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Veröffentlicht am 01.08.2020

Es geht wieder aufwärts!

Die Wunderfrauen
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Anfang/Mitte der fünfziger Jahre gehören die dunklen Kriegstage der Vergangenheit an. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, eine Zeit, in der sich die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ankündigt. Oft ...

Anfang/Mitte der fünfziger Jahre gehören die dunklen Kriegstage der Vergangenheit an. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, eine Zeit, in der sich die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ankündigt. Oft nur in kleinen Schritten, aber es ist ein Anfang. Besonders für Frauen, die in den Kriegstagen ihre Courage und ihren Einfallsreichtum bewiesen haben. Nachfolgenden Generationen werden diese Jahre als die Zeit des „Wirtschaftswunders“ im Gedächtnis bleiben.

Und genau in diesem Zeitraum beginnt der erste Band der Wunderfrauen-Trilogie, in deren Zentrum vier Frauen stellvertretend für unterschiedliche Lebensläufe und Ausgangsvoraussetzungen stehen. Sie haben Visionen, schmieden Pläne, wollen mehr vom Leben als Küche, Kinder, Kirche und setzen deshalb alles daran, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Die Autorin schreibt flüssig und gut zu lesen. Keine Angst, das ist nicht trivial, da immer wieder zeitgeschichtliche Fakten eingeflochten werden, die mit der Handlung verknüpft sind und manchmal für ungläubiges Kopfschütteln sorgen. Aber auch die Gräueltaten der Nationalsozialisten sowie der russischen und amerikanischen Armee werden thematisiert.

Erzählt wird abwechselnd aus den Perspektiven der Protagonistinnen in personifizierten Kapiteln, wobei sich die minimalen Überschneidungen im Rahmen halten. Das sorgt nicht nur für Abwechslung sondern erleichtert auch die Zuordnung und animiert zum Weiterlesen. Auszüge aus fiktiven Notizbüchern (Überlegungen, Anekdoten etc.) runden das Ganze ab.

Eine unterhaltsame Zeitreise, die jede Menge Erinnerungen geweckt hat. Und natürlich bin ich schon sehr gespannt, wie es mit Luise, Helga, Marie und Annabel weitergeht (Bd. 2 erscheint Ende Februar 2021).

Veröffentlicht am 29.07.2020

Morgen ist heute

Paradise City
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Was für ein Buch! „Paradise City“ zeigt uns ein Zukunftsszenario, das erschreckend aktuelle Züge hat.

Pandemien haben die Bevölkerung auf die Hälfte schrumpfen lassen, der Klimawandel hat die Umwelt nachhaltig ...

Was für ein Buch! „Paradise City“ zeigt uns ein Zukunftsszenario, das erschreckend aktuelle Züge hat.

Pandemien haben die Bevölkerung auf die Hälfte schrumpfen lassen, der Klimawandel hat die Umwelt nachhaltig verändert haben. Das Meer hat die Küstengebiete geschluckt, ganze Landstriche sind entvölkert und verwildert, da sich das Leben auf einen riesigen Ballungsraum rund um die Megacity Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet konzentriert. Beste Infrastruktur in einer mit Hilfe von Algorithmen auf Funktionalität getrimmten Welt, in der Gesundheit zum höchsten Gut hochstilisiert wird und Schwäche keinen Platz hat. Es sei denn, man degradiert die Kranken zu Forschungsobjekten, wobei es weniger um deren Wohl als vielmehr um Ausmerzung und Perfektionierung geht. Selbstbestimmung war einmal.

Es gibt zwar noch Systemkritiker, „die Parallelen“, die sich dem verweigern und als Selbstversorger unter denkbar schlechten Bedingungen weit ab des Ballungsraums ohne die „Segnungen“ der Zivilisation leben.

Überwachung ist allgegenwärtig, Smartcase und KOS, eine Gesundheitsapp, zählen zur Grundausstattung, Deaktivierung derselben schüren Misstrauen. Die Medien sind gleichgeschaltet. Nichtstaatliche Nachrichtenagenturen gibt es nur noch wenige, sie werden bis zu einem gewissen Grad geduldet, solange sich die kritische Berichterstattung in Grenzen hält. Wenn nicht, ja dann werfen die Journalisten ihr Leben in die Waagschale.

