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Veröffentlicht am 23.06.2020

Nichts bleibt, von dem was wir waren

Ich bleibe hier
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„Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb.“

Inhalt

Trina ...


„Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb.“

Inhalt

Trina und Erich Hauser leben in Graun, in Südtirol gemeinsam mit ihren beiden Kindern Michael und Marica. Während Trina als Lehrerin arbeitet kümmert sich Erich um den Bauernhof. Doch die Zeiten werden immer düsterer, viele Menschen verlassen den Ort, weil der Faschismus Einzug hält und die Lage des Ortes dafür verantwortlich ist, das sich sowohl Italien als auch Deutschland in dieser Region etablieren möchten und die Politik immer mehr Einfluss auf das ganz normale Leben der Menschen gewinnt. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg scheint es für die Bevölkerung keine Wahl mehr zu geben, entweder man entscheidet sich für die eine oder die andere Seite.

In den Vorkriegswirren bricht plötzlich über Familie Hauser das Schicksal herein - denn Marica, für eine kurze Zeit in die Obhut von Onkel und Tante gegeben, verschwindet über Nacht mit ihren Verwandten und lässt Vater, Mutter und Bruder allein zurück, nur mit einer kurzen Nachricht, dass sie weggehen wollte aus dem Ort, um wieder freier zu sein. Für Trina ist das Anlass ihrer verloren gegangenen Tochter über viele Jahre hinweg zu erzählen, was aus der verlassenen Familie geworden ist, wie der Krieg sich ihrer bemächtigte und sie wieder entließ, wie der Ort sich verändert hat, warum es die alten Bauernhöfe nicht mehr gibt, wieso ihr Elternhaus dem Staudammbau weichen musste und was sie selbst erlebte und gern mit Marica geteilt hätte, obwohl diese nie mehr zurückgekommen ist.

Meinung

Der in Mailand geborene Autor Marco Balzano, Jahrgang 1978 arbeitet als Lehrer und folgt mit dem Schreiben seiner eigenen Passion - für sein literarisches Werk wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet und gilt als eine wichtige Stimme der italienischen Gegenwartsliteratur. „Ich bleibe hier“ ist bereits mein zweites gelesenes Buch von ihm, nachdem ich „Das Leben wartet nicht“ mit viel Begeisterung konsumiert habe.

Die Thematik des vorliegenden Romans widmet sich einerseits der Geschichte und der Veränderung einer Region, die zunächst durch den Krieg, später durch den Bau eines Staudamms nachhaltig verändert wurde und heute für viele ein lohnenswertes Ausflugsziel ist, zum anderen erzählt es eine sehr persönliche Geschichte über den mehrmaligen Verlust im Leben, über erzwungenes Loslassen an Dingen und Menschen, die man doch lieber für immer festgehalten hätte. Und so wird das Schicksal der Orte Graun und Reschen im Vinschgau mit all den Repressalien der damaligen Bevölkerung zur Hintergrundszene in einer emotional kraftvollen Erzählung über Unglück, Vertreibung, Flucht und dem Versuch sich den inneren und äußeren Mächten langfristig zu widersetzen.

Der Text richtet sich an die Tochter der Erzählerin und wirkt trotz der unfassbaren Ereignisse und den schicksalhaften Entwicklungen unaufgeregt und authentisch. In drei Teilen erzählt die Mutter vom Leben ohne das geliebte Kind, vom Leben im Krieg verbunden mit Flucht und späterer Rückkehr und letztlich vom Versuch sich die Heimat zurückzuerobern mit der Einsicht, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war. In jeder Zeile wird die Bedrückung und das Bedauern über die Zustände greifbar, aber ebenso das hoffnungsvolle Voranschreiten. Die Hauptprotagonistin ist zwar gefangen in den historischen Entwicklungen, sie kann dieser Zeit nur stellenweise entfliehen und richtet ihre Lebenskraft dennoch auf die Zukunft, auf ein besseres Leben, auf eine Entspannung in all den anstrengenden, lebensbedrohlichen Momenten, mit denen sie sich im Krieg konfrontiert sieht.

