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Veröffentlicht am 06.11.2020

berückend und rätselhaft

Andrin
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Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, ...

Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, die zu schreiben ihr aufgetragen wurde, stockt; sie findet einfach keinen Zugang, weder zu dem Leben, noch zu der Person des literarisch zu Porträtierenden. Ihr Verleger hat die Idee: Susanne soll sich in sein Appartement in Italien zurückziehen: Ruhe, Entspannung, Blick aufs Meer – dann fließt auch wieder die Kreativität. Statt in Italien strandet Susanne indes in Voglweh, einem verborgenen, ja, verfallenen Bergdorf. Die einzigen zwei Bewohner der winzigen Siedlung, der ältere, überaus vielseitig begabte Andrin und seine Frau Uta, nehmen Susanne mit offenen Armen auf. Und was zunächst als kurzer Aufenthalt gedacht ist, dauert an und an und an. Ja, die verlassene Siedlung, die ewig drohenden Steinlawinen, das warmherzige Ehepaar und die grotesk üppige Vegetation werfen bei ihr Fragen auf – doch Susanne schiebt sie beiseite. Je mehr Zeit sie in Voglweh verbringt, umso mehr verliert sie sich bereitwillig in dem gleichmäßigen Rhythmus aus körperlicher Arbeit, fantastischem Essen, wohltuender Gesellschaft und tiefem Schlaf … doch wie lange kann dieses entrückte Leben realistischerweise andauern?

„Andrin“ ist ein faszinierender Roman, der wie ein Vexierbild mit der Realität und dem Alltag, wie wir sie kennen, spielt. Während der Lektüre fühlte ich mich vielfach an Marlen Haushofers „Die Wand“, Raphaela Edelbauers „Das flüssige Land“ und zum Teil auch an Ewald Arenz‘ „Alte Sorten“ erinnert. Doch trotz – oder gerade wegen – dieser Reminiszenzen, entfaltet „Andrin“ ein ganz eigenes, gefangennehmendes Erzähluniversum: Ein weitestgehend autarkes Leben fernab des hektischen Alltäglichen, das ausschließlich den eigenen und den Naturgesetzen folgt und in einer beinahe realitätsenthobenen, naturverbundenen Parallelwelt stattfindet – was Susanne erlebt, war für mich als Leserin zugleich irritierend und enigmatisch, bestrickend und verheißungsvoll.

Mein einziger – allerdings, wie ich einräumen muss, sehr, sehr subjektiver – Kritikpunkt ist der an einigen Stellen etwas zu umgangssprachliche und ein wenig flapsige Erzählstil. Doch das ist ausschließlich meinem persönlichen Geschmack geschuldet, denn er passt, das muss ich betonen, durchaus zu der recht burschikosen Ich- Erzählerin und tut der Erzählung keinerlei Abbruch.

Ich habe diesen Roman ausgesprochen gern gelesen und
empfehle ihn ebenso ausgesprochen gerne weiter.

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Veröffentlicht am 05.11.2020

gewohnt liebenswert-kauzig

Funkenmord (Kluftinger-Krimis 11)
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Nachdem mir der Ausflug des Autorenduos Klüpfel/Kobr ins Thrillerfach ja leider nicht so gut gefallen hat, bin ich umso glücklicher, dass die beiden sich wieder ihrem eigentlichen Genre gewidmet und dem ...

Nachdem mir der Ausflug des Autorenduos Klüpfel/Kobr ins Thrillerfach ja leider nicht so gut gefallen hat, bin ich umso glücklicher, dass die beiden sich wieder ihrem eigentlichen Genre gewidmet und dem kauzig-liebenswerten Klufti einen neuen Fall auf den Lodenjanker-bewehrten Leib geschrieben haben. Und was soll ich sagen? Ich mag ihn – den neuen Roman, den neuen Fall und natürlich auch den Kommissar Kluftinger.

Dieses Mal ist Klufti arg gebeutelt. Der letzte Fall steckt ihm noch immer in den Knochen, die Taufe des Enkelchens steht an, seine Chefin muss den Stuhl räumen und Kluftinger interims ihre Rolle einnehmen (was ihn zu seinem eigenen Chef macht – der Himmel steh uns bei). Zu allem Überfluss ist seine Erika gerade sehr, sehr schlecht zurecht und leider nicht in der Lage, ihm die quasi überlebensnotwendigen Kässpatzen zuzubereiten. Des Weiteren wären da noch ein eigenwilliger Hund aus dem Tierheim und eine patente, allerdings so ganz anders gestrickte neue Kollegin, die ordentlich frischen Wind in Kluftis Team bringt. Ach ja, einen Fall gibt es natürlich auch. Und zwar nicht irgendeinen, sondern einen waschechten Cold Case, an dessen „Aufklärung“ Kluftinger vor dreißig Jahren selbst beteiligt war … oder hat man seinerzeit doch nicht den wahren Täter gefasst?