Zoe Beck hat ein Händchen für Themen, die sowohl technologische Errungenschaften und medizinischen Fortschritt als auch die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Veränderungen beschreiben. Und dabei spart sie nicht mit Kritik, hinterfragt und gibt Denkanstöße, denn einige der angesprochenen Punkte gehören in manchen Ländern und teilweise auch bei uns bereits seit geraumer Zeit zum Alltag, wie beispielsweise die Analyse des Konsumverhaltens durch Algorithmen, das Erstellen von Bewegungsprofilen oder die Überwachung mittels Gesichtserkennung. Tja, und eine App für die Gesundheit haben wir ja auch seit einigen Wochen.

Veröffentlicht am 25.07.2020

Entlarvende Überschreitung der Genregrenzen

American Spy
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In ihrem Erstling „American Spy“ schert sich die amerikanische Autorin Lauren Wiklinson nicht um Genre-Grenzen, im Gegenteil. Sie überschreitet sie souverän und bestätigt somit auch das Obama-Zitat auf ...

In ihrem Erstling „American Spy“ schert sich die amerikanische Autorin Lauren Wiklinson nicht um Genre-Grenzen, im Gegenteil. Sie überschreitet sie souverän und bestätigt somit auch das Obama-Zitat auf dem Cover. „Weit mehr als ein Spionagethriller“ – in der Tat.

Das Buch startet mit einem Paukenschlag: Es ist Nacht. Marie Mitchell, ehemalige FBI-Agentin, alarmiert von einem ungewöhnlichen Geräusch in ihrem Haus, schnappt sich ihre alte Dienstwaffe. Ein bewaffneter Mann betritt ihr Schlafzimmer, es kommt zu einem Kampf, und sie erschießt den Eindringling. Sie vermutet einen Zusammenhang mit ihrer früheren Tätigkeit und beschließt, ihre beiden Söhne aus der Schusslinie zu nehmen und bringt sie zu deren Sicherheit zu ihrer Mutter nach Martinique.

Natürlich bedarf diese Aktion einer Erklärung, und so schreibt sie einen langen Brief an die Kinder, in welchem sie auf ihre Vergangenheit zurück blickt. Wie wurde aus dem schwarzen Mädchen aus Queens eine Agentin, die in Amerikas Kaltem Krieg an den verschiedensten Fronten eingesetzt wurde und jetzt ausgeschaltet werden soll?

Maries Erinnerungen sind nicht chronologisch gehalten, springen zwischen Zeit, Personen und Orten, und liefern ganz nebenbei einen entlarvenden Blick auf die Rolle der Frauen in männerdominierten Organisationen, auf das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß, auf Diskriminierungen, auf gesellschaftliche Missstände in God’s own country, auf Amerikas eigennützige Einmischungen in die Weltpolitik. Das klingt nach Unmengen Stoff - ist es auch - aber die Autorin verliert nie den roten Faden, fordert deshalb aber natürlich die Konzentration des Lesers.

Ein spannender, entlarvender Roman, der auf den unterschiedlichsten Ebenen funktioniert und die Grenzen der Spionagethriller, die wir von den Meistern des Genres kennen, aufbricht, weshalb er von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung bekommt.

Veröffentlicht am 24.07.2020

Ein starkes Stück niederländischer Geschichte

Staub zu Staub
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Felix Weber, Pseudonym von Gauke Andriesse, hierzulande eher unbekannt. Nicht so in Holland, wurde er dort doch bereits mit zahlreichen Preisen für seine Kriminalromane ausgezeichnet. So auch für „Staub ...

Felix Weber, Pseudonym von Gauke Andriesse, hierzulande eher unbekannt. Nicht so in Holland, wurde er dort doch bereits mit zahlreichen Preisen für seine Kriminalromane ausgezeichnet. So auch für „Staub zu Staub“ (2016, Tot Stof), mit dem Gouden Strop prämiert, dem bedeutendsten Preis der niederländischen Kriminalliteratur.

