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Veröffentlicht am 25.06.2020

Ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet und aufklärt

Kompass ohne Norden
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"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die ...

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund."


"Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.


"Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität."


Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden.


"Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!"
"Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden."


Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen.


"Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden."


Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen.


"Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt."


Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen.


"Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt."


Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen!


„In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“


Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht.


"Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?"


Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken.


"Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster."




Fazit:


"Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.
Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.06.2020

Ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet und aufklärt

Kompass ohne Norden
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"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die ...

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund."


"Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.


"Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität."


Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden.


"Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!"
"Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden."


Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen.


"Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden."


Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen.


"Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt."


Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen.


"Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt."


Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen!


„In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“


Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht.


"Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?"


Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken.


"Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster."




Fazit:


"Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.
Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.06.2020

Ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet und aufklärt

Kompass ohne Norden
0

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die ...

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund."


"Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.


"Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität."


Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden.


"Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!"
"Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden."


Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen.


"Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden."


Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen.


"Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt."


Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen.


"Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt."


Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen!


„In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“


Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht.


"Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?"


Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken.


"Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster."




Fazit:


"Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.
Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

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  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.06.2020

Ein höheres Erzähltempo, gereiftere Charaktere, größere Handlungsdimensionen und eine komplexere Storyline

Elias & Laia - Eine Fackel im Dunkel der Nacht
0

Nachdem mich der erste Band der Reihe "Elais und Laia - Die Herrschaft der Masken" vor ein paar Tagen überraschenderweise total begeistert hat, war ich total erleichtert, gleich zum nächsten Band greifen ...

Nachdem mich der erste Band der Reihe "Elais und Laia - Die Herrschaft der Masken" vor ein paar Tagen überraschenderweise total begeistert hat, war ich total erleichtert, gleich zum nächsten Band greifen zu können (SuB sei dank ^^). Auch die Fortsetzung der ab Dezember 2020 vierbändigen Reihe konnte mich komplett überzeugen. Angst, Hoffnung, Verzweiflung, Hass, verrückte Pläne, Tod und Liebe am Abgrund - dies ist der Stoff, aus dem diese Geschichte gemacht ist.

Das Cover ist wieder ein ganz nett gestaltetes aber typisches Jugendbuch-Dystopie-Cover. Zu sehen sind ein Teil eines weiblichen Gesichts, sowie die Andeutung eines antiken Amphitheaters im unteren Teil des Bildes. Beide Elemente passen zur Handlung und durch die Hell-Dunkel-Kontraste und die warmen Farbtöne wird die düstere Atmosphäre des Wüstensettings gut transportiert. Ich bin wohl etwas verwöhnt von anderen Fantasy-Romanen, denn mit zunehmender Seitenzahl haben mir ein Glossar, ein Namensregister und vor allem eine Karte gefehlt, da ich vor allem über die geografische Lage der Handlung gerne mal den Überblick verloren habe.


Erster Satz: "Wie haben sie uns so schnell gefunden?"


Band 2 knüpft direkt an die Handlung vom ersten Teil an und erzählt im ersten Kapitel von Elias´ und Laias Flucht aus Serra, nachdem Laia Elias vor seiner Hinrichtung bewahrt und die Militärakademie Schwarzkliff zerstört hat. Auffallend ist, dass Sabaa Tahir nur wenige Rückblenden und Erinnerungshilfen miteinfließen lässt, was mich nicht gestört hat, da ich den ersten Teil erst einen Tag zuvor beendet hatte. Für Leser, die lange auf den zweiten Band gewartet haben, könnte ich mir den Einstieg ohne Handlungshilfe aber schwer vorstellen. Nach einer fragwürdigen Begegnung mit der Kommandantin beginnt die Reise der Beiden quer durchs Imperium, wobei sie viele gefährliche Abenteuer, blutige Begegnungen und fiese Verschwörungen überstehen müssen. Von der Wüste durch die Serraberge über die Stammesstadt Nur, in den Dämmerwald bis hin nach Kauf ganz im Norden des Imperiums, wo Laias Bruder Darin gefangen gehalten wird, reisen wir mit den beiden und lernen so das weitläufige Imperium besser kennen.

