„Sie hatte Angst um ihn, um sich, um den Jungen, der in seinem Zimmer schlief, um die Zeit, ja, auch um die Zeit hatte sie Angst. Sie hatte ein Gefühl für die Zeit entwickelt, dafür, wie sie verrann.“
Inhalt
Philipp Karst beschließt nach dem Tod seiner Eltern nicht nur das Haus auszuräumen, sondern sich auch intensiv mit der Lebensgeschichte und Liebesgeschichte von Herta und Georg auseinanderzusetzen. Vielleicht wird es ihm gelingen, aus der Gegenwart heraus die Beweggründe seiner Mutter zu verstehen, die sowohl seinem Vater als auch ihm schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hat. Möglicherweise kommt er auch der immerwährenden Sehnsucht auf die Spur, die seinen Vater dazu veranlasst hat, sich keine „neue“ Frau zu suchen und stattdessen auf die wenigen glücklichen Jahre an der Seite seiner Mutter zurückzublicken. Und mit viel Glück gelingt es ihm aufzudecken, warum in seinem Elternhaus immerzu nur Schweigen, stille Vorwürfe und mangelnde Erklärungen an der Tagesordnung waren. Hilfreich ist ihm dabei eine Kamera, ein Erinnerungsstück, welches die Geschicke seines Elternpaares wesentlich beeinflusst hat und mit dem auch er als Fotograf vieles verbindet. Wenn da nur nicht sein persönliches Unvermögen wäre, Gefühle zum Ausdruck zu bringen …
Meinung
Der deutsche Autor Gert Loschütz, der bereits zahlreiche Auszeichnungen für seine Werke bekommen hat und 2005 mit dem Roman „Dunkle Gesellschaft“ auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, thematisiert in seinem aktuellen Buch nicht nur die jüngere deutsche Vergangenheit, in der eine unüberwindbare Trennlinie mitten durch das Land verlief, sondern greift geschickt zu einer ganz persönlichen Lebensgeschichte, die rückblickend erzählt wird und den Leser dafür sensibilisiert, unter welchen Rahmenbedingungen Liebende während der politischen Teilung leben mussten und wie sie individuell damit umgegangen sind.
Die Handlung des Romans basiert im Wesentlichen jedoch auf einem Rückblick, den der erwachsene Sohn auf die Beziehung der Eltern wirft, die mit leichter Hand das Geschehen bestimmen und den Ich-Erzähler weit in den Hintergrund treten lassen. Es sind wenige glückliche Momente, denen er sich widmet und viele kleine Episoden, die dem Leser deutlich machen, wie aus einem landläufig „schönen Paar“ zwei sehr einsame Menschen werden können, denen nicht einmal der gemeinsame Sohn eine innere Verbundenheit schenken konnte.
Der gewählte Schreibstil wirkt sehr professionell, gediegen und schwermütig. Er schildert distanziert, sachlich und fast schon schmerzhaft objektiv die Gedankengänge und Handlungen der Protagonisten. Die Sätze greifen leicht und doch miteinander verwoben in die Erzählung ein, sie zwingen zum aufmerksamen Lesen und hallen nach. Gerade dieser ruhige, unaufgeregte Ton, der mit Attributen wie Beklemmung, Traurigkeit und Melancholie besetzt ist, macht einen großen Reiz des Buches aus. Allein die Art zu erzählen konnte mich für den Roman einnehmen, weil sie es ermöglicht selbst zu reflektieren.
Besonders positiv hervorheben möchte ich die handelnden Personen, die Gert Loschütz hier ins Feld führt. Sie bestreiten zu dritt ganz wesentliche Bestandteile der Geschichte, sie wirken in sich geschlossen, ausgewogen und berechenbar. Ihre Wünsche und Erwartungshaltungen werden transparent gemacht, jedoch immer nur aus der Eigenperspektive, so dass es dem Sohn als Ich-Erzähler dennoch unmöglich wird, die wahren Beweggründe seiner Eltern zu verstehen, auch wenn er ihnen nachspürt, um ihnen näher zu kommen, gelingt es ihm nicht im gewünschten Maße.
Dieser Roman löst eine ganze Welle von Gefühlen in mir aus, angefangen beim Unverständnis für die Mutter, die mit vollem Bewusstsein die Familie verlässt und sich nicht nur vom Mann, sondern auch vom Sohn trennt, bis hin zum Vater, der keine Erklärungen geben kann oder will. Gefangen in dieser lieblosen Umgebung, in der das Schweigen oberste Priorität hat, begegnet man einem Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht als Kontakt und Nähe und doch immer mehr in das einsame Lebensmodell seiner Eltern hineingezogen wird. Und darin sehe ich auch meinen Hauptkritikpunkt, es ist tatsächlich ein persönlicher. Denn Familie Karst lebt so weit von meinen Idealvorstellungen entfernt, dass mir nicht einer der Protagonisten ans Herz gewachsen ist, ganz im Gegenteil ich bin immer wütender geworden, wie man so leben und handeln kann. Wie das Unvermögen zu Bindung hier als dominantes Thema hervortritt und drei Menschenleben so bitter und nachhaltig beeinflusst. Dadurch tritt die Ursprungshandlung, die ihr Übel in der politischen Teilung Deutschlands sieht, immer weiter in den Hintergrund, so dass es letztlich ein sehr intensiver Roman über Menschen wird, die wegen mangelnder Kommunikationsfähigkeit ihre Familie zerrütten.
Und dennoch eine für mich geniale Geschichte, mit der es dem Autor gelungen ist, Momente, Menschen und Entscheidungen einzufangen, denen ich zwar nichts abgewinnen kann, die aber derart mitreißend und in sich schlüssig ist, dass ich davor den Hut ziehen muss. Selten hat mich ein Roman so gefesselt und bewegt, obwohl er keinerlei Parallelen und Verständnis in mir weckt, obwohl ich weder emotionalen noch praktischen Bezug dazu habe.
Fazit
Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diese Aufarbeitung eines Sohnes, der erkannt hat, seinen Eltern weder im Leben noch nach deren Tod näher kommen zu können und der dennoch versucht, zu akzeptieren was war. Dieses Buch rüttelt wach, es hält absolute Distanz und wertet nicht, beschreibt, seziert und zeigt, wie Menschen handeln können, denen es vielleicht nicht an Liebe mangelt aber zumindest am Vermögen ihre Bedürfnisse in Worte zu fassen. Als Leser muss man sich auf die Geschichte einlassen, denn sie pachtet keine Sympathiewerte, sie hält Abstand und bewegt dennoch. Man darf keine emotionale Auseinandersetzung erwarten und muss auch damit leben können, dass es auf persönliche Fragen keine Antworten geben wird. Wenn man dazu bereit ist, empfehle ich dieses Buch unbedingt zu lesen, denn literarisch hat es mich voll und ganz überzeugt.