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Veröffentlicht am 04.02.2017

Eine Lektüre wie eine buchgewordene Achtsamkeitsübung

Mr Gwyn
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Nach dem beruflichen Erfolg als Autor ganz und gar verschiedener Werke verkündet der Titelheld Jasper Gwyn zu Beginn dieses wunderbaren Romans, keine Bücher mehr schreiben zu wollen. Sicherheitshalber ...

Nach dem beruflichen Erfolg als Autor ganz und gar verschiedener Werke verkündet der Titelheld Jasper Gwyn zu Beginn dieses wunderbaren Romans, keine Bücher mehr schreiben zu wollen. Sicherheitshalber entzieht er sich erst einmal der Welt: “Jasper Gwyn blieb zweiundsechzig Tage in dem kleinen spanischen Hotel, eine angenehme Zeit. Als es ans Bezahlen ging, waren unter den Extrakosten zweiundsechzig Tassen kalte Milch, zweiundsechzig Gläser Whisky, zwei Telefonate, eine gesalzene Rechnung der Wäscherei (hundertneunundzwanzig einzelne Posten) und der Kauf eines Transistorradios verzeichnet – was einen gewissen Eindruck von seinen Neigungen zu vermitteln mag.“ S. 13. Ich muss gestehen, dass ich mir gerade bei der Wäschereirechnung irgendwie Fragen stellte, und so blieb das auch, das ganze Buch über: Also hat er täglich sowohl ein Glas Milch als auch ein Glas Whisky getrunken – hoffentlich einzeln – und er hat täglich zwei frisch gereinigte Wäschestücke getragen, 5 Posten zusätzlich – was mag das gewesen sein, zählen Socken und, nun ja, Unterhosen, zusammen als ein Posten Unterwäsche und das Hemd war der zweite Posten…?

Gwyns Entschluss führt jedoch bald zu einem Problem: Schreiben stillte sein Bedürfnis nach der „täglichen Sorgfalt, mit der Gedanken in der geradlinigen Form eines Satzes angeordnet werden“ S. 21, S. 18. Um sich von entsprechend auftauchenden körperlichen und seelischen Problemen abzulenken, führt er etwas durch, das man heute auch als „Achtsamkeitsübung“ bezeichnen würde – er führt alle Handlungen ganz langsam durch - und bekommt schließlich in einer Galerie die Erleuchtung bei der Betrachtung von fertigen Bildern und Fotos dazu aus dem Erstellungsprozess: „Er betrachtete wieder das Foto im Katalog, dann abermals das Porträt an der Wand – ganz offensichtlich war zwischen dem Foto und dem Gemälde etwas geschehen, etwas wie eine Wanderung. Jasper Gwyn überlegte, dass sehr viel Zeit nötig gewesen sein musste, eine Art Exil, und sicherlich auch die Auflösung sehr vieler Widerstände. Er dachte nicht an irgendeinen technischen Kniff, und auch die mögliche Kunstfertigkeit des Malers schien ihm nicht entscheidend, sein einziger Gedanke war, dass ein geduldiges Handeln sich hier ein Ziel gesetzt und es schließlich erreicht hatte, denn es war ihm gelungen, den Mann mit dem Schnurrbart nach Hause zurückzubringen. Ein sehr schönes Vorhaben, fand er.“ S. 43 Daraus reift der Beschluss, als Kopist zu arbeiten – er will Porträts anfertigen von Menschen, allerdings in Schriftform. „Er vermutete nämlich, dass das Schreiben, wenn man ihm den naheliegenden Weg in die Romanform verweigerte, sich etwas einfallen lassen würde, um zu überleben, einen Trick, irgendetwas.“ S. 81

Er bereitet seine zukünftige Tätigkeit sorgfältigst vor, bis hin zur richtigen Ton- und Lichtkulisse, diskutiert alles – nur in Gedanken – mit einer verstorbenen Zufallsbekanntschaft. „Darum ging Jasper Gwyn an diesem Montag in der Gewissheit aus dem Haus, dass nicht einfach nur der erste Tag einer neuen Arbeit vor ihm lag, sondern ein neuer Abschnitt seines Lebens. Das erklärte, warum er zielstrebig auf den Herrenfrisör seines Vertrauens zusteuerte, mit der festen Absicht, sich kahlscheren zu lassen.
Er hatte Glück. Der Laden war wegen Umbau geschlossen.“ S. 91

