Tolles, wichtiges Thema - hinterher leider aus den Augen verloren
Die Tanzenden„Guten Tag, meine Herren. Danke, dass Sie gekommen sind. In der heutigen Lehrveranstaltung werde ich Ihnen die Hypnose an einer Patientin demonstrieren, die an einer schweren Hysterie leidet. (...) Mittels ...
„Guten Tag, meine Herren. Danke, dass Sie gekommen sind. In der heutigen Lehrveranstaltung werde ich Ihnen die Hypnose an einer Patientin demonstrieren, die an einer schweren Hysterie leidet. (...) Mittels Hypnose können wir ihre Anfälle künstlich erzeugen, um deren Symptome genauer zu untersuchen.“
Louise ist seit 3 Jahren in der Anstalt Salpêtriére, wegen etwas, das ihr angetan wurde. Sie ist gerade mal 16. Eugénie, 19 Jahre alt, wird von ihrem Vater und ihrem Bruder dort hingebracht, damit sie den Familiennamen nicht ruiniert. In der Anstalt treffen beide auf Geneviève, einer strengen, etwas älteren Krankenschwester, die keins der Schicksale an sich heranlässt. Zumindest bisher. Aber Eugénie verändert alles. Und der Höhepunkt des ganzen wartet am Tag des Balls der Verrückten auf die jungen Frauen.
Victoria Mas schafft in „Die Tanzenden“ eine sehr interessante, aber auch bedrückende Atmosphäre. Mit bildreicher und abwechslungsreicher Sprache führt sie die Leser*innen ins Paris Ende des 19. Jahrhunderts ein und vermittelt gekonnt, wie die damalige Gesellschaft gedacht und gehandelt hat. Es wird deutlich, wie Männer das Stadtleben und auch sonst alles beherrscht haben. Wie Frauen unter Vorwänden abgeschoben wurden, wenn sie nicht den Vorstellungen der Männer entsprachen. Sie hatten weder eine Stimme, noch Rechte, und das schildert die Autorin sehr eindringlich.
Dabei schreibt sie eher aus der Sicht von damals, um es greifbarer zu machen. Man sieht die Welt meist durch den Blick der Frauen. Trotzdem ist auch der Erzähler präsent und ab und zu ist ein verstecktes „angeblich“ oder ein „nicht wahr“ zu finden, das einen leicht wertenden Unterton aus heutiger Sicht mit sich bringt. Mich konnte der Stil von Victoria Mas, ihre Schreibweise, absolut überzeugen.
Auch die Handlung fing vielversprechend an. Mit Louise und Eugénie hat man zwei sehr unterschiedliche Mädchen – die eine will nur einen Mann finden, der sie liebt, und ihr ein schönes Leben bereitet. Die andere will niemals heiraten, niemals abhängig sein und völlig selbstbestimmt leben. Beiden wird das durch ihre Einweisung genommen: „Eine Mülldeponie für all jene, die die öffentliche Ordnung gefährdeten. Eine Anstalt für Frauen, deren Empfindungen nicht den Erwartungen entsprachen. Ein Gefängnis für diejenigen, die sich einer eigenen Meinung schuldig gemacht hatten“ (S. 34).
Der Handlungsbogen baut sich bis zu dem Zeitpunkt auf, an dem alle gemeinsam in der Anstalt feststecken und ich war absolut gespannt was dann passieren wird. Die erste Hälfte konnte mich absolut überzeugen.
Aber leider war die zweite Hälfte ziemlich enttäuschend. Sowohl die Werbung, die für dieses Buch gemacht wird, als auch der Klappentext und die erste Hälfte des Buches versprechen female empowerment und ein Auflehnen gegen das Patriarchat. Oder zumindest einen Versuch der Mädchen, gehört zu werden. Darauf hatte ich mich sehr gefreut. Stattdessen wandert der Fokus des Buches komplett zu Eugénies angeblicher übernatürlichen Gabe und bekommt einen spirituellen Touch, der für mich unnötig war und auch gar nicht wirklich reinpasste. Zwar gibt es am Ende eine kleine Auflehnung und auch einen Hoffnungsschimmer für eine der Personen, aber ich hätte mir die Entwicklung der Handlung anders gewünscht. Schade.
Trotzdem gibt es von mir eine Leseempfehlung, weil der Schreibstil überzeugt, die Thematik wirklich spannend ist. Aber man hätte defintiv mehr draus machen können! Für mich schwankt es etwas zwischen 3,5 und 4 Sternen.