Dabei wird die Spannung auch durch viele Hindernisse und Probleme hochgehalten. Der zweite Teil besticht demnach nicht nur mit mehr Hintergrundinformationen zum Setting, der Geschichte des Landes und neuen Begegnungen, sondern ist auch deutlich temporeicher, als der erste Teil. Die Komplexität der Story leidet darunter aber mitnichten. Darin zu befreien ist nämlich lange keine rein familiäre Rettungsaktion mehr - da er das Geheimnis des Serrastahls kennt, das die Martialen stürzen könnte, sind auch die Kundigenrebellen und Stämme an seiner Rettung interessiert. Doch nicht nur der neue Blutgreif und Elias´ alte Freundin Helena sind Elias und Laia auf den Fersen - sie müssen auch mit den dunklen Plänen der Kommandantin umgehen, die eine blutige Spur durch das Imperium zieht und versucht, alle Kundigen auszulöschen. Als dann noch Elias durch ein tödliches Gift geschwächt mit dem Tod verhandelt und ein übernatürlicher Gegenspieler die Fährte der beiden aufnimmt, droht ihre Mission erneut fatal zu scheitern...


"Die meisten Menschen", sagt Cain, "sind nichts als Fünkchen in der großen Dunkelheit der Zeit. Aber du, Helena Aquilla, bist kein rasch verglühender Funke. Du bist eine Fackel im Dunkel der Nacht - wenn du den Mut hast zu brennen."


Durch das Hinzufügen einer neuen Erzählperspektive, wird die Geschichte abwechslungsreicher und zugleich komplexer. Wir fühlen gleichzeitig mit Laia, die auf die Rettung ihres Bruders hinfiebert, immer mehr ihre Stärke entfesselt und eine neue verborgene Fähigkeit entdeckt, kämpfen mit Elias gegen das Gift in seinen Adern und treffen an der Schwelle des Todes auf die Seelenfängerin und einige bereits verschiedene Protagonisten, und gehen mit Helena Aquilla auf die Jagd nach den beiden, spüren ihre innere Zerrissenheit nach, erfahren Schritt für Schritt mehr über die blutige Verschwörung der Kommandantin und die grausame Herrschaft des neuen Imperators Marcus. Insgesamt ermöglicht die Kombination der Erzählstränge einen umfassenden Blick auf verschiedene Geschehnisse im Imperium. Mit verschiedenen handelnden Agenten, Motiven, Geheimnissen, Prophezeiungen und einigen magischen Gegenspielern ist die Geschichte wieder so undurchsichtig, dass viele spannende Wendungen mir kurzfristig den Atem geraubt haben. Zusätzlich baut Sabaa Tahir die magischen Elemente, die sie im ersten Teil nur grob angerissen hatte, weiter aus. Ob nun das Totenreich im Dämmerwald, die Geschichte vom Niedergang der Dschinn, der Racheplan des Nachtbringers oder die erwachsenen magischen Fähigkeiten in einigen Protagonisten - auch der magische Aspekt der Handlung entwickelt sich weiter und bekommt neue Tiefe.


"Du bist mein Tempel", murmele ich, während ich mich neben sie knie. "Du bist meine Priesterin. Du bist mein Gebet. Du bist meine Erlösung."


