Fesselnde Dystopie
Wie kontrolliert man das Bevölkerungswachstum in einer scheinbar vollkommenen Welt mit endlichen Ressourcen, wenn niemand mehr sterben muss, weil es keine Krankheiten mehr gibt, jeder sich nach Belieben ...
Wie kontrolliert man das Bevölkerungswachstum in einer scheinbar vollkommenen Welt mit endlichen Ressourcen, wenn niemand mehr sterben muss, weil es keine Krankheiten mehr gibt, jeder sich nach Belieben verjüngen kann und der Tod in der Regel umkehrbar ist?
Diese Frage ist der Ausgangspunkt von „Scythe”. Die Antwort, die der Roman gibt, ist eine elitäre, letztlich abseits der Gesellschaft lebende Kaste von sanktionierten Mördern, den sogenannten Scythes (also Sensen), welche die Aufgabe haben, jedes Jahr eine bestimmte Anzahl Menschen permanent zu töten, euphemistisch Nachlese genannt, wobei jedes Mitglied selbst darüber entscheiden kann, wen und wie er umbringt, solange es ohne Vorurteil und unter höchsten moralischen Ansprüchen geschieht.
Das Buch verfolgt den Weg von Citra Terranova und Rowen Damish, zwei Teenagern, die vom ehrenwerten Scythe Farraday als Lehrlinge ausgewählt werden. Im Verlauf der Geschichte wird klar, dass nicht alle Scythes gegen die Versuchungen gefeit sind, die ihre einzigartige Machtposition ausübt, und die beiden Hauptpersonen geraten zwischen die gegensätzlichen Lager aus den Bewahrern der Tradition und denen, die nach einer neuen Ordnung streben. Repräsentiert werden diese Positionen durch Scythe Farraday, einem bescheidenen, nachdenklichen Mann mit höchsten moralischen und philosphischen Standards, sowie auf der Gegenseite Scythe Goddard, einem eitlen und blutdürstigen Killer, der das Töten genießt und für Massennachlesen bekannt ist.
Der Roman ist spannend geschrieben, die Grundidee faszinierend und die beschriebene Welt vielschichtig. Das Konzept potientieller Unsterblichkeit, ein Traum vieler Menschen, wird mit Licht und Schatten geschildert. Wie geht man mit seinem Leben um, wenn jedermanns Wohlergehen von der Gesellschaft, in der man lebt, garantiert wird, alles mehr oder weniger risikofrei ist und man quasi endlos Zeit hat? In der Welt von „Scythe“ bedeutet es unter anderem den weitgehenden Untergang von Religion, denn wer unsterblich ist, braucht keine Götter mehr, die ein Leben nach dem Tod versprechen. Manche suchen den letzten möglichen Nervenkitzel, indem sie sich selbst umbringen, nur um wiederbelebt zu werden.
Der Autor beschreibt aber auch eine – zwar friedliche – Welt der totalen Überwachung durch eine künstliche Intelligenz, die jeden Aspekt wohlwollend, logisch und neutral regelt, nachdem die Menschheit ihr die absolute Kontrolle übertragen hat. Lediglich in die Belange der Scythes mischt sich der sogenannte Thunderhead grundsätzlich nicht ein. Befinden wir uns mit Alexa, Siri & Co. auf dem Weg dorthin?
Ein höchst lesenswerter Roman, auf dessen Fortsetzung man gespannt sein darf.