Mr. Gwyn wirkt wie eine angenehme Mischung aus Miss Marple (nein, hier bitte nicht in der unterhaltsamen, aber textfernen Darstellung durch Margaret Rutherford, sondern wie in den Büchern beschrieben, maximal noch wie die Interpretation durch Joan Hicks oder Helen Hayes), wenn sie freundlich mit jemandem plaudert, um etwas herauszufinden, und sich dabei ihren Teil denkt, gekreuzt mit einem der Dandys aus Oscar Wilde. Der Roman ist durchzogen von einer ruhigen Grundstimmung, Sätzen zwischen Ironie und Melancholie, manchmal lakonisch: „Dann gingen sie zusammen in den Park, damit Martha Argerich ihr Häufchen machte. Sie war ein Grand Griffon Vendéen.“ S. 62

Mr. Gwyn ist wieder so jemand, dem man stundenlang zuhören könnte – ich werde wohl noch das Hörbuch testen – dabei passiert eigentlich gar nicht so furchtbar viel bzw. alles passiert langsam, gründlich, im rechten Maß, mit einer gewissen Eleganz. Dann, ja dann passiert aber etwas, sowohl bei der neuen Arbeit Mr. Gwyns als auch mit seinem Leben und darauf folgend mit seinem ersten „Modell“ Rebecca, die danach seine Assistentin wurde.

Jeder von uns kennt sicherlich diese Bücher oder, mehr noch, Kurzgeschichten, die wir dann früher in Schule und weiter interpretieren mussten, im Sinne von: Finden Sie Motive von x (Melancholie, der Romantik, typisch für Walser usw.) im Text. Oder: Suchen Sie nach Bezügen zum Thema y zwischen den Werken von A und B. Ich habe zwar immer gerne gelesen, aber diese Aufgabe oft als „Überinterpratation“ gehasst. Gerade die Grundhandlung von Mr. Gwyn benötigt diese nicht, ich empfand die Lektüre einfach als Genuss. Gegen Ende dieser in Buchstaben gegossenen Achtsamkeitsübung wird aber ein Kunstgriff angewendet, nun, ich möchte hier nicht zu viel verraten, aber ich denke, man wird vielleicht wie ich freiwillig! diese Vergleichsarbeit wie früher auf sich nehmen, wie ich das Buch anhand gewisser Hinweise nochmals überschlagen und neu sehen, um dann viel mehr Mr. Gwyn zu verstehen. Überraschend! Vielleicht sollte mein nächstes Buch dann doch gleich eines von denen mit den vielen zweideutigen und verschlungenen Textpfaden sein, Döblin oder Ernst Augustin…
„Für Caterina de’Medici
Und den Meister von Camden Town.“ S. 213
Das Cover mit dem Blick durchs Schlüsselloch und den vielen scherenschnittartigen Köpfen passt übrigens hervorragend zum Thema.



Ergänzung: Es scheint noch kein Hörbuch zu geben!

Veröffentlicht am 28.01.2017

„Ein Tag nach dem anderen“, sagte ihre Mutter, und Eileen dachte: Und alles auf einmal.“

Wir sind nicht wir
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Selten habe ich ein Buch gelesen, dass sich gleichzeitig anfühlt wie so „typisch New York“ wie diese Familiengeschichte– und das, während das Buch doch gleichzeitig so universell ist in seiner Beschreibung ...

Selten habe ich ein Buch gelesen, dass sich gleichzeitig anfühlt wie so „typisch New York“ wie diese Familiengeschichte– und das, während das Buch doch gleichzeitig so universell ist in seiner Beschreibung von Familie, von Träumen und Sehnsüchten, von Ängsten und Bewältigungsstrategien. „Ein Tag nach dem anderen“, sagte ihre Mutter, und Eileen dachte: Und alles auf einmal.“ S. 126

Selten habe ich so fasziniert an den Seiten geklebt um dann plötzlich herauskapituliert zu werden durch solche Sätze wie in diesem Buch. Da wird Eileens Vater „Big“ Mike Tumulty beschrieben als „mit einer Bitterkeit im Herzen, die er mit Schweigen nähren würde“ S. 55 Da begreift Eileen nach der Eheschließung und einer gewissen Ernüchterung über ihren Mann Ed „…, dass die Unvollkommenheit ihres Mannes etwa Vollkommenes hatte…“ S. 120.