Im Mittelteil kommt die Handlung kurzzeitig etwas schwer vom Fleck, da sich die Flucht ein wenig in die Länge zu ziehen scheint, auch wenn eigentlich ständig etwas passiert. Kaschiert wird das durch die Enthüllung von alten Geheimnissen wie der Verrat an Lais Eltern, die Identität der Köchin oder die Frage nach Elias´ Vater. Und als die Protagonisten dann schließlich alle in Kauf ankommen und sich die Handlungsstränge treffen beginnt ein wirklich unglaublicher Showdown, bei dem ich immer wieder schlucken musste. Denn diese Fortsetzung ist noch grausamer, brutaler und schonungsloser, als der erste Teil. Auch wenn die Protagonisten hier den Fängen von Schwarzkliff entflohen sind, sind die physischen und psychischen Qualen, die sie während der Reise erleiden müssen und mitansehen oftmals schockierend. Trotz der Ansiedlung des Settings im Orient kommt nur schwer ein Tausend-und-eine-Nacht-Feeling auf, dennoch war ich von der ersten Seite an fasziniert von dieser grausamen Welt, in der man verzweifelt nach einem Fünkchen Hoffnung sucht. Im Vorwort schreibt die Autorin, dass diese Geschichte von tatsächlichen Vorkommnissen inspiriert wurde, die sie als Auslandsredakteurin der Washington Post lesen musste. Neben großen Konstrukten wie Unterdrückung, Rassismus und Imperialismus, ist auch die konkrete Gewalt kaum auszuhalten. Egal ob an Konzentrationslager erinnernde Zellen in Kauf, Folter von Kindern, dem Homizid an den Kundigen oder der willkürlichen Hinrichtung von Familienmitgliedern - die Grausamkeit der fiktiven Szenen übersteigt bei Weitem das, was ich 14jährigen Lesern (Altersempfehlung des Verlags) zumuten würde.


"Das Leben braucht nur einen Sekundenbruchteil, um in eine furchtbar falsche Richtung zu laufen. Um das Durcheinander wieder zu ordnen, brauche ich tausend Dinge, die richtig laufen. Die Entfernung von dem einen bisschen Glück zum nächsten fühlt sich so groß an wie die zwischen zwei Ozeanen. Aber, beschließe ich in diesem Augenblick, ich werde diese Entfernung überbrücken, wieder und wieder, bis ich gewinne. Ich werde nicht wieder scheitern."


Dass die Autorin einen sehr eindrücklichen, plastischen Schreibstil hat, ist in dieser Hinsicht für den sensiblen Leser mehr Fluch als Segen. Da ist es dann eine willkommene Abwechslung, wenn sie statt einer Hinrichtung schillernde Sonnenaufgänge, bunte Märkte oder wilde Feste beschreibt. Neben dem unverändert bildreichen Setting und der düsteren Atmosphäre, sind auch die Protagonisten gewohnt einfühlsam charakterisiert. Laias Entwicklung von einem anfangs schwachen Opfer zu einer selbstbewussten und starken jungen Frau, die es versteht zu kämpfen und unsere Herzen zu bewegen, geht hier weiter. Sie erfährt auch hier wieder Verrat, Leid, Angst, Ungewissheit aber auch viel Liebe, Unterstützung und Bewunderung, was sie weiter wachsen lässt. Auch Elias wird immer mehr zu dem, was er selbst immer sein wollte: empathisch, gerecht, loyal und frei, auch angesichts seines Todes. Von der Maske in ihm ist schon bald nichts mehr als seine Stärke geblieben.


"Hast du je eine Geschichte über einen Abenteurer mit einem vernünftigen Plan gehört?"
"Äh... nein?"
"Und warum glaubst du wohl, ist das so?"
Ich bin ratlos. "Weil... weil..."
Sie lacht erneut. "Weil vernünftige Pläne niemals aufgehen, Mädchen", sagt sie. "Es klappt nur mit den verrückten."


Am spannendsten in diesem Teil fand ich jedoch die Entwicklung von Helena, in deren Kopf wir hier zum ersten mal blicken können. Sie ist zunehmend zwischen ihrer Loyalität, Freundschaft und Liebe zu Elias und ihrer Verantwortung gegenüber dem Imperium hin und her gerissen und weiß schon bald nicht mehr, wie sie als Blutgreif Stärke und Unbeugsamkeit repräsentieren, sich selbst aber treu bleiben soll. Insgesamt sind die drei sehr vielschichtigen Sympathieträger, deren Entwicklung sich über die 512 Seiten durchaus sehen lassen kann. Auch die neuen Nebenprotagonisten wie die Stammesfrau Ayfa, der Sklavenjunge Tas, der zwiespältige Hauptmann Harper oder die leidende Seelenfängerin bringen ordentlich Pepp in die Handlung und trösten und darüber hinweg, dass Sabaa Tahir auch hier wieder nicht gerade zaghaft mit liebgewonnenen Protas umgeht und der Verlust wieder groß ist. Zum Glück werden im Zuge dessen aber auch zwei der Liebesdreiecke mehr oder weniger aufgelöst, was die Glaubwürdigkeit der zarten Gefühle zwischen Elias und Laia für mich deutlich gesteigert hat.


