in der sich die spannende Gerichtsverhandlung mit ruhigeren Schilderungen des Privatlebens der Figuren abwechselt, werden Stück für Stück neue Puzzleteile und überraschende Geheimnisse offenbart, wodurch sich ein richtiger Sog einstellt. Mir hätte etwas mehr Tempo an manchen Stellen gut gefallen, denn hin und wieder bricht der Spannungsbogen ein, doch auch so war ich mit „Miracle Creek“ und seiner dichten Atmosphäre sehr zufrieden. Für mich war der Roman jedenfalls bis zur gelungenen Auflösung und zum runden Ende ein wahrer Lesegenuss! Daher kann ich euch dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen! Lest „Miracle Creek“ aber nur, wenn ihr den Kopf in den nächsten Tagen nicht freihaben müsst. Denn: Ihr könnt das Buch zwar zuklappen, die Geschichte wird euch aber nicht mehr loslassen!

Wer dieses Buch mochte, mag wahrscheinlich auch:
„Kleine Feuer überall“ von Celeste Ng
„Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 5 Lilien ♥
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
ProtagonistInnen: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 4 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 2 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 ♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien und ein Herz und damit den Lieblingsbuchstatus!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.12.2019

4,5*: Kinder bedeuten Verzicht – aber nur für Frauen! Ehrlich, beklemmend – und leider (!) sehr nah an der Realität!

Jesolo
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Achtung: Die Rezension enthält Spoiler!

Inhalt

Georg und Andrea sind seit ihrer Jugend ein Paar. Ihr alljährlicher Urlaub im immer gleichen Hotel in Jesolo, Italien, steht für ihre Beziehung, die sich ...

Achtung: Die Rezension enthält Spoiler!

Inhalt

Georg und Andrea sind seit ihrer Jugend ein Paar. Ihr alljährlicher Urlaub im immer gleichen Hotel in Jesolo, Italien, steht für ihre Beziehung, die sich seit Jahren nicht wirklich verändert hat. Andrea ist zwar nicht glücklich, aber sie findet ihr Leben, ihren Freund, ihren Job okay. Jedoch gibt es eine Sache, die immer mehr zum Problem wird: Andrea will ihre Freiheit, sich nicht festlegen, reisen, sich alles offen halten – ihr Freund hingegen möchte die Wohnung im ersten Stock des Elternhauses ausbauen, sesshaft werden und sehnt sich nach Kindern und Familie. Seit Jahren versucht er Andrea zu überreden, endlich bei ihm einzuziehen, doch sie weigert sich – bis sie ungeplant schwanger wird. Für Andrea beginnt eine Zeit voller Kompromisse, voller gut gemeinter Ratschläge und Übergriffe von allen Seiten…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blessing
Seitenzahl: 224
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis lang
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere im Buch verletzt, getötet oder gequält (es kommen keine vor). Fleisch wird allerdings von den Figuren gegessen.

Warum dieses Buch?

„Jesolo“ war für den Österreichischen Buchpreis 2019 in der Kategorie „Debüt“ nominiert. Doch nicht nur diese Tatsache, sondern auch die Empfehlung der feministischen Autorin Angela Lehner (ihr Buch „Vater unser“ war eines meiner absoluten Lesehighlights dieses Jahr!) und der Klappentext weckten in mir sofort den Wunsch, dieses Buch zu lesen!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Ich hatte keine Probleme, in die Geschichte zu finden. Der einfache Schreibstil und die treffenden, ehrlichen Beschreibungen des Urlaubs haben mir den Einstieg leicht gemacht und mich sofort überzeugt.

Schreibstil (+)

Tanja Raich hat schreibt sehr klar, parataktisch, schnörkellos und einfach. Ihre gnadenlose Ehrlichkeit und nüchterne, beobachtende Erzählweise, die oft ohne Wertungen auskommt, fand ich großartig, weil dadurch die Beklemmung beim Lesen nur stärker wird und die Ungerechtigkeiten noch deutlicher hervortreten. Obwohl nur wenige Adjektive verwendet werden, haben mir diese niemals gefehlt, da das Buch trotzdem sehr anschaulich ist. Trotz der einfachen Sprache ist die Erzählweise nicht oberflächlich, sondern geht in die Tiefe, präsentiert zahlreiche Weisheiten und Wahrheiten, wunderbare, poetische Beschreibungen, und unzählige einprägsame Zitate, die den Nagel auf den Kopf treffen.