Klufti stiefelt in gewohnt herzerwärmend-knurriger Weise durch den Fall und sein Leben, lässt kein Fettnäpfchen aus – und beweist doch einmal mehr, dass er am Ende des Tages ein instinktsicherer Kriminalist ist. Wie alle Kluftinger-Romane ist auch dieser gespickt mit urkomischen Situationen, originellen Einfällen und ganz vielen „Nee, Klufti, bitte mach das jetzt nicht“-Momenten. Ich sag nur: Thermomix …

Fazit: Wer die Kluftinger-Krimis kennt und mag, wird ganz gewiss auch an „Funkenmord“ seine Freude haben. Wer sie noch nicht kennt, sollte ihre Lektüre auf jeden Fall einmal in Erwägung ziehen. (Ich grinse gerade allein bei dem Gedanken an das Buch …)

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Veröffentlicht am 31.08.2020

Ein atmosphärischer Krimi, perfekt für einen Herbstabend auf der Couch

Die Tinktur des Todes
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Edinburgh, Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Medizinstudent Will Raven kann sein Glück kaum fassen: Er hat eine Stelle als „Famulus“, als Assistent des renommierten Arztes Dr. Simpson erhalten – Kost und ...

Edinburgh, Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Medizinstudent Will Raven kann sein Glück kaum fassen: Er hat eine Stelle als „Famulus“, als Assistent des renommierten Arztes Dr. Simpson erhalten – Kost und Logis inklusive. Damit kann er nicht nur seinem heruntergekommenen Zimmer entkommen, sondern auch den Häschern eines nicht für seine Zimperlichkeit bekannten Unterweltbosses, dem Will eine Menge Geld schuldet. In dem lebendigen, unkonventionellen Haushalt der Simpsons, zu dem erstaunlich viele Mitglieder zählen, lernt Will nicht nur eine ihm bis dato fremde – und bisweilen etwas kuriose – Lebensweise kennen (Versuche mit neuartigen Betäubungsmitteln unternimmt man gerne mal an sich selbst), sondern auch das kecke und kluge Hausmädchen Sarah.
Sein neues Leben wird indes von einer ebenso brutalen wie rätselhaften Mordserie an jungen Frauen überschattet; eines der Opfer kannte Will sehr, sehr gut und er setzt alles daran, den Mörder dingfest zu machen. Unversehens befindet Will sich in einem Strudel aus privaten Mordermittlungen, medizinischem Studium, beruflicher Rivalität, Verfolgung und – ja, auch erwachender Gefühle und der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

„Die Tinktur des Todes“ ist ein spannender, unglaublich atmosphärischer Roman, der das viktorianische Zeitalter mit all seinen Facetten wiederauferstehen lässt. Die lebendige Figurenzeichnung, der Hintergrund aus rasant fortschreitender medizinischer Forschung einerseits und der an Jack the Ripper erinnernden Mordserie andererseits machen die Lektüre zu einem großen Vergnügen. Das perfekte Buch für einen Herbstabend auf der Couch!

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Veröffentlicht am 28.08.2020

Subtile Spannung

Die Nachbarin
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Wie gut kennt ihr eure Nachbarn?

Lexie und Harriet leben Tür an Tür, Wand an Wand in einem eleganten Apartmenthaus in London. Und obgleich sie einander nie persönlich kennengelernt haben, meint jede, ...

Wie gut kennt ihr eure Nachbarn?

Lexie und Harriet leben Tür an Tür, Wand an Wand in einem eleganten Apartmenthaus in London. Und obgleich sie einander nie persönlich kennengelernt haben, meint jede, ihre Nachbarin zu kennen, allein anhand dessen, was sie durch die Wände hört (und in den sozialen Medien recherchiert). Lexie beispielsweise hört Harriet Klavier spielen und singen und beinahe allabendlich wilde Partys feiern. Klar: die Nachbarin führt ein wahnsinnig aufregendes berufliches und soziales Leben, etwas, das sie selbst schmerzlich vermisst, seit sie ihren Job gekündigt hat, um mit ihrem Freund Tom endlich eine Familie zu gründen. Harriet wiederum „weiß“, dass Lexie total glücklich mit Tom zusammenlebt und allseits beliebt ist. Und das ist ihr ein Dorn im Auge. Denn eigentlich sehnt Harriet sich nach einer gescheiterten Beziehung nach einem Mann wie Tom. Nein, nicht nach einem Mann WIE Tom, sondern nach Tom. Und damit nicht nur nach einem Leben wie Lexies, sondern genau nach dem Leben Lexies. Das einzige, was sie, wie Harriet meint, von diesem Ziel trennt, ist – Lexie.