"Das Imperium muss an erster Stelle kommen - vor deinen Wünschen, Freundschaften, Bedürfnissen. Sogar vor deiner Schwester und deiner Gens. Wir sind Aquilla, Tochter. Getreu bis zum Ende. Sag es."
"Getreu", flüstere ich.
Selbst wenn es bedeutet, dass meine Schwester zugrunde geht. Selbst wenn es bedeutet, dass ein Irrer das Imperium regiert. Selbst wenn es bedeutet, dass ich meinen besten Freund foltern und töten muss.
"Bis zum Ende."


Das Ende hat mich dann nochmal fast dazu gebracht, zu verzweifeln und ich musste mich bis kurz vor Schluss händeringend fragen, wie das denn noch gut ausgehen soll. Als dann doch noch relativ schnell alles in halbwegs geregelte Bahnen gerät und wir ohne miesen Cliffhanger auf den nächsten Band warten können, war ich mehr als erleichtert. Werde ich trotz des akzeptablen Halb-Happy-Ends den dritten Teil lesen? Da "Elias und Laia - Eine Fackel im Dunkel der Nacht" bis auf kleine Schwächen im Mittelteil noch einen Ticken besser war als Band 1 und ich schon seit längerem keine so gute Fantasy mehr gelesen habe (seit "Throne of Glass", by the way), die mich so mitgerissen hat, denke ich, erübrigt sich die Frage...



Fazit:


Ein höheres Erzähltempo, gereiftere Charaktere, größere Handlungsdimensionen und eine komplexere Storyline - "Elias und Laia - Eine Fackel im Dunkel der Nacht" ist sogar noch ein bisschen besser als sein Vorgänger und überzeugt wieder mit einem mitreißenden Mix aus einem orientalischen Setting, tollen Protagonisten, realitätsnaher Grausamkeit und einem atemberaubenden Schreibstil.

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Veröffentlicht am 22.06.2020

Ein höheres Erzähltempo, gereiftere Charaktere, größere Handlungsdimensionen und eine komplexere Storyline

Elias & Laia - Eine Fackel im Dunkel der Nacht
0

Nachdem mich der erste Band der Reihe "Elais und Laia - Die Herrschaft der Masken" vor ein paar Tagen überraschenderweise total begeistert hat, war ich total erleichtert, gleich zum nächsten Band greifen ...

Nachdem mich der erste Band der Reihe "Elais und Laia - Die Herrschaft der Masken" vor ein paar Tagen überraschenderweise total begeistert hat, war ich total erleichtert, gleich zum nächsten Band greifen zu können (SuB sei dank ^^). Auch die Fortsetzung der ab Dezember 2020 vierbändigen Reihe konnte mich komplett überzeugen. Angst, Hoffnung, Verzweiflung, Hass, verrückte Pläne, Tod und Liebe am Abgrund - dies ist der Stoff, aus dem diese Geschichte gemacht ist.

Das Cover ist wieder ein ganz nett gestaltetes aber typisches Jugendbuch-Dystopie-Cover. Zu sehen sind ein Teil eines weiblichen Gesichts, sowie die Andeutung eines antiken Amphitheaters im unteren Teil des Bildes. Beide Elemente passen zur Handlung und durch die Hell-Dunkel-Kontraste und die warmen Farbtöne wird die düstere Atmosphäre des Wüstensettings gut transportiert. Ich bin wohl etwas verwöhnt von anderen Fantasy-Romanen, denn mit zunehmender Seitenzahl haben mir ein Glossar, ein Namensregister und vor allem eine Karte gefehlt, da ich vor allem über die geografische Lage der Handlung gerne mal den Überblick verloren habe.