Obwohl die meist kurzen und einfachen Hauptsätze die innerliche Ruhelosigkeit, die durcheinandergeratenden Emotionen und die innere Zerrissenheit der Protagonistin sehr eindrucksvoll veranschaulichen, war die Lektüre durch den oft abgehackt wirkenden Stil, durch den teilweise kein richtiger Lesefluss aufkommen konnte, dennoch nicht immer leicht und ein Genuss. Doch je weiter die Lektüre hinter mir liegt, desto mehr schätze ich das Buch und seine Langzeitwirkung!

„Dieser erwachsene Mann, der gefallen will, der alles richtig machen will, der Verantwortung übernehmen will, hat sich über dich gelegt und nach und nach deine Persönlichkeit aufgefressen. Selbst mir ist es nicht aufgefallen, weil er langsam vorgegangen ist und sich an deinem Körper entlanggearbeitet hat, Stück für Stück.“ E-Book, Position 377

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„Das, was du vorher warst, zählt nicht mehr. Wie es dir geht, zählt nicht mehr. Das, was zählt, ist dein Kind. […] Für dich ändert sich alles, aber für deinen Mann ändert sich wenig. Er arbeitet und schläft genauso wie vorher, und abends kommt er nach Hause und fragt: Was hast du den ganzen Tag gemacht?“ E-Book, Position 1385

„Jesolo“ ist ein wichtiges Buch, das zur richtigen Zeit erschienen ist und all jene, die behaupten, dass wir den Feminismus doch gar nicht mehr brauchen, weil wir die Gleichstellung von Mann und Frau ja schon längst erreicht haben, Lügen straft. Was im Roman beschrieben wird, ist beklemmend, frustrierend, macht wütend. Vor allem, weil es die Realität wiederspiegelt. Noch immer sind es (hauptsächlich, es gibt natürlich auch Ausnahmen) die Frauen, deren Leben sich nicht nur während, sondern auch nach der Schwangerschaft grundlegend verändert. Noch immer sind sie es, von denen wie selbstverständlich angenommen wird, dass sie zu Hause bleiben oder Teilzeit arbeiten, Karriereknicks und Altersarmut in Kauf nehmen, ihr Leben komplett umstellen. Ich nenne das „ungerecht“, aber viele Leute und die Gesellschaft nennen das leider immer noch „normal“.

Eine schwangere Frau scheint ihre Freiheit und Selbstbestimmung bis zu einem gewissen Grad aufgeben zu müssen: Alle reden auf sie ein, mischen sich ein, geben unerwünscht Ratschläge bezüglich Geburtsart, Stillen, Erziehung. Am Beginn verspricht Andis Freund noch, dass die im gleichen Haus wohnenden Schwiegereltern sich nicht einmischen werden, am Schluss des Buches betritt die Mutter schon mit ihrem Schlüssel die Wohnung und putzt dort unaufgefordert, will bei der Einrichtung mitbestimmen, drängt Andi in Richtung Hausfrau und Teilzeitkraft. Je weiter Andis Bauch wächst, desto mehr schrumpfen ihre Welt, Freiheit und Selbstbestimmung. Sie hat Angst (wie so viele) zu einer Frau ohne Namen zu werden, einer Frau, die von allen nur noch „Mama“ genannt wird, sogar vom eigenen Ehemann.

Eine andere Anekdote aus dem Buch: Bei Andis Arbeitsplatz kommt eine Kollegin aus der Karenz zurück. Ihre ehemalige Stelle als Teamleiterin wurde aber neu besetzt. Kein Problem, meint der Chef, sie kann ja weit unter ihren Qualifikationen im Sekretariat aushelfen, was ist schon dabei? Ja, was ist schon dabei, dass Frauen noch immer diejenigen sind, die die negativen Konsequenzen der Familienplanung tragen müssen? Solange sich nichts an der gegenwärtigen Situation ändert, solange Frauen weiterhin nur offiziell gleichgestellt sind, solange die Gesellschaft ihren Platz als Mütter zu Hause vor dem Herd sieht, braucht sich niemand zu wundern, wenn die Geburtenrate weiter sinkt! Warum sollen ständig nur wir verzichten und „zurückstecken“, während der Partner Stufe um Stufe die Karriereleiter hinaufklettert und sich selbst verwirklicht?