Ich habe „Die Nachbarin“ verschlungen! Und das nicht etwa, weil dieser Thriller eine Spannungsgranate ist, sondern weil er packend und durchaus tiefgründig die Eindrücke, Fantasien und Seelenleben seiner beiden Protagonistinnen auslotet. Der Roman ist abwechselnd aus Lexies und Harriets Sicht jeweils in der Ich-Perspektive geschrieben, wobei jeweils das, was die eine sich zusammenfantasiert und die andere tatsächlich fühlt und erlebt, in einem überaus reizvollen Kontrast steht. Ich habe mir während der Lektüre immer wieder die Frage gestellt, wie viel wir von jemandem tatsächlich wissen können, von dem wir nur den äußeren Schein kennen, wie viele Abgründe sich hinter einer scheinbar perfekten Fassade verbergen. Denn sich rasch zeigt, ist die wunderschöne, erfolgreiche Harriet alles andere als seelisch stabil, ihre Vergangenheit obskur. Die fröhliche und liebenswerte Lexie wiederum entwickelt sich zu einem zunehmend gereizten Nervenbündel, dessen Gedanken nur noch um die schwierige Familienplanung kreist. Neid einerseits und Bewunderung andererseits: das ist, was die beiden jungen Frauen – deren Figuren angenehm nuanciert gezeichnet sind – bewegt. Nur dass beide höchst unterschiedliche Wege der „Bewältigung“ einschlagen. Wie Harriet unbemerkt immer tiefer in Lexies Leben eindringt, wie Lexie zunehmend an ihrer Wahrnehmung zweifelt, fand ich ausgesprochen fesselnd.

Wer einen spannungsgeladenen Thriller erwartet, in dem ein dramatischer Höhepunkt den nächsten jagt, wird von diesem Roman vermutlich eher enttäuscht sein. Wer indes eine Story zu schätzen weiß, in der sich, je nach Perspektive, Schein und Sein, Fantasie und Realität abwechseln, ergänzen, widersprechen, wird „Die Nachbarin“ mit Sicherheit ebenso gerne lesen wie ich.

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Veröffentlicht am 26.06.2020

spannend, wendungsreich, unterhaltsam

Schwestern im Tod
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Toulouse, 1993. Es ist ein grausiger Anblick, der sich dem jungen Kommissar Martin Servaz bietet: Zwei junge Studentinnen, die Schwestern Ambre und Alice, sind ermordet und an einen Baum gefesselt worden. ...

Toulouse, 1993. Es ist ein grausiger Anblick, der sich dem jungen Kommissar Martin Servaz bietet: Zwei junge Studentinnen, die Schwestern Ambre und Alice, sind ermordet und an einen Baum gefesselt worden. Was am meisten verstört: Beide tragen Kommunionkleider – und entsprechen damit dem Todesszenario in einem Buch des Bestsellerautors Erik Berg. Der verhält sich zwar äußerst verdächtig, doch scheint schnell ein anderer Täter ausgemacht.
25 Jahre später wird Servaz erneut an einen grausigen Tatort gerufen. Eine Frau liegt inmitten höchst giftiger Schlangen. Auch sie trägt ein Kommunionkleid – und ist Erik Bergs Ehefrau. Derselbe Täter kann es nicht sein, er nahm sich damals noch vor seiner Festnahme das Leben. Ein Nachahmungstäter? Oder war der Mann, der den Mord vor seinem Suizid gestand, gar nicht der wahre Mörder? Servaz ist überzeugt: Der damalige Mord wurde nicht richtig aufgeklärt. Und er hängt mit diesem zusammen.

„Schwestern im Tod“ ist der nunmehr fünfte Band der Pyrenäen-Krimi-Reihe um den feinsinnigen Ermittler Martin Servaz. Der Fall wartet mit so mancher überraschender Wendung auf und ist spannend erzählt. Für Fans der Reihe dürfte überdies der Rückblick auf Servaz‘ Vergangenheit und seine Anfänge bei der Polizei interessant sein sowie die Fortführung der Rahmenhandlung seines, nennen wir es: ereignisreichen Privatlebens. „Schwestern im Tod“ lässt sich indes problemlos auch als „Einzelkrimi“, d. h. ohne die anderen Bände der Reihe zu kennen, lesen – allerdings spoilert er eine überraschende Wendung aus dem Vorgängerroman („Nacht“).

Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung – sowohl für Fans als auch für Neulinge der Reihe.

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