Besonders eindrucksvoll erscheint mir die Gesamtwirkung dieses Romans, der Fakten und Fiktion spannend verbindet, reale Ereignisse als Hintergrund spiegelt und doch vielmehr von den Menschen erzählt, die Rücksichtslosigkeit, Kriegshandlungen und politische Willkür erleiden müssen, ohne ihnen nennenswerten Widerstand bieten zu können. In Anbetracht der Erzählung wird man sehr nachdenklich, sie lässt darüber hinaus den heutigen Frieden und die politische Entwicklung als eine Errungenschaft erscheinen, die den Machtmissbrauch vergangener Tage als umso verachtenswerter wirken lässt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen wunderbaren Roman über eine starke Frau, eine schwere Lebenszeit, die ständige Herausforderung des Neubeginns, die Trauer, die einhergeht mit dem Verlust des liebgewonnenen Alltags und die Kraft, trotz jedweder denkbarer Rückschläge immer wieder aufzustehen und den nächsten Tag, die nächsten Jahre zu überstehen. Ganz klassisch und elementar steht hier nicht nur eine Person im Mittelpunkt, sondern übergreifend eine ganze Generation, deren Leben so oder ganz ähnlich verlief. Die Aussage des Textes ist tiefgreifend und bewegend, denn obwohl nichts so bleibt, wie es einmal war, gibt es doch immer einen inneren Frieden, den man finden muss und sich bewahren kann, um ohne Groll durchs Leben zu gehen.
„Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb.“

Inhalt

Trina und Erich Hauser leben in Graun, in Südtirol gemeinsam mit ihren beiden Kindern Michael und Marica. Während Trina als Lehrerin arbeitet kümmert sich Erich um den Bauernhof. Doch die Zeiten werden immer düsterer, viele Menschen verlassen den Ort, weil der Faschismus Einzug hält und die Lage des Ortes dafür verantwortlich ist, das sich sowohl Italien als auch Deutschland in dieser Region etablieren möchten und die Politik immer mehr Einfluss auf das ganz normale Leben der Menschen gewinnt. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg scheint es für die Bevölkerung keine Wahl mehr zu geben, entweder man entscheidet sich für die eine oder die andere Seite.

In den Vorkriegswirren bricht plötzlich über Familie Hauser das Schicksal herein - denn Marica, für eine kurze Zeit in die Obhut von Onkel und Tante gegeben, verschwindet über Nacht mit ihren Verwandten und lässt Vater, Mutter und Bruder allein zurück, nur mit einer kurzen Nachricht, dass sie weggehen wollte aus dem Ort, um wieder freier zu sein. Für Trina ist das Anlass ihrer verloren gegangenen Tochter über viele Jahre hinweg zu erzählen, was aus der verlassenen Familie geworden ist, wie der Krieg sich ihrer bemächtigte und sie wieder entließ, wie der Ort sich verändert hat, warum es die alten Bauernhöfe nicht mehr gibt, wieso ihr Elternhaus dem Staudammbau weichen musste und was sie selbst erlebte und gern mit Marica geteilt hätte, obwohl diese nie mehr zurückgekommen ist.

Meinung

Der in Mailand geborene Autor Marco Balzano, Jahrgang 1978 arbeitet als Lehrer und folgt mit dem Schreiben seiner eigenen Passion - für sein literarisches Werk wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet und gilt als eine wichtige Stimme der italienischen Gegenwartsliteratur. „Ich bleibe hier“ ist bereits mein zweites gelesenes Buch von ihm, nachdem ich „Das Leben wartet nicht“ mit viel Begeisterung konsumiert habe.

Die Thematik des vorliegenden Romans widmet sich einerseits der Geschichte und der Veränderung einer Region, die zunächst durch den Krieg, später durch den Bau eines Staudamms nachhaltig verändert wurde und heute für viele ein lohnenswertes Ausflugsziel ist, zum anderen erzählt es eine sehr persönliche Geschichte über den mehrmaligen Verlust im Leben, über erzwungenes Loslassen an Dingen und Menschen, die man doch lieber für immer festgehalten hätte. Und so wird das Schicksal der Orte Graun und Reschen im Vinschgau mit all den Repressalien der damaligen Bevölkerung zur Hintergrundszene in einer emotional kraftvollen Erzählung über Unglück, Vertreibung, Flucht und dem Versuch sich den inneren und äußeren Mächten langfristig zu widersetzen.