Trotzdem wird man als Frau immer noch zu Kindern gedrängt und sogar angefeindet, wenn man (wie ich) nicht vorhat, Kinder in die Welt zu setzen und Mutter zu werden. Mir wurde gesagt, dass das nicht normal sei, dass mein Leben keinen Sinn hätte. Männer haben mir mitgeteilt, dass sie finden, dass Frauen Kinder bekommen müssen, weil sie sonst im Alter „bitter“ werden (was immer das heißen soll). Mir wurde erklärt, dass diese „faulen“ und „wehleidigen“ Schwangeren, die sich einen Kaiserschnitt wünschen, weil sie z. B. Gewalt bei der Geburt (ein Thema, die immer noch schöngeredet und totgeschwiegen wird) vermeiden wollen, sich diesen Luxus doch bitte selbst bezahlen sollen. Freundinnen haben mir erzählt, dass ihnen Schmerzmittel während oder nach der Geburt verweigert wurden, dass es sofort vorbei war mit der gerechten Aufteilung der Hausarbeit und Pflegearbeit, dass sie sofort in traditionelle Rollenbilder gerutscht sind, als Kinder da waren. Es läuft beim Thema Familie immer noch so unglaublich viel falsch! Dieses Buch und auch persönliche Erfahrungen machen deutlich: Bis zur wahren Gleichstellung von Mann und Frau ist es noch ein weiter Weg!

„Jesolo“ ist ein ruhiger Roman ohne viel Handlung, das mich beim Lesen runtergezogen und Beklemmung in mir ausgelöst hat. Wer vielleicht sowieso gerade psychisch labil ist, sollte sich diesem Büchlein mit Vorsicht nähern, allen anderen (besonders Frauen und Männern, die über die Familienplanung nachdenken) sei es aber absolut ans Herz gelegt! Themen wie persönliche Freiheit, gesellschaftliche Erwartungen und Zwänge, veraltete Rollenbilder, scheinbare Gleichstellung, Selbstbestimmung und die Engstirnigkeit auf dem Land werden tiefgründig, ehrlich und eindrucksvoll behandelt. Es ist ein Buch, das beim Lesen wehtut und wütend macht, das einen aber auch zum Nachdenken anregt und lange in Erinnerung bleibt. Die Geschichte endet mit einem absolut passenden, poetischen Finale voller Ungewissheit, mit der sowohl die LeserInnen als auch Andi alleine gelassen werden.

Kleinere Kritikpunkte: Gestört haben mich die vielen Anzeigeprobleme des E-Books auf dem Kindle (manchmal endeten Sätze irgendwo und ihr Anfang war erst zwei Seiten später auffindbar etc.). Auch sehr negativ aufgefallen ist mir, dass aus irgendeinem Grund auf Anführungszeichen verzichtet wurde. Von diesem Stilmittel halte ich nichts, weil dadurch die Lektüre künstlich erschwert wird. Meiner Meinung nach will der Text dadurch anspruchsvoller wirken, als er ist. Teilweise war nicht einmal sofort erkennbar, ob jemand etwas sagt oder denkt oder wer was sagt, was ich unheimlich mühsam und nervig fand.

Protagonistin & Figuren (♥)

„Mein Leben liegt in Trümmern. Und ich wandle dazwischen umher wie eine Schiffbrüchige.“ E-Book, Position 543

Auf den ersten Seiten stand ich der Protagonistin noch etwas zwiespältig gegenüber. Teilweise wirkt sie etwas undankbar, launenhaft. Man fragt sich unweigerlich, warum sie nicht glücklich ist. Immerhin hat sie doch einen Freund, der zu ihr steht, der es ernst meint und bereit für den nächsten Schritt ist – etwas, das sich in Andreas Alter viele Frauen vermutlich sehr wünschen. Doch schnell nähert man sich dieser innerlich zerrissenen, unentschlossenen und zunehmend unglücklichen Figur mit Hang zur Melancholie an, deren Freiheit ihr mit jedem Kompromiss weiter genommen wird und die immer weiter in eine Rolle rutscht, die sie niemals haben wollte. Am Ende des Buches hatte ich einfach nur Mitleid mit ihr – sie war mir schon längst ans Herz gewachsen. Ich fühlte Solidarität mit ihr und wollte sie von den übergriffigen Menschen in ihrem Umfeld schützen. Eine bessere Protagonistin als die passive Andi hätte dieses Buch meiner Meinung nach nicht haben können.