Selten habe ich über Seiten, viele Seiten, hinweg etwas gelesen, das zusammengefasst gar nicht viel Handlung wäre – zum Beispiel wäre über lange Strecken von Teil III zu sagen „Eds Verhalten ändert sich“ – und das war völlig ohne das Gefühl von Länge, es passte, es war stimmig.

Selten habe ich erlebt, wie ein Autor es schafft, eine Geschichte aus der Sicht von zwei Protagonisten zu erzählen, noch dazu ein Mann UND eine Frau, verschiedener Generationen, Eileen und Connell, ohne sie als Ich-Erzähler auftreten zu lassen und das in einer derartigen Komplexität. Beide haben ihre Stärken und ihre Schwächen – und selbst die Schwächen, mit denen man sonst als Leser gerne ungnädig wird, wirken so stimmig, dass man sich immer noch mit den Personen identifiziert, wie Eileens Aufstiegsträume, ihre Probleme mit Nähe.

Selten habe ich ein Buch gelesen, dass sich so locker-flockig-leicht lesen ließ – und das bei einer Stärke von fast 900 Seiten und einer Einordnung zur eher anspruchsvollen Literatur. Da sind keine sperrigen Sätze, keine Fülle gleichzeitig auftauchender Personen – das Buch liest sich wie ein guter Schmöker, ohne Kitsch oder falsche Romantik. Das hier kann lesen, wer vorher von der Clifton-Saga fasziniert war (als Beispiel für die Schmöker) oder von Benedict Wells‘ „Vom Ende der Einsamkeit“ (für die eher literarischen Bücher). Herrlich, wie Eileens Vater auf das jugendliche Alkoholexperiment seiner Tochter reagiert: er besorgt eine ganze Batterie an Hochprozentigem und zwingt sie zum Trinken. Das Fazit? „Trink Whiskey…Guten Whiskey. Nicht zu viel. Das ist der langen Rede kurzer Sinn.“ S. 62

Selten habe ich ein Buch gelesen, dass so sehr „Familie“ auf den Punkt brachte. Liebe, Fürsorge, Peinlichkeit, Sorge…Gleichzeitig waren da aber so viele individuelle Themen – Aufstiegspläne, die Verzweiflung, wenn man sich am anderen aufreibt.

Selten...ach, einfach: Bitte lesen!

Veröffentlicht am 27.01.2017

A great debut of an exceptional talent gone too soon - set in Germany

Sämtliche Werke
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Achtung: ich beziehe mich hier nur auf die Originalausgabe von "In a German Pension", die hier leider nicht auswählbar ist

„In a German Pension“ suggests itself to be read by those who found Mann’s Zauberberg ...

Achtung: ich beziehe mich hier nur auf die Originalausgabe von "In a German Pension", die hier leider nicht auswählbar ist

„In a German Pension“ suggests itself to be read by those who found Mann’s Zauberberg too self-indulgent or just too long but liked the general plot (or just would appreciate another point of view) or to those who appreciated Elizabeth von Arnim’s view of on outsider on German society.

Katherine Mansfield has her first-person narrator heroïne wittilly report on her visit to a German spa – vacation, „Kur“, told in 13 short stories, each on a different subject, linked by common location, narrator and recurring personnel. The status of this young married englishwoman as an onlooker who simply MUST compare between what would be common in England and in Germany results in a number of insightful considerations and apt remarks. So in story number 4, "Frau Fischer" remarks „Ah, that is so strange about you English. You do not seem to enjoy discussing the functions of the body. …How can we hope to understand anybody, knowing nothing of their stomachs?“ I would really enjoy re-reading the text in my doctor’s waiting room….

Mostly, you find some inherent sarcasm as in the second story on class-aware behaviour, „The Baron“: „At that moment the postman …came in with the mail. He threw my letters into my milk pudding ….The manager of the pension came in with a little tray. A picture post card was deposited on it, and reverently bowing his head, the manager of the pension carried it to the Baron.
Myself, I felt disappointed that there was not a salute of twenty-five guns.“

There are less lighthearted stories, like "Frau Brechenmacher Attends a Wedding“, talking gloomily about nuptial days and beds and philistine indignation. And for „At Lehmann’s“ one cannot help to take the reason into account why the author herself was in Germany. There certainly is more than just a general undertone about marriage, at least some men’s behaviour and motherhood, like when Elsa shouts out “ ‘You know ever since Fritz and I have been engaged, I share the desire to give everybody, to share everthing!‘
‘How extremely dangerous‘, said I.“

Katherine Mansfield (*1988 in Wellington; t 1923 in France of tuberculosis) is often considered to be New Zealand’s most famous writer. Interested (and fluent!) in French and German language, she permanently lived in Europe after 1908 where she fell in love, married another man and left him in the wedding night, returned to her lover by whom she had gotten pregnant. She went to ‘Kur’ in Bad Wörishofen. Her visit serves as the inspiration for this, her first book of short stories which was published in 1911. Mansfield lost the baby in Bad Wörishofen after having lifted a heavy trunk.