Erster Satz: "Wie haben sie uns so schnell gefunden?"


Band 2 knüpft direkt an die Handlung vom ersten Teil an und erzählt im ersten Kapitel von Elias´ und Laias Flucht aus Serra, nachdem Laia Elias vor seiner Hinrichtung bewahrt und die Militärakademie Schwarzkliff zerstört hat. Auffallend ist, dass Sabaa Tahir nur wenige Rückblenden und Erinnerungshilfen miteinfließen lässt, was mich nicht gestört hat, da ich den ersten Teil erst einen Tag zuvor beendet hatte. Für Leser, die lange auf den zweiten Band gewartet haben, könnte ich mir den Einstieg ohne Handlungshilfe aber schwer vorstellen. Nach einer fragwürdigen Begegnung mit der Kommandantin beginnt die Reise der Beiden quer durchs Imperium, wobei sie viele gefährliche Abenteuer, blutige Begegnungen und fiese Verschwörungen überstehen müssen. Von der Wüste durch die Serraberge über die Stammesstadt Nur, in den Dämmerwald bis hin nach Kauf ganz im Norden des Imperiums, wo Laias Bruder Darin gefangen gehalten wird, reisen wir mit den beiden und lernen so das weitläufige Imperium besser kennen.

Dabei wird die Spannung auch durch viele Hindernisse und Probleme hochgehalten. Der zweite Teil besticht demnach nicht nur mit mehr Hintergrundinformationen zum Setting, der Geschichte des Landes und neuen Begegnungen, sondern ist auch deutlich temporeicher, als der erste Teil. Die Komplexität der Story leidet darunter aber mitnichten. Darin zu befreien ist nämlich lange keine rein familiäre Rettungsaktion mehr - da er das Geheimnis des Serrastahls kennt, das die Martialen stürzen könnte, sind auch die Kundigenrebellen und Stämme an seiner Rettung interessiert. Doch nicht nur der neue Blutgreif und Elias´ alte Freundin Helena sind Elias und Laia auf den Fersen - sie müssen auch mit den dunklen Plänen der Kommandantin umgehen, die eine blutige Spur durch das Imperium zieht und versucht, alle Kundigen auszulöschen. Als dann noch Elias durch ein tödliches Gift geschwächt mit dem Tod verhandelt und ein übernatürlicher Gegenspieler die Fährte der beiden aufnimmt, droht ihre Mission erneut fatal zu scheitern...


"Die meisten Menschen", sagt Cain, "sind nichts als Fünkchen in der großen Dunkelheit der Zeit. Aber du, Helena Aquilla, bist kein rasch verglühender Funke. Du bist eine Fackel im Dunkel der Nacht - wenn du den Mut hast zu brennen."


Durch das Hinzufügen einer neuen Erzählperspektive, wird die Geschichte abwechslungsreicher und zugleich komplexer. Wir fühlen gleichzeitig mit Laia, die auf die Rettung ihres Bruders hinfiebert, immer mehr ihre Stärke entfesselt und eine neue verborgene Fähigkeit entdeckt, kämpfen mit Elias gegen das Gift in seinen Adern und treffen an der Schwelle des Todes auf die Seelenfängerin und einige bereits verschiedene Protagonisten, und gehen mit Helena Aquilla auf die Jagd nach den beiden, spüren ihre innere Zerrissenheit nach, erfahren Schritt für Schritt mehr über die blutige Verschwörung der Kommandantin und die grausame Herrschaft des neuen Imperators Marcus. Insgesamt ermöglicht die Kombination der Erzählstränge einen umfassenden Blick auf verschiedene Geschehnisse im Imperium. Mit verschiedenen handelnden Agenten, Motiven, Geheimnissen, Prophezeiungen und einigen magischen Gegenspielern ist die Geschichte wieder so undurchsichtig, dass viele spannende Wendungen mir kurzfristig den Atem geraubt haben. Zusätzlich baut Sabaa Tahir die magischen Elemente, die sie im ersten Teil nur grob angerissen hatte, weiter aus. Ob nun das Totenreich im Dämmerwald, die Geschichte vom Niedergang der Dschinn, der Racheplan des Nachtbringers oder die erwachsenen magischen Fähigkeiten in einigen Protagonisten - auch der magische Aspekt der Handlung entwickelt sich weiter und bekommt neue Tiefe.