Der Text richtet sich an die Tochter der Erzählerin und wirkt trotz der unfassbaren Ereignisse und den schicksalhaften Entwicklungen unaufgeregt und authentisch. In drei Teilen erzählt die Mutter vom Leben ohne das geliebte Kind, vom Leben im Krieg verbunden mit Flucht und späterer Rückkehr und letztlich vom Versuch sich die Heimat zurückzuerobern mit der Einsicht, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war. In jeder Zeile wird die Bedrückung und das Bedauern über die Zustände greifbar, aber ebenso das hoffnungsvolle Voranschreiten. Die Hauptprotagonistin ist zwar gefangen in den historischen Entwicklungen, sie kann dieser Zeit nur stellenweise entfliehen und richtet ihre Lebenskraft dennoch auf die Zukunft, auf ein besseres Leben, auf eine Entspannung in all den anstrengenden, lebensbedrohlichen Momenten, mit denen sie sich im Krieg konfrontiert sieht.

Besonders eindrucksvoll erscheint mir die Gesamtwirkung dieses Romans, der Fakten und Fiktion spannend verbindet, reale Ereignisse als Hintergrund spiegelt und doch vielmehr von den Menschen erzählt, die Rücksichtslosigkeit, Kriegshandlungen und politische Willkür erleiden müssen, ohne ihnen nennenswerten Widerstand bieten zu können. In Anbetracht der Erzählung wird man sehr nachdenklich, sie lässt darüber hinaus den heutigen Frieden und die politische Entwicklung als eine Errungenschaft erscheinen, die den Machtmissbrauch vergangener Tage als umso verachtenswerter wirken lässt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen wunderbaren Roman über eine starke Frau, eine schwere Lebenszeit, die ständige Herausforderung des Neubeginns, die Trauer, die einhergeht mit dem Verlust des liebgewonnenen Alltags und die Kraft, trotz jedweder denkbarer Rückschläge immer wieder aufzustehen und den nächsten Tag, die nächsten Jahre zu überstehen. Ganz klassisch und elementar steht hier nicht nur eine Person im Mittelpunkt, sondern übergreifend eine ganze Generation, deren Leben so oder ganz ähnlich verlief. Die Aussage des Textes ist tiefgreifend und bewegend, denn obwohl nichts so bleibt, wie es einmal war, gibt es doch immer einen inneren Frieden, den man finden muss und sich bewahren kann, um ohne Groll durchs Leben zu gehen.

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Veröffentlicht am 11.06.2020

Die Wahrheit war eine Lüge

Der Geiger
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„Den leeren Platz in seinem Inneren nahm etwas Neues ein, etwas Ungeheuerliches, das ihn schreckte und von dem er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, dass es seine Vorstellungen von sich selbst, von der Zivilisation ...

„Den leeren Platz in seinem Inneren nahm etwas Neues ein, etwas Ungeheuerliches, das ihn schreckte und von dem er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, dass es seine Vorstellungen von sich selbst, von der Zivilisation und Menschenwürde unumkehrbar verändern würde.“

Inhalt

Vergangenheit: Der erfolgreiche Geiger Ilja Wassiljewitsch Grenko kehrt nach einem Auftritt im russischen Staatstheater nicht mehr nach Hause zurück. Seiner Grau Galina, die voller Sorge mit den beiden kleinen Söhnen auf ihn wartet, teilt man mit, dass sich ihr Mann ins Ausland abgesetzt hat und sein Versuch auch die Familie mitzunehmen, sei rechtzeitig vereitelt wurden, so dass für Galina nur noch ein Leben in der Verbannung bleibt, ob sie nun von den Plänen ihres Mannes wusste oder nicht, spielt dabei keine Rolle.