Auch die anderen Figuren wirken sehr authentisch, dreidimensional und liebevoll ausgearbeitet. Besonders gut gelungen sind meiner Meinung nach die übergriffige Schwiegermutter und Andis Freund Georg.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Meiner Meinung nach waren die unheimlichen, abtraumhaften, oftmals gewalttätigen (Tag-)Träume von Andi (die vermutlich ihr Ventil sind, um mit dem Druck und der „Enge“ ihres neuen Lebens umzugehen) und die kafkaesken Beschreibungen im Buch eine seiner größten Stärken. Ich fand die beklemmende, deprimierende und düstere Atmosphäre sehr intensiv und gut gelungen!

Was die Spannung betrifft, war ich zwar immer neugierig, wie es weitergeht, jedoch gab es im Mittelteil einen Durchhänger, der sich für mich beim Lesen etwas zäh angefühlt hat. Gegen Ende stieg die Spannung aber noch einmal an.

Feministischer Blickwinkel (♥)

Das Wichtigste habe ich schon beim Unterpunkt „Inhalt“ gesagt. Abschließend möchte ich nur noch hervorheben, dass das Buch den Bechdel-Test besteht und dass Tanja Raich ein sehr wichtiges Werk geschaffen hat, das manchen Menschen sicherlich die Augen öffnen wird! Schön, dass der Roman für den Buchpreis nominiert wurde und dadurch viel Aufmerksamkeit erhalten hat!

Mein Fazit

„Jesolo“ bietet einen schonungslos ehrlichen Blick auf unsere Gesellschaft und die nur scheinbare Gleichstellung, die wir bisher erreicht haben. Tanja Raichs Schreibstil ist klar, einfach und schnörkellos. Durch ihre nüchterne, beobachtende Erzählweise treten die Ungerechtigkeiten nur noch deutlicher hervor. Obwohl durch den etwas abgehackten Stil bei mir teilweise kein richtiger Lesefluss entstehen konnte, mochte ich die Sprache, die poetischen Beschreibungen und die treffenden Zitate sehr! Und obwohl ich der passiven Protagonistin am Beginn noch etwas zwiespältig gegenüberstand, wuchs mir die innerlich zerrissene und melancholische Figur mit jeder Seite mehr ans Herz. Auch die anderen Personen wirken sehr authentisch und liebevoll ausgearbeitet. Meiner Meinung nach stellen die abtraumhaften (Tag-)Träume von Andi und die kafkaesken, beklemmenden und düsteren Beschreibungen eine der größten Stärken des Buches dar. Was die Spannung betrifft, gab es lediglich im Mittelteil einen Durchhänger, der sich für mich beim Lesen etwas zäh angefühlt hat. „Jesolo“ ist ein wichtiges und tiefgründiges Buch voller Ungerechtigkeiten und Übergriffe, das zur richtigen Zeit erschienen ist und all jene, die behaupten, dass wir den Feminismus doch gar nicht mehr brauchen, weil wir die Gleichstellung von Mann und Frau ja schon längst erreicht haben, Lügen straft. Noch immer sind es die Frauen, deren Leben sich nach der Schwangerschaft grundlegend verändert. Noch immer sind sie es, von denen wie selbstverständlich angenommen wird, dass sie zu Hause bleiben oder Teilzeit arbeiten, verzichten und zurückstecken, Karriereknicks und Altersarmut in Kauf nehmen, ihr Leben komplett umstellen. Es läuft beim Thema Familie immer noch so unglaublich viel falsch! Dieses Buch macht deutlich: Bis zur wahren Gleichstellung von Mann und Frau ist es noch ein weiter Weg! Mit „Jesolo“ hat Tanaj Raich einen Roman geschaffen, der beim Lesen wehtut, deprimiert und wütend macht, der einen aber auch zum Nachdenken anregt und lange in Erinnerung bleibt. Manchen Menschen wird er hoffentlich die Augen öffnen. Schön, dass er für den Buchpreis nominiert wurde und dadurch viel Aufmerksamkeit erhalten hat! Auch von mir gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne ♥
Spannung: 3,5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb überzeugte Lilien und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.06.2019

4,5 Sterne: Absurder, faszinierender, detailverliebter Augenschmaus, der einen zum Schmunzeln bringt

Frank Kunert. Lifestyle
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Inhalt

Der Fotograf erweckt in seinem dritten Bildband erneut Miniaturwelten zum Leben, und lädt die LeserInnen ein, in diese Welten einzutauchen und diese zu entdecken.