"Du bist mein Tempel", murmele ich, während ich mich neben sie knie. "Du bist meine Priesterin. Du bist mein Gebet. Du bist meine Erlösung."


Im Mittelteil kommt die Handlung kurzzeitig etwas schwer vom Fleck, da sich die Flucht ein wenig in die Länge zu ziehen scheint, auch wenn eigentlich ständig etwas passiert. Kaschiert wird das durch die Enthüllung von alten Geheimnissen wie der Verrat an Lais Eltern, die Identität der Köchin oder die Frage nach Elias´ Vater. Und als die Protagonisten dann schließlich alle in Kauf ankommen und sich die Handlungsstränge treffen beginnt ein wirklich unglaublicher Showdown, bei dem ich immer wieder schlucken musste. Denn diese Fortsetzung ist noch grausamer, brutaler und schonungsloser, als der erste Teil. Auch wenn die Protagonisten hier den Fängen von Schwarzkliff entflohen sind, sind die physischen und psychischen Qualen, die sie während der Reise erleiden müssen und mitansehen oftmals schockierend. Trotz der Ansiedlung des Settings im Orient kommt nur schwer ein Tausend-und-eine-Nacht-Feeling auf, dennoch war ich von der ersten Seite an fasziniert von dieser grausamen Welt, in der man verzweifelt nach einem Fünkchen Hoffnung sucht. Im Vorwort schreibt die Autorin, dass diese Geschichte von tatsächlichen Vorkommnissen inspiriert wurde, die sie als Auslandsredakteurin der Washington Post lesen musste. Neben großen Konstrukten wie Unterdrückung, Rassismus und Imperialismus, ist auch die konkrete Gewalt kaum auszuhalten. Egal ob an Konzentrationslager erinnernde Zellen in Kauf, Folter von Kindern, dem Homizid an den Kundigen oder der willkürlichen Hinrichtung von Familienmitgliedern - die Grausamkeit der fiktiven Szenen übersteigt bei Weitem das, was ich 14jährigen Lesern (Altersempfehlung des Verlags) zumuten würde.


"Das Leben braucht nur einen Sekundenbruchteil, um in eine furchtbar falsche Richtung zu laufen. Um das Durcheinander wieder zu ordnen, brauche ich tausend Dinge, die richtig laufen. Die Entfernung von dem einen bisschen Glück zum nächsten fühlt sich so groß an wie die zwischen zwei Ozeanen. Aber, beschließe ich in diesem Augenblick, ich werde diese Entfernung überbrücken, wieder und wieder, bis ich gewinne. Ich werde nicht wieder scheitern."


Dass die Autorin einen sehr eindrücklichen, plastischen Schreibstil hat, ist in dieser Hinsicht für den sensiblen Leser mehr Fluch als Segen. Da ist es dann eine willkommene Abwechslung, wenn sie statt einer Hinrichtung schillernde Sonnenaufgänge, bunte Märkte oder wilde Feste beschreibt. Neben dem unverändert bildreichen Setting und der düsteren Atmosphäre, sind auch die Protagonisten gewohnt einfühlsam charakterisiert. Laias Entwicklung von einem anfangs schwachen Opfer zu einer selbstbewussten und starken jungen Frau, die es versteht zu kämpfen und unsere Herzen zu bewegen, geht hier weiter. Sie erfährt auch hier wieder Verrat, Leid, Angst, Ungewissheit aber auch viel Liebe, Unterstützung und Bewunderung, was sie weiter wachsen lässt. Auch Elias wird immer mehr zu dem, was er selbst immer sein wollte: empathisch, gerecht, loyal und frei, auch angesichts seines Todes. Von der Maske in ihm ist schon bald nichts mehr als seine Stärke geblieben.


