Einmal mehr wider das Vergessen
Hin und wieder begegnet auch dem anspruchsvollsten Leser ein Buch, das ihn von der ersten Seite an gefangennimmt, das ihn mitreißt und gleichsam Teil der Geschichte werden lässt, zutiefst berührt, und ...
Hin und wieder begegnet auch dem anspruchsvollsten Leser ein Buch, das ihn von der ersten Seite an gefangennimmt, das ihn mitreißt und gleichsam Teil der Geschichte werden lässt, zutiefst berührt, und ihn noch lange, nachdem er den Roman zugeklappt hat, begleiten wird. Die hier zu besprechende Geschichte ist ein solcher Roman, ein Glücksfall, regt er doch ebenso zum Nachdenken an wie er Emotionen weckt, die sich zwischen Empörung, Entsetzen und Fassungslosigkeit, Traurigkeit, Mitgefühl und Mittleiden und immer wieder auch Hoffnung und zu guter letzt reiner Freude bewegen, bedient also ein ganzes Spektrum von Gefühlen.
Denn sie kann den Leser nicht kalt und unbeteiligt lassen, diese Geschichte, die die Autorin auf zwei Zeitebenen spielen lässt, die ein hervorragend gemeisterter Balanceakt zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist, deren Verknüpfung ihr, wie nicht anders zu erwarten, kennt man ihre Bücher denn, auf das Befriedigendste gelungen ist. Sie erzählt von einer großen Liebe, einer, die nicht sein darf, nicht damals und nicht heute, und an der die Protagonistin Nellie trotz aller Zerrissenheit und geplagt von Selbstzweifeln unbeirrbar festhält. Er erzählt von außerordentlicher Zivilcourage, von Mut und Entbehrungen in einer Zeit, die keiner von uns je ( wieder ) erleben möchte, schildert sehr authentisch die Schrecken eines so unsinnigen wie verbrecherischen Krieges, der, wie alle Kriege dieser Welt, Millionen unschuldiger Menschenleben kostete und weder aus den Geschichtsbüchern noch aus dem Gedächtnis der Nachgeborenen wie aus dem kollektiven Gedächtnis der Nation, von der dieser Krieg ausging, und dem der gesamten Menschheit ausgelöscht werden darf.
Wider das Vergessen schreibt Teresa Simon an, unermüdlich und unerschrocken, hier wie auch in ihren bereits zuvor veröffentlichen Romanen, mahnend, erinnernd, warnend, in Angst angesichts der gefährlichen Strömungen innerhalb der heutigen Gesellschaft, die berechtigten Anlass zur Sorge geben, erinnern sie doch fatal an die Geschehnisse, die vor beinahe neunzig Jahren ihren Lauf nahmen und ungebremst in einem Weltensturm endeten. Und sie tut dies keineswegs mit erhobenem Zeigefinger, gibt uns vielmehr Einblick in das Schicksal einer Handvoll fiktiver Personen, lässt die zunehmend bedrückende und beängstigende Atmosphäre der fünf letzten Kriegsjahre durch ihre intensive Art des Erzählens für den aufmerksamen und einfühlsamen Leser unmittelbar erfahrbar werden.
Doch der Roman hat noch viel mehr zu bieten, beschäftigt er sich doch keineswegs ausschließlich mit einer düsteren Zeit, die für Nellie auf ihrer Zeitebene kein glückliches Ende bereithalten konnte. Denn auf der zweiten Zeitebene, die im Hier und Heute angesiedelt ist, kommt die so dringend notwendige Leichtigkeit zum Tragen, das Gegengewicht! Licht und Schatten – beides ist untrennbar miteinander verbunden. Im Köln der Jetztzeit begegnet der Leser nämlich Liv, einer jungen Holländerin, die eine testamentarische Verfügung in die Heimatstadt ihrer Großmutter Nellie verschlagen hat und die sich hier ihren Traum erfüllt – die Eröffnung einer exklusiven kleinen Parfümerie. Liv ist ganz Kind ihrer Zeit, von dem früheren Leben und Schicksal ihrer Großmutter, das sich in ebendiesem Köln erfüllte, ahnt sie nichts, es ist ihr zunächst auch nicht sonderlich wichtig. Sie lebt ganz in der Gegenwart, Wurzeln besaßen nie eine Wichtigkeit für sie – darin so vielen jungen Menschen heutzutage nicht unähnlich. Durch eine Reihe von Begegnungen und fürs erste unerklärlichen Begebenheiten jedoch wird Liv aufmerksam, erkennt, dass kein blinder Zufall sie in die Stadt geführt hat, in der ihr Vater geboren wurde, wird immer neugieriger auf ihre Wurzeln und ganz allmählich erkennt sie deren Bedeutung nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle. Wurzeln prägen uns, ob wir das nun wollen oder nicht, sie geben Sicherheit und Halt, sind Heimat und weisen uns unsren Platz im Leben zu. Wie kann Zukunft gelingen, wenn man sich seiner Wurzeln nicht bewusst ist?
Auch dies klingt immer wieder aus Teresa Simons Roman nicht nur heraus, sondern ist gewissermaßen die Melodie, die ihn durchzieht. Wurzeln verbinden die zweite Erzählebene mit der ersten, so wie es die Düfte tun, die hier wie dort über der Handlung schweben. Beide Frauen, die mutige und so stark empfindende Nellie der Kriegsjahre und ihre Enkelin, die eher unbeschwerte, aber, je näher sie dem Geheimnis der Großmutter kommt, je stärker sie erkennt, wer sie ist, an Tiefe und Format zusehends gewinnende Liv im zweiten Jahrtausend, sind mit einer besonders feinen Nase gesegnet, haben einen ebenso feinen Sinn für Düfte, deren Zusammensetzungen, Eigenschaften und Kreationen, zugeschnitten auf ihre jeweilige Trägerin...
Und so gibt es immer wieder Parallelen, Berührungspunkte zwischen den beiden Handlungsebenen – bis schließlich eine feste Brücke erbaut ist zwischen Damals und Heute, die verbindet und versöhnt, weil sie verstehen und Dinge, die damals unverzeihbar schienen, ein einem neuen Licht sehen lässt.
Summa summarum: Teresa Simons „Lilienbraut“, dessen Titel sich im Übrigen während des Lesens ganz von alleine erklärt, ist eine unbedingt lohnenswerte Lektüre! Nicht nur erzählt sie eine Geschichte, die berührt, die geradezu unter die Haut geht, erschafft dabei außer den beiden Protagonistinnen Nellie und Liv noch eine ganze Reihe weiterer unvergesslicher Charaktere in den schillerndsten Facetten, sondern ist darüber hinaus auch noch richtig gut, ich möchte fast sagen makellos, geschrieben. Auch als kritische Leserin kann ich kein Fehl daran finden, nichts auch, was der Logik oder Spannung entbehren würde. Zudem befriedigt mich die Art und Weise der Autorin zutiefst, über den weiteren Lebensweg der beiden Handlungsträgerinnen gerade so viel anzudeuten, dass jeder Leser ihn für sich weiterdenken kann – folgerichtig, wenn er denn auch auf die kleinsten Nuancen der Geschichte geachtet hat - ,ohne sich in wilde Spekulationen ergehen zu müssen. Auch hier hat die Autorin genau das rechte Maß gefunden!