Übersicht

Genre: Bildband, Kunst, ...

Inhalt

Der Fotograf erweckt in seinem dritten Bildband erneut Miniaturwelten zum Leben, und lädt die LeserInnen ein, in diese Welten einzutauchen und diese zu entdecken.

Übersicht

Genre: Bildband, Kunst, Fotografie
Verlag: Hatje Cantz
Seitenzahl: 72

Warum dieses Buch?

Das Cover machte mich sofort neugierig, wodurch ich dann auch erstmals auf den Verlag aufmerksam wurde. Auch wenn ich keine Kunstexpertin bin, interessiere ich mich dennoch sehr für ästhetisch ansprechende oder schlichte interessante Fotografien oder Kunstwerke. Aus diesem Grund – und auch weil ich schon lange keinen Bildband mehr „gelesen“ habe, wollte ich mir dieses Werk unbedingt genauer ansehen.

Meine Meinung

Struktur (+)

Der Aufbau dieses Bildbandes ist meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Zuerst gibt es einen kurzen Essay von Jörg Restorff zu lesen, der sich mit dem Kontext dieses Bildbandes beschäftigt. Alle Texte sind schlauerweise sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache abgedruckt, wodurch deutlich wird, dass sich das Buch an ein internationales Publikum richtet. Im Anschluss daran folgen die Fotografien selbst – das Kernstück dieses Bildbandes – und eine sehr kurze Biographie des Künstlers.

Essay & Schreibstil (+)

In diesem eher kurzen Text erhalten die LeserInnen interessante Informationen zum Künstler (auch dieser selbst kommt immer wieder zu Wort) und Einblicke in seinen Schaffungsprozess. Schwarz-weiße Bilder, die Frank Kunert bei der Arbeit zeigen, ermöglichen einen überraschend unaufgeregten Blick hinter die Kulissen und zeigen, wie viel Arbeit in den kleinen Kunstwerken steckt. Auch Kommentare und kurze Interpretationen zu den verschiedenen Fotografien sind im Essay enthalten, sodass die Vorfreude auf die nachfolgenden Bilder immer größer wird. Der Schreibstil selbst ist angenehm zu lesen und unauffällig – es scheint, als würde sich der Autor hier zurücknehmen, weil die Fotografien im Mittelpunkt stehen sollen.

Fotografien (♥)

„‘Ich hatte immer das Bedürfnis, ungestört und in Ruhe arbeiten zu können; was mir am besten gelingt, wenn ich mir mit meinen Händen sozusagen im ‚stillen Kämmerlein‘ meine eigene Welt schaffen und damit Geschichten erzählen kann.‘“ Seite 13

Es ist mein erstes Buch aus dem Kunstverlag „Hantje Cantz“, und obwohl ich keine Kunstexpertin bin, war ich sofort fasziniert von Frank Kunerts Werken und fühlte mich davon wie magisch angezogen. In seinen menschenleeren, detailverliebten Miniaturkulissen werden durchaus auch ernste Themen wie z. B. der Tod angesprochen, im Zentrum dieses Bildbandes steht jedoch immer das Absurde. Der Künstler spielt mit unseren Erwartungen und Vorstellungen von Normalität und Alltag (die wir normalerweise nicht hinterfragen) und bricht sie – teilweise radikal. Es macht Spaß, in die kleinen Welten einzutauchen, weil es dort einiges zu entdecken gibt – wenn man sich die Zeit nimmt und die Bilder ganz genau betrachtet. Das hat eine angenehm entschleunigende Wirkung. Die oft feine Ironie und der manchmal auch etwas schwarze Humor entgehen einem sonst – und dabei sind gerade sie es, die diesen Bildband zu einem locker-leichten Augenschmaus und Lesegenuss machen und einem das eine oder andere Schmunzeln entlocken.