"Hast du je eine Geschichte über einen Abenteurer mit einem vernünftigen Plan gehört?"
"Äh... nein?"
"Und warum glaubst du wohl, ist das so?"
Ich bin ratlos. "Weil... weil..."
Sie lacht erneut. "Weil vernünftige Pläne niemals aufgehen, Mädchen", sagt sie. "Es klappt nur mit den verrückten."


Am spannendsten in diesem Teil fand ich jedoch die Entwicklung von Helena, in deren Kopf wir hier zum ersten mal blicken können. Sie ist zunehmend zwischen ihrer Loyalität, Freundschaft und Liebe zu Elias und ihrer Verantwortung gegenüber dem Imperium hin und her gerissen und weiß schon bald nicht mehr, wie sie als Blutgreif Stärke und Unbeugsamkeit repräsentieren, sich selbst aber treu bleiben soll. Insgesamt sind die drei sehr vielschichtigen Sympathieträger, deren Entwicklung sich über die 512 Seiten durchaus sehen lassen kann. Auch die neuen Nebenprotagonisten wie die Stammesfrau Ayfa, der Sklavenjunge Tas, der zwiespältige Hauptmann Harper oder die leidende Seelenfängerin bringen ordentlich Pepp in die Handlung und trösten und darüber hinweg, dass Sabaa Tahir auch hier wieder nicht gerade zaghaft mit liebgewonnenen Protas umgeht und der Verlust wieder groß ist. Zum Glück werden im Zuge dessen aber auch zwei der Liebesdreiecke mehr oder weniger aufgelöst, was die Glaubwürdigkeit der zarten Gefühle zwischen Elias und Laia für mich deutlich gesteigert hat.


"Das Imperium muss an erster Stelle kommen - vor deinen Wünschen, Freundschaften, Bedürfnissen. Sogar vor deiner Schwester und deiner Gens. Wir sind Aquilla, Tochter. Getreu bis zum Ende. Sag es."
"Getreu", flüstere ich.
Selbst wenn es bedeutet, dass meine Schwester zugrunde geht. Selbst wenn es bedeutet, dass ein Irrer das Imperium regiert. Selbst wenn es bedeutet, dass ich meinen besten Freund foltern und töten muss.
"Bis zum Ende."


Das Ende hat mich dann nochmal fast dazu gebracht, zu verzweifeln und ich musste mich bis kurz vor Schluss händeringend fragen, wie das denn noch gut ausgehen soll. Als dann doch noch relativ schnell alles in halbwegs geregelte Bahnen gerät und wir ohne miesen Cliffhanger auf den nächsten Band warten können, war ich mehr als erleichtert. Werde ich trotz des akzeptablen Halb-Happy-Ends den dritten Teil lesen? Da "Elias und Laia - Eine Fackel im Dunkel der Nacht" bis auf kleine Schwächen im Mittelteil noch einen Ticken besser war als Band 1 und ich schon seit längerem keine so gute Fantasy mehr gelesen habe (seit "Throne of Glass", by the way), die mich so mitgerissen hat, denke ich, erübrigt sich die Frage...



Fazit:


Ein höheres Erzähltempo, gereiftere Charaktere, größere Handlungsdimensionen und eine komplexere Storyline - "Elias und Laia - Eine Fackel im Dunkel der Nacht" ist sogar noch ein bisschen besser als sein Vorgänger und überzeugt wieder mit einem mitreißenden Mix aus einem orientalischen Setting, tollen Protagonisten, realitätsnaher Grausamkeit und einem atemberaubenden Schreibstil.

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