Gegenwart: Sascha Grenko, Enkel von Ilja folgt dem Hilferuf seiner Schwester Vika, die er nach dem Unfalltod der Eltern schon viele Jahre nicht mehr gesehen hat. Angeblich befindet sich ein Dokument von Wert in ihrem Besitz, welches die vergangene Familiengeschichte in ein ganz anderes Licht rücken könnte. Doch als Sascha zum Treffen mit Vika kommt, wird diese vor seinen Augen erschossen und kurz darauf befindet er sich selbst in Gefahr, denn auf dem Schreiben, welches er in einem Bankschließfach findet, verbirgt sich die Wahrheit über den Verbleib von Ilja Grenko und dieses Wissen ist nach wie vor tödlich …

Meinung

Die Deutsche-Krimi-Preis-Trägerin Mechtild Borrmann hat mich mit ihren Romanen und Kriminalfällen bisher nie enttäuscht, weil sie historische Fakten geschickt mit persönlichen Geschichten und spannenden Handlungen verwebt und dadurch nicht nur einen guten Unterhaltungswert schafft, sondern auch tief in die Abgründe der Vergangenheit blicken lässt und die dunklen Kapitel von damals wieder beleuchtet. Und auch dieses Buch hier reiht sich nahtlos in die Reihe meiner Lieblingsbücher ein, die man auch nach etlichen Jahren ein zweites Mal lesen kann.

Diesmal legt die Autorin den Schwerpunkt auf die Nachkriegszeit in der russischen Metropole Moskau, hinein ins Milieu der Künstler und Gebildeten. Jener Menschengruppe, die zwar offensichtlich für die Unterhaltung und Bespaßung weiter Bevölkerungsteile zuständig ist, die jedoch den Machtinhabern ein Dorn im Auge ist, weil sie für deren politische Ziele als tickende Zeitbombe agiert und bestenfalls ausgeschaltet gehört. In wechselnden Kapiteln nähert sich das Buch dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte und den familiären Zusammenhängen an. Dabei wird der Leser in die angenehme Lage versetzt, auch die Erlebnisse des Ilja Grenkos aus erster Hand zu erfahren und damit sein persönliches Leid und das seiner Familie besser nachzuvollziehen. Ebenso präsent wirkt aber auch die Gegenwartshandlung, denn erst Sascha gelingt es, nicht nur den Verbleib der vermissten Geige seines Großvaters ausfindig zu machen, sondern auch das wahre Komplott aufzudecken, dessen Opfer all seine Familienmitglieder wurden. Denn obwohl Ilja selbstbestimmt den Tod in einem Arbeitslager wählte, auf Grund der Hoffnungslosigkeit, die ihn umgab, so haben seine Nachfahren versucht, der Wahrheit nahezukommen und mussten dass mit ihrem Leben bezahlen, da die Verantwortlichen sehr wohl ihre Schuld von damals konsequent vertuschen wollten.

Damit hat dieses Buch alles, was es braucht: eine spannende, klar umrissene Geschichte, eine interessante historische Hintergründigkeit und eine abenteuerliche, gefährliche Spurensuche, die das Genre Kriminalroman abdeckt. Der Text wird durch wechselnde Zeitebenen und diverse Protagonisten lebendig, besticht durch eine komprimierte Handlung, die sich nicht verzettelt und den Fokus ganz speziell auf die Familie Grenko lenkt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und freue mich jetzt schon auf ein weiteres Buch der Autorin, denn ein paar bleiben mir noch, die ich bisher nicht gelesen habe. Dieser Kriminalroman eignet sich für alle, denen es mehr auf eine erzählbare Geschichte ankommt und weniger auf blutige Aspekte. Der Tod ist hier nur die unvermeidbare Folge einer großen Vertuschungsaktion, die ihre Wurzeln in der grausamen Willkür des Regimes hat. Aspekte wie Flucht, Verbannung, unmenschliche Lebensbedingungen und der Verlust aller Hoffnung sind mindestens genauso wichtig, wie die Spurensuche eines Einzelnen und den nie versiegenden Wunsch nach Gerechtigkeit und Aufklärung. Ein tolles, empfehlenswertes Buch, welches lange nachhallt und ein Ehrenplätzchen in meinem Regal bekommt.

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Veröffentlicht am 22.04.2020

Eine Zufallsbekanntschaft mit Mehrwert

Marianengraben
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„Gedanken sind oft so unkontrollierbar wie die Liebe, die sie auslöst. Und jetzt liebe ich dich nur noch gefangen in einer Zwischenwelt aus Präteritum und Konjunktiv und in einer Realität, die vor deinem ...

