Ideen, die das Schicksal hat
„Wenn Wenger an seine Kinder denkt, dann wie Nebenfiguren in einem Roman. Sie sind da, aber man konzentriert sich nicht so auf sie, man glaubt, sie seien nicht so wichtig. Doch das ist nicht wahr. Denn ...
„Wenn Wenger an seine Kinder denkt, dann wie Nebenfiguren in einem Roman. Sie sind da, aber man konzentriert sich nicht so auf sie, man glaubt, sie seien nicht so wichtig. Doch das ist nicht wahr. Denn vernachlässigt man die Nebenfiguren, bricht das Ganze zusammen. Was man allerdings erst merkt, wenn der Geschichte, nein, dem ganzen Leben plötzlich die Stimmen fehlen, die die Melodie so vielschichtig gemacht haben.“
Inhalt
Maximilian Wenger ist in seiner Midlife Crisis angekommen, denn weder privat noch beruflich läuft irgendetwas. Die Kinder sind groß, die Frau hat ihn für einen viel jüngeren Fitnessguru verlassen und ihm, dem einstigen Stern am Autorenhimmel sind nun definitiv die Ideen ausgegangen und so wird es wohl nichts werden mit dem erträumten Erfolg eines weiteren Bestsellers. In seiner neuen Junggesellenbude, die er schnell verwahrlosen lässt, öffnet er ein paar Briefe, die eigentlich an seinen Vormieter adressiert waren und lässt sich von den Worten einer ihm unbekannten Frau fesseln, die ihn wachrütteln. Denn das Männerbild, welches sie in Textform heraufbeschwört, erinnert ihn zu sehr an sein eigenes Leben, zwischen zahlreichen Geliebten und immer auf der Sonnenseite des Lebens. Doch gerade jetzt, wo er ganz unten ist, und etwas Zuspruch gebrauchen könnte, haben sich alle von ihm abgewandt. Für Herrn Wenger werden die Briefe zur Inspirationsquelle und plötzlich scheint wieder alles möglich, zumindest auf dem Papier …Währenddessen kämpft seine fast 18-jährige Tochter mit ebenjenen Beschuldigungen, die Inhalt der Briefe sind, denn auch sie hat aus Neugier einen Blick in die fremden Dokumente geworfen. Umso enttäuschter ist sie von ihrem Vater, der ihr zwar immer alles bieten konnte, nur nicht den Schutz und die Zuneigung, die sie sich über viele Jahre von ihm gewünscht hätte …
Meinung
Die österreichische Autorin Mareike Fallwickl konnte mich schon mit ihrem Debütroman „Dunkelgrün fast schwarz“ überzeugen und deshalb habe ich mir gleich nach dem Erscheinungstermin 2019 ihren zweiten Roman zugelegt, der nun leider noch etwas warten musste, bis ich ihn von meinem SUB befreit habe. Ein wenig ins Grübeln bekommen bin ich auf Grund der Worte, die der Klappentext formuliert: „Ein soghafter Roman über das Gelingen und Scheitern von Beziehungen, über Macht und Machtmissbrauch, über Männer und Frauen und alles, was sie einander antun.“ So ganz klar war es mir nämlich nicht, auf was ich mich hier einlassen würde. Aber meine Zweifel bezüglich des Gefallens wurden schnell zerstreut, denn allein schon der Schreibstil und die Ausarbeitung der verschiedenen Charaktere lassen kaum Wünsche offen und entführen den Leser schnell in die fiktive Welt des Maximilian Wengers, der mit seinen ausgesprochen unsympathischen Wesenszügen, gleich einmal als Sinnbild für einen bestimmten Männertyp steht und dem man eigentlich nur die kalte Schulter zeigen kann.
Der Plot selbst hat mich eher wenig inspiriert, denn weder die Schaffenskrise des Literaten, noch die schwere Zeit, die dessen Tochter durchmacht (Schwerpunkt sexueller Missbrauch), konnten mich so richtig fesseln. Es sind einfach Themen, die mich nur bedingt interessieren, und gerade, weil es hier zwei Einzelerzählungen sind, die lediglich geringfügige Berührungspunkte aufweisen, fehlte mir eine Verbindungslinie. Das mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass Herr Wenger und seine Tochter schlicht und einfach zwei gänzlich verschiedene Leben führen und einander so gut wie nichts zu sagen haben. Dadurch konnte man sich zwar hervorragend die beiden divergierenden Lebensentwürfe vorstellen, aber zu den einzelnen Protagonisten entsteht eine zu schwache Bindung. Denn irgendwie habe ich mich immer so gefühlt, als würde ich beiden gerne eine ganze Menge Dinge mitteilen, über die sie anscheinend noch nicht nachgedacht haben.
Das sind aber schon die einzigen Kritikpunkte, die ich anzumerken habe und die sind wohl persönlicher Natur. Was dieses Buch aber tatsächlich zum Lesevergnügen macht, ist die vielschichtige emotionale Ebene, die man vorrangig zwischen den Zeilen herauslesen kann. Gerade das zerbrechende Familiengefüge, die zahlreichen Verletzungen zwischen Eltern und Kindern, die Kluft, die sich über Jahre entwickelt und auch nicht mehr überbrücken lässt – all diese familiären Stolpersteine, sind bei den Wengers schon zu regelrechten Felsblöcken geworden. Und dieser Aspekt zwischen Eltern und Kindern schimmert immer wieder durch und hätte gern das zentrale Thema des Buches sein dürfen, denn darin liegt für mich die eigentliche Aussagekraft des Romans.
Fazit
Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen aktuellen, intelligenten und gut beobachteten Roman, der stereotypische Verhaltensweisen anprangert, im Kern wirklich wichtige Lebensfragen behandelt und Gesellschaftskritik gekonnt humoristisch verpackt. Und obwohl mich der Inhalt nicht restlos überzeugen konnte, war es eine unterhaltsame Leseerfahrung mit Mehrwert. Bei diesem Buch ging es mir ähnlich wie beim Vorgänger, die reine Handlungsebene erreicht mein Herz nicht, dafür spürt man beim Lesen viel tiefere Gedankengänge, über die man gewillt ist, länger nachzudenken. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch: authentische Figuren, glaubwürdige Entwicklungen und genügend Raum für eigene Spekulationen. Die Autorin behalte ich im Auge, sie ist nah dran am Puls der Zeit und schafft es, eigene Erzählwelten zu schaffen, die man gerne aus der Zuschauerperspektive erkundet.