Viel zu schwaches Ende für eine sehr brutale Geschichte
Die Chroniken von Alice - Finsternis im WunderlandSchon während des Einstiegs wird klar, dass Christina Henry eine viel düstere, dunklere Schiene fährt, als es Lewis Carroll beim Original getan hat. Zu Beginn wirkt vieles noch verwirrend, undurchsichtig ...
Schon während des Einstiegs wird klar, dass Christina Henry eine viel düstere, dunklere Schiene fährt, als es Lewis Carroll beim Original getan hat. Zu Beginn wirkt vieles noch verwirrend, undurchsichtig und wenig bildhaft. Realität vermischt sich mit Träumen, mit Fantasie und mit Einbildung und es fällt einem schwer, durch Erkennen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Erst im Laufe der Zeit werden dem Leser wichtige Informationen zugespielt, die dann auch erstes Licht ins Dunkel bringen und vieles etwas klarer erscheinen lassen. Die Einstiegspassage in Form der Irrenanstalt hatte, in meinen Augen, auch noch recht wenig mit Alice im Wunderland zu tun, die wirklichen Parallelen zum Original kommen erst nach und nach und sind mal mehr und mal weniger offensichtlich ins Geschehen eingebaut. Für mich ein eher durchwachsener Start, wenngleich die Spannung definitiv von Seite 1 an spürbar war und mich definitiv animieren konnte dran zu bleiben.
Der weitere Verlauf der Handlung ist überraschend; so ganz anders als erwartet und auf ganzer Linie neuartig. Die Reise von Alice und Hatcher verläuft turbulent und nervenaufreibend, aber auch schockierend und beklemmend. Die Plots, die sich die Autorin hat einfallen lassen, machen sprachlos und zum Teil erinnert das Geschehen viel mehr an einen Horrorfilm als an ein Fantasy-Buch. Blut, Gewalt und Mord stehen an der Tagesordnung, doch ebenso auch Spannung, Action und Adrenalin. Christina Henry hat es geschafft, durch eine wendungsreiche Handlung und durch Kreaturen, die deinem schlimmsten Alptraum entsprungen sein könnten, zu begeistern und zu fesseln. Teilweise wahrlich skurril und exzentrisch, teilweise fast „krank“. Doch kommt die Geschichte niemals zum Stillstand. Zu keiner einzigen Sekunde empfand ich so etwas wie Langeweile. Viel mehr fieberte ich dem weiteren Verlauf entgegen, war gespannt, was Alice und Hatch als nächstes durchstehen müssen – oder besser gesagt: wem oder was sie als nächstes begegnen und was ihnen dabei blüht. Einzig und allein die Aufklärung mancher Plots waren ein wenig simple – so als hätte es sich die Autorin damit bewusst leicht gemacht. Hier gilt ganz klar: wer A sagt, muss auch B sagen und so hätte man eventuell die ein oder andere Wendung ein wenig kreativer lösen können. Besonders bewirkte das gleichzeitig, dass den Protagonisten vieles „zu leicht“ von der Hand ging. Jedes Problem schien sich wie durch Zauberhand selbst zu lösen.
Letztlich war es dann aber das Ende, das ernüchternd ausfiel. Während der gesamte Vorlauf ständig in neuen, noch krasseren Momenten gipfelte, war der Schluss eher mau – wenn man es so nennen möchte. Man erwartet automatisch einen Kampf auf Leben und Tod, auf ein Schlachtfeld, ein riesiges Feuerwerk an Gewalt und Brutalität (immerhin lässt der Rest des Buches darauf schließen) – doch das große Finale war nur ein Fünkchen im Verlgleich zu dem, was man bereits erleben durfte – oder musste. Da hätte ich mir einfach ein wenig mehr Wow-Effekt und weniger „Aha-Moment“ gewünscht.
Auch der Schreibstil von Christina Henry besticht durch Außergewöhnlichkeit. Obwohl er sich auf den ersten Blick kaum von anderen Stilen abhebt, merkt man besonders in Sachen Wortwahl oft einen kleinen, aber feinen Unterschied. Der Lesefluss ist dabei enorm angenehm und die Sprache fällt bildhaft und atmosphärisch aus. Die Geschichte wirkt einnehmend, fesselnd und vermittelt ein sehr deutliches, filmartiges Feeling. Für mich der perfekte Stil für diese düstere Geschichte; voller Grusel-Momente und schockierenden Bildern. Besonders positiv hervorzuheben ist auch die Tatsache, dass Alice’s Gedanken und Erinnerungen immer wieder in Form von kursiv gedruckten Passagen eingebaut wurden. Wie der Klappentext bereits verrät, erinnert sie sich zu Beginn an nichts, doch nach und nach fügt Christina Henry einzelne Erinnerungsfetzen ein und erzählt so parallel quasi noch einmal eine andere Geschichte aus der Vergangenheit.