„Gedanken sind oft so unkontrollierbar wie die Liebe, die sie auslöst. Und jetzt liebe ich dich nur noch gefangen in einer Zwischenwelt aus Präteritum und Konjunktiv und in einer Realität, die vor deinem Tod ein Leben und danach nur noch ein Zustand war.“

Inhalt

Paula verkraftet den Tod ihres kleinen Bruders Tim nicht, der bei einem Badeunfall im Urlaub auf Mallorca ums Leben kam. Sie fällt in eine Depression, pausiert mit dem Studium und beginnt eine Therapie, die nur mäßigen Erfolg hat. Zunächst soll sie es irgendwie schaffen, das Grab ihres Bruders zu besuchen, auch wenn ihr sofort klar ist, dass sie das nur nachts machen kann, wenn sie ganz allein ist. Doch auf dem Friedhof trifft sie den alten Helmut, der in der Dunkelheit doch tatsächlich die Urne seiner Ex-Frau ausgräbt. In der Not vereint und vom Friedhofspersonal überrascht, flüchten die beiden gemeinsam.

Helmut schlägt Paula vor, ihn doch im Wohnmobil zu begleiten, denn trotz seiner schlechten gesundheitlichen Lage, muss er das letzte Versprechen, das er der Verstorbenen Helga gegeben hat, zu Ende bringen. Er wird ihre Asche in die Berge bringen und dort verstreuen, an den Ort, den er als Kind und Jugendlicher seine Heimat nannte und wo die Liebe der beiden begann. Für Paula ist das alles eher skurril, doch aus Mangel an anderweitigen Unternehmungen und einem Funken Mitleid, stimmt sie dem Vorschlag zu. Und trotz seiner eigenwilligen Art wächst ihr Helmut bald ans Herz, denn mit seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz an Verlusten und Todesfällen naher Angehöriger, ist er ein echter Trauerexperte, der trotz schwerer Schicksalsschläge nicht aufgegeben hat. Der abenteuerliche Roadtrip mit allerlei eklatanten Zwischenfällen wird für Paula zur besten Therapie überhaupt, denn sie erkennt, dass sie auch ohne Tim weitermachen muss und wenn sie selbst nicht mehr leben würde, dann wäre auch ihr Bruder ohne Spuren aus dieser Welt verschwunden …

Meinung

Die junge Autorin Jasmin Schreiber, die selbst als Sterbebegleiterin arbeitet, thematisiert in ihrem Roman „Marianengraben“ den traumatischen Verlust einer geliebten Person, die schwere Zeit danach und die ersten winzigen Schritte in eine Zukunft, in der das Leben weitergeht.

Dieses Buch hat einen ganz speziellen Ton, der recht ungewöhnlich für die traurige Wahrheit hinter dem ganzen Aktionismus ist, denn an vielen Stellen blitzt Humor auf, ergeben sich spektakuläre Zwischenfälle und dann auch wieder neue, traurige Entwicklungen. Zunächst war mir diese Art der literarischen Umsetzung etwas fremd, denn bedrückende Schwere und emotionale Verzweiflung kommen hier eher wenig vor. Paula führt mit Tim direkte Gespräche, sie erinnert sich an seine muntere, lebensbejahende Art und ihre geliebte Rolle als die große Schwester eines so intelligenten, fröhlichen kleinen Jungens, der schon mit 11 Jahren auf tragische Art und Weise sein Leben verloren hat.

Die Lebendigkeit wird auch in der Gegenwartshandlung sichtbar: eine spannende Reise mit spektakulären Erlebnissen und wenigen aber alles verändernden Gesprächen zwischen einem Mann mit Lebenserfahrung und einer jungen Frau, die es alleine nicht schafft, aus dem emotionalen Tief aufzutauchen und im Marianengraben ihres Herzens zu versinken droht. Der für mich zunächst befremdliche Erzählton hat mir aber immer besser gefallen und passt hervorragend zur Gesamtaussage des Romans und zu den jungen Menschen, die als Protagonisten auftreten. Überhaupt gelingt es der Autorin einprägsame, detaillierte Personenbeschreibungen anhand von kleinen Anekdoten aus dem Leben erlebbar zu machen. Sowohl Paula als auch Helmut bereichern die Geschichte ungemein und ergeben ein seltsames Paar, welches trotz aller Unterschiede doch auch genügend Gemeinsamkeiten aufweisen kann.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für einen traurig-schönen Roman über das Leben, das Sterben und sämtliche Nuancen des persönlichen Verlusts. Manchmal war mir der Stil zu lapidar, die Erlebnisse so humorvoll und lebensbejahend erzählt. Doch dazu muss man bedenken, dass Tims Todeszeitpunkt schon 2 Jahre zurückliegt, die Trauer also gar nicht mehr so neu für Paula ist und auch Helmut hat über viele Jahre seines Lebens verteilt immer wieder eine kleine Dosis von Abschieden hinnehmen müssen.