I normally am not much into short stories – as soon as I am “in” they are over, but I do really appreciate Mansfield’s. The whole Setup in this debut has nothing to do with New Zealand but the author. Still, it is being considered to already display some of her later works’ characteristics, such as gender relations and social norms but also in some of the character types and symbols used – information from the last two paragraphs taken from
http://nzetc.victoria.ac.nz/tm/scholarly/tei-SteGerm.html
https://de.wikipedia.org/wiki/KatherineMansfield

https://en.wikipedia.org/wiki/Katherine
Mansfield

The short life, its turmoils and inglorious and early end do add a lot to the myth – but what an exceptional talent wasted all too soon.

Veröffentlicht am 21.01.2017

„Mit Dank von uns zurück“

Ein Mann namens Ove
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„Mit Dank von uns zurück“, so heißt es gegen Ende des Buches und so empfinde ich auch als Leser.

Wenige Bücher kann man mit so gutem Gewissen verschenken, an Alt und Jung, die Freundin oder den Kollegen ...

„Mit Dank von uns zurück“, so heißt es gegen Ende des Buches und so empfinde ich auch als Leser.

Wenige Bücher kann man mit so gutem Gewissen verschenken, an Alt und Jung, die Freundin oder den Kollegen oder es selbst mit sonst eher etwas sehr rationellen Männern in der Hörversion auf einer Autofahrt genießen. Bislang haben Buch oder Hörbuch jedem gefallen – vielleicht ist die Geschichte nicht für sehr junge Erwachsene geeignet, da die Erfahrungen von Verlust, Weitermachen doch häufig erst mit einigen wenigen Jahren mehr gemacht werden.

Ove ist einfach speziell. "Es war fünf vor sechs am frühen Morgen, als Ove und die Katze das erste Mal aufeinandertrafen. Die Katze mochte ihn von Anfang an nicht. Was absolut auf Gegenseitigkeit beruhte." S. 15 In der Hörbuchversion passte die sehr trockene Art, in der Heikko Deutschmann den Text vorträgt, perfekt.

Autor Fredrik Backman strukturiert den Text sehr durch, Kapitel beginnen meist mit „Ein Mann namens Ove“ und dann dem Thema, von „Ein Mann namens Ove kauft einen Computer, der kein Computer ist“ über „Ein Mann namens Ove und ein Mann namens Rune“. Ove liebt Routine und Ordnung und da passen die Wiederholungen. „Ove fand nicht, dass er ein hoffnungsloser Fall war. Er fand nur, dass ein bisschen Ordnung herrschen sollte.“ S. 95 Ein ums andere Mal entlockte mir diese Technik Lachen, Schmunzeln oder auch Rührung. Auch mit der Geschichte, mit dem Hintergrund rückt der Autor nur stückchenweise heraus, einige Informationen wirken auf den ersten Blick ganz harmlos, so wie die Spuren auf Oves Fußboden.

Vieles, was Ove tut, hat er einfach immer so getan. Hinter anderem stecken Verluste seines Lebens. Das wichtigste für Ove war immer seine Frau, Sonja. „Ove ist ein Mann aus Schwarz und Weiß. Und sie war seine Farbe. All seine Farbe.“ S. 49. Und man lernt: die kluge Frau schickt ihren Mann nach draußen, damit er sich abreagiert, zum Beispiel zum Rasenmähen. Andere Weisheiten entfalten ihre Macht besonders im Zusammenhang mit dem jeweiligen Geschehen. "Wir fürchten den Tod, doch die eigentliche Angst vieler Menschen ist die, dass er jemand anderen trifft. Die größte Angst ist immer die, dass der Tod uns stehenlässt. Und wir einsam und allein zurückbleiben."