Erzählt wird übrigens stets aus Alice’s Sicht – sodass es gar nicht erst zu Vewirrungen oder dergleichen kommen kann. Mir gefiel die Art und Weise des Erzählens dementsprechend gut, auch wenn ich mir hin und wieder doch einen etwas tieferen Einblick in Hatcher’s Kopf gewünscht hätte.
Wo wir auch beim letzten Punkt angekommen wären: den Charakteren. Betrachtet man einmal schnell jede Figur für sich, so gibt es zwar einige Momente, in denen man sie nicht nachvollziehen kann, doch im Groben und Ganzen gesehen macht es Spaß, die Geschichte mit ihnen zu durchleben. Besonders Alice beeindruckt durch eine sehr deutliche Entwicklung. Auch wenn sie nach außen hin sehr kühl wirkt, hat sie doch ein Herz und sie weiß darum, sich zu verteidigen. Mut und Stärke, sowie Kampfgeist gehören genau so zu ihren Eigenschaften wie Schwäche-Momente in Form von Angst, Unsicherheit und Überforderung. Zugegeben, Alice gleicht keineswegs ihrem Vorbild aus dem Original, doch das soll sie auch gar nicht. Sie ist einzigartig, genau so wie sie ist und den Weg, den sie gegangen ist, beeindruckt und imponiert gleichermaßen. Dennoch mangelt es ihr irgendwie an Sympathie – eben weil sie „nicht von dieser Welt“ zu sein scheint. Sie wirkt stellenweise fast unglaubwürdig und unrealistisch, passt aber mit genau dieser Art perfekt in die Geschichte. Ein süßes, zartes Mädchen wäre die wohl falscheste Besetzung überhaupt gewesen.
Gleich verhielt es sich bei Hatcher. Auch er wirkt endlos distanziert und emotionslos. Seine Mordlust macht einem als Leser stellenweise fast ein wenig Angst, doch das alles hat seine Gründe, die gen Ende sogar aufgedeckt werden und einiges erklären. Hatcher ist unsympathisch, skrupellos und brutal, aber er ist auch ein Beschützer. Bei ihm hätte ich mir allerdings gewünscht, dass er irgendwann im Laufe der Geschichte doch noch einmal so etwas wie ein Herz zeigt, nur um sicher zu gehen, dass er überhaupt eins besitzt. Den Anschein macht es nämlich über all die 350 Seiten nicht wirklich. Kurz Lichtblicke in Form von Rückblenden in sein früheres Leben zeugen zwar vom Gegenteil, doch so recht greifbar ist das nicht geworden. Hatcher ist einfach Hatcher – ein Axtmörder, wie er im Klappentext genannt wird; aber er ist eben auch eine wichtige Stütze für Alice und eine perfekte Besetzung für diese Adaption.
Und um jetzt oben wieder anzuschließen: die Interaktionen untereinander konnten mich leider nicht erreichen – nie. Schon zu Beginn wird Hatch als bester Freund von Alice bezeichnet, doch diesen Eindruck gewann ich persönlich nicht; bis zum Schluss kein einziges Mal. Selbst die aufkeimenden Gefühlen wirkten für mich in dieser trost,- und hoffnungslosen Welt beinah Fehl am Platz. Es hätte diese Liebesgeschichte keineswegs gebraucht – es hätte voll und gnaz ausgereicht, wenn Alice und Hatch nur Freunde, vielleicht sogar auch nur Bekannte gewesen wären, die dazu verdammt wurden, diese schockierende Reise gemeinsam anzutreten.
Randfiguren gab es ebenfalls einige, die wohl die größte Brücke zu „Alice im Wunderland“ darstellten. So war da zum Beispiel Grinser, der ganz klar an die Grinsekatze angelehnt war. Oder aber andere, mal mehr mal weniger bekannte Charaktere. Sie alle waren ausreichend gut dargestellt – optisch wie auch charakterlich gut ausgeleuchtet und, je nach Wichtigkeit, auch greifbar genug, um eine Bindung zu ihnen aufzubauen. Die ganzen Antagonisten, die es hierbei gab, gefielen dabei fast am meisten, schließlich waren sie es, die den Zündstoff mit brachten und die ein oder andere Wendung heraufbeschworen.
FAZIT:
„Die Chroniken von Alice 1: Finsternis im Wunderland“ von Christina Henry ist eine erschreckend düstere, brutale Geschichte, die definitiv das Potential zum Slasherfilm hat. Gewalt, Blut und andere obskure Einschläge machen das Buch zu einem wahren Alptraum – aber eben auch zu einer spannenden, mitreißenden und gruseligen Unterhaltung. Ich finde nach wie vor, dass eine Triggerwarnung in diese Geschichte gehört – besonders in Bezug auf die angeteaserten Vergewaltigungs-Szenen. Nichtsdestotrotz war das Lese-Erlebnis absolut einmalig und wahrscheinlich sogar unvergesslich. Dieser erste Band kommt nicht ohne Kritik weg, besonders in Sachen Emotionen und Nachvollziehbarkeit gäbe es noch Luft nach oben – doch eigentlich braucht diese Geschichte gar keine Emotionen; sie begeistert auch so.