Idealerweise liest man das Buch ohne aktuellen Trauerfall oder dann, wenn man an dem Punkt angelangt ist, an dem man einsieht, dass der geliebte Mensch in dieser Welt nicht mehr greifbar sein wird, das eigene Leben aber auch einen Sinn besitzt und nicht nachlässig weggeworfen gehört. Für diese Zeit, in der es ganz langsam wieder aufwärts geht, macht die Reise von 11.000 km unter der Wasseroberfläche zurück nach oben viel Mut und bringt positive Aspekte mit sich. Ein richtig guter Roman, bei dem die Sentimentalität gezielt eingesetzt wird und auch nach dem Lesen eine Sinnhaftigkeit bestehen bleibt. Ungewöhnliche, aber lesenswerte Umsetzung über das Trauern in all seinen Facetten.

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Veröffentlicht am 28.03.2020

Ein Pakt gegen das Vergessen

Rote Kreuze
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„Nach langem Nachdenken über die sowjetischen Lager als ein großes Experiment, eine Art Laboratorium, eine gewaltige mathematische Gleichung, deren Ergebnis der neue Sowjetmensch sein sollte, ...

„Nach langem Nachdenken über die sowjetischen Lager als ein großes Experiment, eine Art Laboratorium, eine gewaltige mathematische Gleichung, deren Ergebnis der neue Sowjetmensch sein sollte, kam sie zu dem Schluss, dass das alles Humbug war.“

Inhalt

Tatjana Alexejewna ist über 90 Jahre alt, sie leidet an Alzheimer und beschließt ihrem neuen Nachbarn Alexander, den sie im Treppenhaus kennenlernt ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen. Nicht etwa, weil dieser besonders interessiert wirkt, sondern nur auf Grund der Tatsache, dass sie irgendjemanden finden muss, um ihr Leben Revue passieren zu lassen, solange sie sich noch an das erinnert, was ihr widerfahren ist. Tatjana gelingt es den jungen Mann mit ihrer Geschichte zu infizieren, so dass er sich tatsächlich bald für die Vergangenheit der betagten Dame interessiert und ihr gebannt zuhört. Und auch für ihn ergibt sich die Chance, sein eigenes Schicksal und das seiner Familie zu erläutern. Sie hören einander zu und schließen eine unerwartete Freundschaft und einen Pakt über das Vergessen. Während Tatjana das sozialistische System auseinandernimmt und ihr Erfahrungen mit Angst, Gewalt und Manipulation in sowjetischen Lagern offenbart, erkennt Alexander, dass er nicht allein ist mit seinem Leid über verlorene Menschen, die niemand mehr zurückbringt.

Meinung

Der weißrussische Autor Sasha Filipenko hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem kurzen, eher berichtenden Roman über das sozialistische Regime unter der Herrschaft von Stalin, sehr genau und akribisch dessen Verfehlungen aufzuzeichnen und den Krieg gegen das eigene Volk, lange nach dem 2. Weltkrieg von der Betroffenenperspektive aufzurollen. Denn Tatjanas Schicksal ist nicht das einer einzelnen Frau, die in unglückliche Umstände geraten ist, sondern Strafe für ein ganzes Volk, welches es wagte, die Stimme zu erheben oder die Handlungen nicht gesellschaftskonform abzuwickeln. Wer sich nicht anpassen wollte, wurde zum Feind und musste bestraft werden.

Trotz des wahren historischen Hintergrunds, der durch intensive Recherchen und viele Originaldokumente belegt wird, ist dies kein langweiliger Roman über ein politisches System, sondern vielmehr die Lebensgeschichte zweier Menschen und wirkt deshalb viel greifbarer und emotionaler als ein reiner Bericht.