Worum geht es? Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt Siem Coburg, ein ehemaliger Widerstandskämpfer, zurückgezogen auf seinem Hausboot und trauert um all das, was er verloren hat, bis ihn ein alter Freund um Hilfe bittet. Dessen 17-jähriger Enkel Siebold ist unter dubiosen Umständen zu Tode gekommen, in einem Heim für geistig Behinderte, das von Mönchen geleitet wird. Coburg fühlt sich in der Pflicht und schaut sich, als Journalist getarnt, die Einrichtung an. Schnell stellt er fest, dass SieboldsTod kein Einzelfall ist und gräbt tiefer, auch wenn das beharrliche Schweigen der Mönche und Dörfler seine Nachforschungen torpediert.

Dieses Buch als Kriminalroman zu bezeichnen ist eindeutig zu kurz gesprungen, denn die Handlung rund um den Tod des Enkels tritt komplett in den Hintergrund, dient lediglich als Folie, vor der der Autor historischen Stoff aufarbeitet. Es ist ein Roman über den Krieg und dessen Auswirkungen auf die Menschen. Über den Umgang mit Schuld, die jeder Einzelne auf sich geladen hat. Über Vergeltung. Über Glauben, Sühne und Vergebung. Düster und berührend. Ein starkes, ein lesenswertes Stück niederländischer Geschichte.

Veröffentlicht am 20.07.2020

Sean Duffy hat's noch drauf...

Alter Hund, neue Tricks
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Anfang der Neunziger neigt sich Sean Duffys Karriere, die wir seit 1981 verfolgen, dem Ende zu. Mittlerweile lebt er mit Frau und Kind über dem Wasser in Schottland, und aus einem unkonventionellen DI ...

Anfang der Neunziger neigt sich Sean Duffys Karriere, die wir seit 1981 verfolgen, dem Ende zu. Mittlerweile lebt er mit Frau und Kind über dem Wasser in Schottland, und aus einem unkonventionellen DI ist ein „nutzloser Teilzeitpolizist in Reserve“ geworden, der an sechs Tagen im Monat Schreibtischdienst beim Carrickfergus CID ableistet. Lawson, sein Nachfolger, hat eine beeindruckende Aufklärungsrate, genießt aber aktuell seinen Urlaub auf den Kanaren. Nur gut, dass Duffy vor Ort ist und den aus dem Ruder gelaufenen Autodiebstahl übernehmen kann. Ermittlungen im Duffy-Style, nicht immer gerne gesehen - unterstützt dabei von seinem Kollegen Crabbie, der ebenfalls nur noch Teilzeit arbeitet. Aber die beiden sind ein eingespieltes Team und erkennen recht schnell, dass es hier um mehr als einen gestohlenen Jaguar und einen toten Maler gehen muss, zumal auch die Geheimdienste sich in die Ermittlungen einschalten.

McKinty verknüpft sehr geschickt reale Ereignisse der Troubles mit einer spannenden Story, bei der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint und die den „alten Hund“ mehr als einmal an seine Grenzen bringt. Insbesondere hier zeigt sich die sprachliche Eloquenz des Autors (und des Übersetzers Peter Torberg), dem oft nur ein einziges Wort genügt, um eine Aktion, einen Gefühlszustand etc. zu beschreiben. Ein weiterer Punkt, der nicht unerwähnt bleiben darf ist der trockene Humor, mit dem Duffy häufig seine Gegenüber konfrontiert. Wenn er Klassiker zitiert…herrlich. Und natürlich auch seine Lästereien über die Interpreten der aktuellen Charts…erfrischend. Wer sagt denn, dass ein inhaltlich anspruchsvoller Thriller nicht unterhaltsam sein darf?

Es gibt viele Verweise auf zurückliegende Fälle, Personen tauchen wieder auf, die wir aus früheren Büchern kennen. Nicht zu vergessen, der Bogen zu einer früheren Reihe des Autors, der Michael Forsythe-Trilogie. Diese Rückblicke erfüllen mich schon mit einer leichten Wehmut, denn es ist ja bekannt, dass wir nur noch einen einzigen Band aus dem Duffy-Universum zu erwarten haben. Der englischsprachige Titel steht bereits nach Aussage Adrian McKintys fest und lautet „The Ghost of Saturday Night“ – wie immer einem Songtitel von Tom Waits entlehnt.