Wunderschön sind vor allem jene Bilder, die etwas mit Wasser zu tun haben – die unter Wasser stehenden Wohnzimmer und Dörfer haben mich teilweise auf charmante Art an den Film „Shape of Water“ erinnert. Nur ganz selten fand ich die Gegenstände und Farben nicht präzise genug gefertigt / aufgetragen – dann war mir nur allzu bewusst, dass es sich hier um Miniaturen handelt. In anderen Momenten hingegen konnte ich das vollkommen vergessen. Nicht alle, aber einige Bilder werden mir mit Sicherheit lange in Erinnerung bleiben, wie zum Beispiel die Fotografie mit dem Namen „Kletterurlaub“, die ein Hotel abbildet, dessen Zimmer man nur erreichen kann, wenn man zuerst einen äußerst schwierigen Kletterparcours meistert. Aber auch der „Bestattungsdiscounter“ konnte mich überzeugen und zum Lachen bringen. Dort gibt es nämlich endlich das Angebot, auf das wir alle so lange gewartet haben: Endlich bekommt man 15 Beerdigungen zum Preis von 10!

Mein Fazit

Mit „Lifestyle“ entführt uns Frank Kunert in faszinierende, detailverliebte kleine Welten, in denen es viel zu entdecken gibt, wenn man sich die Zeit nimmt, ganz in diese Kunstwerke einzutauchen. Ein kurzer Essay von Jörg Restorff, der sich mit dem Kontext dieses Bildbandes beschäftigt, und schwarz-weiße Bilder, die Frank Kunert bei der aufwändigen Arbeit zeigen und einen überraschend unaufgeregten Blick hinter die Kulissen ermöglichen, runden dieses Werk gelungen ab. Im Zentrum dieses Bildbandes steht das Absurde. Der Künstler spielt mit unseren Erwartungen und Vorstellungen von Normalität und Alltag (die wir normalerweise nicht hinterfragen) und bricht sie – teilweise radikal. Die oft feine Ironie und der manchmal auch schwarze Humor machen diesen Bildband zu einem locker-leichten Augenschmaus und wunderschönen Lesegenuss, der auch euch das eine oder andere Schmunzeln entlocken wird.

Bewertung

Aufbau: 5 Sterne
Essay & Schreibstil: 4 Sterne
Fotografien: 4-5 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch erhält von mir viereinhalb faszinierte Lilien!

Veröffentlicht am 12.03.2019

4,5 Sterne: Hoch spannender, wendungsreicher Thriller mit starker weiblicher Hauptfigur

Todeskäfig (Ein Sayer-Altair-Thriller 1)
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Special Agent Sayer Altair wird zu einem Mordfall gerufen: Ein Mädchen wurde in einem Käfig tot aufgefunden, sie ist verdurstet. Ungewöhnlich ist, dass sie nicht alleine ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Special Agent Sayer Altair wird zu einem Mordfall gerufen: Ein Mädchen wurde in einem Käfig tot aufgefunden, sie ist verdurstet. Ungewöhnlich ist, dass sie nicht alleine war: Ein kleiner Welpe leistete ihr Gesellschaft und kann lebend geborgen werden. Auf Sayer, die zur leitenden Ermittlerin gemacht wird, lastet großer Druck. Dann taucht ein Hinweis auf, dass ein weiteres Opfer gerade ebenfalls in einem Käfig um Leben und Tod kämpft. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 der Reihe um Agent Sayer Altair, Band 2 wird auf Englisch voraussichtlich im Juli erscheinen
Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
Seitenzahl: 496
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Sicht geschrieben (Sayer), einzelne Kapitel aus der Sicht der Opfer oder anderer Ermittler
Kapitellänge: angenehm kurz
Tiere im Buch: +/- Hundewelpen und Kätzchen werden in diesem Buch gequält und in einem Fall sogar getötet. Gleichzeitig werden die Tiere von anderen Personen aber sehr liebevoll umsorgt und behandelt. Einmal nimmt eine Person einen Welpen ungesichert im Beiwagen eines Motorrades mit – vollkommen unverantwortlich und lächerlich gefährlich meiner Meinung nach. Da konnte ich nur den Kopf schütteln!

Warum dieses Buch?

Im Vorfeld habe ich sehr viel Gutes über dieses Buch gehört, daher wollte ich es unbedingt lesen. Auch der Klappentext und die Leseprobe konnten mich sofort überzeugen.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg ist mir sehr leicht gefallen, sofort war ich in der Geschichte angekommen. Wir begleiten zwei Polizisten zu einem Einsatz, der gänzlich anders abläuft, als diese ihn sich vorgestellt haben. Ein Cliffhanger schürt schon am Beginn die Neugier. Hier gibt es keine lange, langweilige Einleitung, sondern einen direkten, interessanten Einstieg – so muss das sein!