Am meisten haben mich die vielen Gedankengänge inspiriert, die eher in Nebensätzen formuliert werden und mit der Haupthandlung nur indirekt in Verbindung stehen. Z.B. die Tatsache, dass sich Tatjana als Atheistin einen Gott erdacht hat, an den sie nicht im positiven Sinne glaubt, aber seine imaginäre Existenz hilft ihr, ihre Wut und den Überlebenswillen aufrecht zu erhalten, um dermaleinst mit ihm abzurechnen. Oder ihr Umgang mit der vermeintlichen eigenen Schuld, nachdem sie aus einem offiziellen Dokument den Namen des eigenen Mannes gestrichen hat und dafür den Namen eines Unbekannten gleich zweimal aufschrieb. Ihre Suche nach ebenjenem, der womöglich durch ihren Fingerschlag ein desaströses Leben führen musste.

Fasziniert war ich auch von der Fülle an Informationen, die ich für so ein kleines Buch, welches zudem noch eine ganz andere Geschichte erzählt, niemals erwartet hätte. Viele Worte, viele Grundsätze und über dem eine ganz konkrete, greifbare Frage nach Schuld oder Unschuld, Schicksal oder Lebensaufgabe, Kapitulation oder Kampf.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen Roman, der die große Weltgeschichte auf ein Einzelschicksal herunterbricht und dennoch Aussagekraft und Allgemeingültigkeit besitzt. Man kann auch ohne entsprechendes Hintergrundwissen lesen und bekommt sehr viel „echte“, erlebte Geschichte geboten. Darüber hinaus steht auch das Menschsein im Mittelpunkt, die Möglichkeit auch Jahre später aufzuarbeiten, was die Seele belastet und wenn schon keine greifbare Reaktion in der Vergangenheit erreichbar war, so bleibt dennoch etwas für die Zukunft und spätere Generationen zurück. Ich bin sehr froh, dieses Buch gelesen zu haben, es trifft genau meinen Lesegeschmack und bekommt ein Ehrenplätzchen im Regal. Auf weitere Bücher des Autors bin ich gespannt.

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Veröffentlicht am 25.03.2020

Die schrecklichen Augen der lauernden Hyäne

Das wirkliche Leben
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„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, das ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. ...

„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, das ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“

Inhalt

Die Erzählerin der Geschichte ist zunächst nur ein 10-jähriges Mädchen, die verborgen hinter einer gutbürgerlichen Fassade in einer einheitlichen Reihenhaussiedlung gemeinsam mit ihrem kleineren Bruder Gilles aufwächst. Der Vater ein passionierter Großwildjäger und Trinker, der das Leben seiner Familie als Buchhalter finanziert, sich aber in der geschützten Privatsphäre zu einem gewalttätigen, gefährlichen Mann entwickelt, der seine erlegten Beutetiere ausgestopft in einem extra Zimmer der Wohnung deponiert.

Das Mädchen hat nur ein Ziel: irgendwie dem häuslichen Wahnsinn entkommen und dabei ihren kleinen Bruder beschützen, der sich im Laufe der Jahre immer mehr für die Waffensammlung des Vaters und die getöteten Tiere interessiert. Als in der Gegend alle Katzen verschwinden und sie Gilles beim Quälen verschiedener Tiere beobachtet, schwört sie sich, dass ihr Leben eine Wende nehmen muss, damit die schrecklichen Augen der lauernden Hyäne aus dem Jagdzimmer nicht noch mehr Schaden im Kopf ihres Bruders anrichten.

Sie stürzt sich voller Enthusiasmus auf den Bau einer Zeitmaschine, mit der sie in die Vergangenheit reisen möchte, um wenigstens Gilles vor all der Brutalität und den ungesunden Entwicklungen zu schützen. Erst als sie etwas älter ist, entdeckt sie die wahre Gefahr und rückt immer mehr ins Visier ihres Vaters, der mit dem Sohn mittlerweile eine Einheit bildet und sie fürchtet bald schon um ihr eigenes Leben. Doch in der Rolle des Opfers hat sie sich nie gesehen …

Meinung

Nachdem ich die Leseprobe des Romans gelesen hatte, war ich mir eigentlich unsicher, ob der Text und die Thematik überhaupt etwas für mich sein könnten. Denn schon nach den ersten Seiten wird deutlich, dass Gewaltszenen und Brutalität hier ganz wesentliche erzählerische Elemente darstellen und wohl auch der folgende Text in dieser Ausrichtung gestaltet sein würde. Dennoch habe ich mich ohne besondere Erwartungshaltung und relativ unbedarft an diesen Coming-of-Age-Roman gewagt, um den „Liebling der französischen Buchhändlerinnen“ zumindest kennenzulernen.