Natürlich möchte in der Realität niemand von seinem Nachbarn dauernd zur Einhaltung von Regeln belehrt werden, aber genauso wenig möchte man doch auch Nachbarn haben, denen z.B. der Lärmschutz völlig egal ist. Natürlich gibt es einfach brummige Menschen ohne großes Herz und Alte, die einsam sterben. Natürlich gewinnt Backman mit seinem Ove wohl nicht den Nobelpreis für Literatur – aber beide gewinnen mein Herz. Die Geschichte ist herzergreifend schön. Und vielleicht wird man darüber hinaus noch dankbarer für die Personen, die Farbe ins eigene Leben bringen…

Veröffentlicht am 19.01.2017

„Hier regierten Dreck, Verzweiflung und Hunger.“

Engelsschmerz
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Eine Frau sitzt gefesselt auf einem Küchenboden. Es ist kalt, es ist nichts zum Essen da – und dann der Gestank. Das Blut. „Hier regierten Dreck, Verzweiflung und Hunger.“ S. 10

Das ist wahrlich keine ...

Eine Frau sitzt gefesselt auf einem Küchenboden. Es ist kalt, es ist nichts zum Essen da – und dann der Gestank. Das Blut. „Hier regierten Dreck, Verzweiflung und Hunger.“ S. 10

Das ist wahrlich keine gute Situation – aber ein perfekter Ausgangspunkt für einen spannenden Thriller. Hätte die 23jährige Jule, Studentin in München, doch bloß auf ihre Mutter in der fernen Heimat Münster gehört. Doch da die Mutter durchaus große Teile ihres Lebens eher auf Jule ausgerichtet hatte, warf sie ihr lieber vor, zu sehr „Glucke“ zu sein. Doch jetzt ist die Mutter diejenige, auf die sie zählt.

Ulrike Ziegler sucht in München nach ihrer Tochter. Sie weiß, dass diese nicht so einfach verschwunden wäre – und auch bei ihrem Job ist sie so lange nicht mehr aufgetaucht, dass sie entlassen wurde. Da gibt es ihren Freund Tim. Und ihre Freundin Lena. Und ihren Nachbarn Martin. Ulrike muss sich sehr bemühen, bei der Polizei einen Ansprechpartner zu finden, der ihr Glauben schenkt – zu oft hat sie sonst ihren Mann vorgeschickt. Sie ist keine Kämpferin – und auch eher kein Mensch, der mit Schwierigkeiten gut klar kommt. Zwischendurch erleben wir Jule in ihrer Angst. „Sie brach erneut in Tränen aus. Sollte das wirklich alles gewesen sein? Ihr ganzes Leben? Diese wenigen Jahre? Trauer überwältigte sie. Darum, vielleicht nie mehr die Chance zu bekommen, zu leben, zu lieben, etwas anders, besser zu machen, ihr Leben in die Hand zu nehmen.“ S. 145

Was wirklich geschickt ist: ab einem gewissen Zeitpunkt weiß der Leser mehr. Aber die Zusammenhänge fehlen und damit bleibt die Spannung, abgesehen von der inzwischen immer weiter um Unterstützung suchenden Mutter. Und dann dreht Autorin Martens noch damit auf, wozu Menschen fähig sein können, Täter wie Opfer, ungewöhnlich in der letzten Konsequenz. Ein harter Thriller, bei dem noch draufgelegt wird, wenn man schon denkt, dass kann nicht noch heftiger werden. Nicht geeignet für Leser, die empfindlich reagieren bei jeglicher Art von Sadismus.

Engelsschmerz ist einzeln erhältlich oder als Bestandteil des ebooks „Midnight Thrill“ zusammen mit 2 weiteren Thrillern von anderen Autoren. Ich habe letzteres gelesen, rezensiere aus Fairness gegenüber den Autoren jedoch einzeln und verlinke unter „Midnight Thrill“.

Wohltuend wieder bei Anna Martens (dieses ist meine „Folgetat“, nachdem ich von „Blinde Schatten“ doch sehr angetan war): die Protagonisten haben „normale“ Namen, ihrem Alter entsprechend. Jule Ziegler, Tim Kruse – die Mutter heißt Ulrike. Es gibt Handlungsorte – niemand wird im luftleeren Raum krimininell – aber nicht dieses „Regionalkrimi-Gehabe“. Und das Lektorat ist, was mir sonst gerne bei Selfpublishing missfällt, recht sorgfältig. Meine absoluten Favoriten sind in dem Buch allerdings Annette Kirchgessner und Dr. Carter!