Schreibstil (+)

Den Schreibstil empfand ich als sehr angenehm und flüssig. Für einen Thriller ist er optimal geeignet, weil er gleichzeitig sehr anschaulich und atmosphärisch ist und genauso gut Emotionen vermitteln wie Spannung erzeugen kann. Auch Humor blitzt immer wieder durch, was mir sehr gut gefallen hat. Bei alledem ist die Sprache angemessen komplex und wirkt niemals zu einfach oder gar lieblos – ich war absolut glücklich mit dem Schreibstil und bin bestimmt auch deshalb so schnell mit dem Buch vorangekommen.

„Hinter dem Absperrband hatte sich bereits eine kleine Schar von Schaulustigen zusammengefunden, deren neugierige Gesichter in der Abenddämmerung im Licht der Einsatzfahrzeuge abwechselnd rot und blau aufleuchteten.“ E-Book, Position 237

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

Mit „Todeskäfig“ erfindet die Autorin das Rad nicht neu, aber sie macht vieles richtig. Ellison Cooper hat sich einen kreativen, wendungsreichen und unterhaltsamen Plot ausgedacht, durch den sich ihr Thriller von anderen abhebt. Ich habe mich immer sehr darauf gefreut, abends wieder in Sayers Welt einzutauchen und mit ihr auf Mörderjagd zu gehen. Besonders gut gelungen sind die Beschreibungen der polizeilichen Ermittlungen. Man ist bei jeder Entdeckung ganz nah dran am Geschehen und kann den Ermittelnden über die Schulter schauen. Dabei sind die Erkenntnisse häufig wirklich absolut überraschend und unerwartet – es handelt sich hier glücklicherweise nicht wie bei Chris Carters „Blutrausch“ um Dinge, die man sich als Leserin schon vor zwanzig Seiten zusammengereimt hat. Ich habe gelesen, dass manche die detaillierte Ermittlungsarbeit langweilig fanden – ich hingegen war fasziniert davon und sehr interessiert daran. Themen wie Trauer, Einsamkeit und Freundschaft werden mit für einen Thriller angemessener Tiefe behandelt – dennoch ist hier natürlich noch Luft nach oben. Kleinere Widersprüche und Ungereimtheiten kann ich problemlos verzeihen.

Zwischendurch werden immer wieder interessante Studien und Informationen über Serienkiller eingestreut. Laut Autorin handelt es sich hierbei um echte, wissenschaftliche Fakten. Ich war daher ziemlich begeistert von den neuen Erkenntnissen, die ich hier gewinnen konnte. Das Ende und den Showdown fand ich ebenfalls gelungen, auch wenn es nicht besonders innovativ, sondern eher thrillertypisch ausfällt.

„Wissenschaftliche Studien belegen, dass Menschen, die etwas Warmes zu trinken in der Hand haben, automatisch entspannter sind und daher auch eher bereit zu reden.“ E-Book, Position 2265

Protagonistin und Figuren (+/-)

Die Hauptfigur hat mir sehr gut gefallen. Sie ist eine starke, unabhängige Frau, die Motorrad fährt und beruflich sehr erfolgreich ist. Sayer ist intelligent, sehr sympathisch und hat glaubwürdige Stärken und Schwächen. Ich konnte mich sehr gut in sie hineinversetzen, ihr Verhalten fast immer nachvollziehen und habe ihr sehr gerne über die Schulter geschaut. Sehr geschätzt habe ich an ihr auch, dass sie sehr empathisch ist und sich oft nichts sagen lässt, sondern selbstbewusst eigene Entscheidungen trifft und zu diesen steht. Nur selten konnte ich ihr Verhalten oder das anderer Figuren nicht nachvollziehen und fand es unrealistisch oder sehr unklug. Ein Beispiel: An einer Stelle fand ich, dass die schlimmen Verletzungen einer Figur extrem verharmlost werden, weil getan wird, als hätte sich junge Person nur wenige Tage später ihr schweres Schicksal akzeptiert. Das finde ich absolut unglaubwürdig, hier hätte man mehr in die Tiefe gehen müssen.

Auch bei den Nebenfiguren merkt man, dass die Autorin sich bemüht hat, sie dreidimensional zu zeichnen und verschiedene Facetten von ihnen zu zeigen. Jedoch ist das leider oft nicht gelungen – einige Figuren wirken austauschbar und blass, statt einzigartig, lebendig und unvergesslich. Sie hätten in jedem „typischen“ Thriller vorkommen können. Leider konnten sie mich nicht so berühren und sich in mein Herz schleichen, wie ich mir das gewünscht hätte. Ein Beispiel für einen Thriller mit ganz wunderbaren Charakteren ist Daniel Coles „Hangman“ – ich kann euch die Reihe nur wärmstens ans Herz legen.