Und dann hat mich die Story regelrecht überrascht und mich unweigerlich in ihren Bann gezogen, so dass ich für dieses Buch gerade einmal einen Tag Lesezeit benötigt habe und entgegen meiner ursprünglichen Befürchtungen ein grandioses Stück Literatur geboten bekommen habe.

Ganz klar: inhaltlich bewegt sich „Das wirkliche Leben“ ganz sicher nicht in meiner Wohlfühlzone, dominieren doch Gewaltszenen, Tierquälerei, zerrüttete Familienverhältnisse und die schier unvorstellbare Dominanz des Bösen über das Gute. Aber der belgischen Autorin meines Geburtsjahrganges ist es gelungen, eine wahnsinnig stimmige Geschichte zu erschaffen, die in erster Linie durch die Charakterstärke ihrer Protagonistin und deren Unverbesserlichkeit dem häuslichen Umfeld zu entkommen, besticht. Die geschilderten Sachverhalte waren manchmal nah dran, mich gänzlich zu schockieren und besitzen doch eine magische Anziehungskraft.

Besonders eindrücklich schildert Adeline Dieudonné die Entwicklung eines 10-jährigen Mädchens, die jeden Tag die Prügelei des Vaters an der Mutter hinnehmen muss, die sich selbst ducken und verstecken muss, um nicht seinen Gewaltausbrüchen ausgesetzt zu sein und die ihren geliebten Bruder, den einzigen Menschen, dem sie restlos vertraut beschützen möchte. Ihre Luftgespinste mit einer Zeitmaschine lösen sich bald auf, doch ihr Interesse für Physik und die Naturgesetze, bieten ihr die Chance sich bald auch außerhalb der Familie neue Eindrücke zu verschaffen. Und als sie am Ende des Buches mit 15 Jahren alles gesehen zu haben scheint, was es an Machtdemonstration geben kann, ist sie sich doch bewusst, dass sie nicht dazu geboren wurde, für immer in der Rolle des Opfers zu bleiben. Und als ihr monströser Vater zum alles vernichtenden Schlag ausholt, ist sie ihm im wirklichen Leben schon längst entwischt …

Fazit

Dieser ungewöhnliche, einprägsame Roman konnte mich absolut überraschen und lebt durch die grandiose Gestaltung der diversen Figuren, die man alle direkt vor dem inneren Auge sieht. Ebenso gelungen empfand ich die Szenenwechsel, die Gestaltung der Handlung, den Ablauf der Zeit in Anbetracht des Heranwachsens der Hauptprotagonistin – kurzum die Rahmenhandlung nach klaren Vorgaben, die dennoch überhaupt nicht absehbar war.

Der Leser wird langsam herangeführt an die Gedankengänge des Mädchens, spürt die komplette Bandbreite ihrer Emotionen und bewundert immer mehr ihren Sinn, sich der schrecklichen Realität zu widersetzen. Ein richtiger Pageturner, dem ich gerne 5 Lesesterne schenke und ihn als ein faszinierendes Leseerlebnis in Erinnerung behalten werde. Selbst wenn er nicht von Realitätsnähe und Allgemeingültigkeit geprägt ist und in erster Linie auch keinen literarischen Anspruch erhebt, gelingt es ihm, die Spannungsmomente auszureizen und trotz aller Gewalt zeigt er vielmehr die verborgenen Gefühle hinter den Machtspielchen kranker Seelen als die Schäden die Schläge hinterlassen können.

Sehr unverbraucht, sehr innovativ – ich schließe mich den positiven öffentlichen Meinungen über dieses Debüt an und sortiere es als Highlight 2020 ins Bücherregal.

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