„Wenn der Partner angeschossen wurde, drückten einem alle ihr Beileid aus, aber unter dem Mitgefühl schwang auch noch etwas anderes mit. Eine unausgesprochene Frage. ‚Warum hast du ihm keine Deckung gegeben? Warum warst du nicht für ihn da?‘“ E-Book, Position 1836

Spannung & Atmosphäre (♥)

„Todeskäfig“ – kaum zu glauben, dass es sich hier um ein Debüt handelt! – macht vieles richtig, auch was den Spannungsaspekt betrifft. Durch die kurzen Kapitel und die atmosphärische Spannung, die die Autorin von Beginn an aufbaut und das ganze Buch über halten kann, entsteht ein hohes Tempo. Ich bin nur so durch das Buch geflogen, die relativ hohe Seitenzahl (fast 500) habe ich dabei kaum bemerkt. Die Autorin legt gekonnt viele falsche Fährten (nicht nur einmal bin ich einer solchen gefolgt) und verwöhnt uns mit vielen unerwarteten Wendungen und gelungenen Cliffhangern, die nicht zu dramatisch und konstruiert wirken. An den richtigen Stellen wurde gekürzt und der Inhalt kurz zusammengefasst – auch das fand ich beim Lesen sehr angenehm. Die Atmosphäre ist oft von Unruhe geprägt, voller Neugier rätselt man mit und versucht die Bösen zu entlarven. Die Stimmung im Buch hat mich sehr an „Blutrausch“ von Chris Carter erinnert – nur ohne die Schwächen des genannten Thrillers.

Feministischer Blickwinkel (♥)

In dieser Kategorie muss ich ein Herz vergeben: Zum einen wird auf Vielfältigkeit geachtet, da die Hauptfigur dunkelhäutig ist, zum anderen hat sich die Autorin nicht nur für eine starke, intelligente Protagonistin entschieden, sondern generell viele Frauen in Führungspositionen eingesetzt. In vielen (vor allem von männlichen Autoren geschriebenen) Thrillern ist das Geschlechterverhältnis oft sehr unausgewogen – nicht jedoch hier: Frauen leiten die Ermittlungsarbeiten, sind leitende Rechtsmedizinerinnen, Direktorinnen des FBI oder schlicht stark und mutig. Anti-feministische Männer und Chauvinisten wie der Profiler wirken in solch einem Umfeld ungefährlich und lächerlich. Für das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen hat die Autorin ein großes Lob verdient. Alleine schon deswegen werde ich das Buch weiterempfehlen!

Mein Fazit

Mit „Todeskäfig“ hat Ellison Cooper das Rad nicht neu erfunden, aber sie hat einen unterhaltsamen, gelungenen Thriller geschrieben, der mit seinem flüssigen, anschaulichen Schreibstil, seiner starken, intelligenten Hauptfigur und seinem wendungsreichen, gelungenen Plot glänzen kann. Der Autorin gelingt es das ganze Buch über, das Tempo und die Spannung auf einem hohen Niveau zu halten, wodurch sich die Geschichte zu einem Pageturner voller falscher Fährten entwickelt. Das Miträtseln macht großen Spaß! Lediglich manchen Nebenfiguren hätte mehr Individualität gut getan, ihnen fehlt das gewisse Etwas, eine einzigartige, besondere Persönlichkeit. So bleiben einige leider blass und austauschbar. Ein großes Lob hat die Autorin dafür verdient, dass sie viele leitende Positionen mit starken Frauenfiguren besetzt und so in ihrem Thriller gegen die gläserne Decke anschreibt. Insgesamt kann ich euch „Todeskäfig“ also nur empfehlen: Taucht ein in Sayers Welt und geht mit ihr auf Mörderjagd – ihr werdet es nicht bereuen!

Den Folgeband werde ich auf jeden Fall auch lesen.

Empfehlung: Ellison Cooper schreibt wie Chris Carter – nur besser! Seinen Fans sei dieses Buch also wärmstens ans Herz gelegt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne
(Neben)Figuren: 3,5 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir zufriedene viereinhalb Lilien!