Wahnsinn und Hass
Niemand spricht über die schrecklichen Dinge, die während des Gnadenjahres geschehen. Mädchen verschwinden. Mädchen sterben. Niemand kommt zurück, ohne vom Unaussprechlichen gezeichnet zu sein. Und dennoch ...
Niemand spricht über die schrecklichen Dinge, die während des Gnadenjahres geschehen. Mädchen verschwinden. Mädchen sterben. Niemand kommt zurück, ohne vom Unaussprechlichen gezeichnet zu sein. Und dennoch werden sie wie Puppen aufgehübscht, wenn die Frauen in die Wildnis müssen. Tierney scheint in dieser Welt die Einzige zu sein, die erkennt, was eigentlich vor sich geht. Doch auch sie ist zwischen Menschenhändlern und dem Hass der anderen Frauen gefangen. Dieser ständige Überlebenskampf treibt die Handlung voran, bis ich beinahe selbst geglaubt habe, dass nichts und niemand sie mehr retten kann. Was würdest du tun, wenn sich alle um dich herum geblendet von Lügen, Aberglaube und Wahnsinn gegeneinander wenden? Wenn du selbst nicht mehr weißt, wem du vertrauen kannst?
The Grace Year war wie ein Fiebertraum, durch den ich wie in Trance gestolpert bin, ohne zu wissen, was eigentlich vor sich ging.
Die Autorin schreibt lebendig und aufwühlend. Sie bedient sich auch einiger Horror‑Elemente, die für eine alptraumhafte Atmosphäre sorgen. Augen in der Dunkelheit, seltsame Geräusche aus dem Wald, Dinge verschwinden auf unerklärliche Weise und tauchen woanders wieder auf. Die große Erklärung des ganzen Irrsins empfand ich schlussendlich als profan. Genau das, was ich bereits sehr lange vermutet hatte und was mich daher nicht überraschen konnte. Auch hier habe ich mich gefragt, wie es jahrelang verborgen bleiben konnte, wenn es doch für mich so offensichtlich ist. Doch der Weg dorthin ist unglaublich spannend beschrieben.
Mit jeder Seite lernte ich die Frauen mehr zu hassen, die Tierney an den Rand des Todes trieben. Bis zum erlösenden Ende gelang es mir nicht, diese Sympathie wieder aufzubringen. Umso schwieriger fiel es mir daher, die Motivation der Protagonistin zu verstehen. Ihren Helfer‑Komplex, der mir bis zum Schluss unverständlich bleibt. Sie müssen es wissen, sie müssen die Wahrheit erfahren, sagt sie. Dabei haben sie doch noch nie zugehört. Vielleicht bin ich selbst auch zu zynisch, zu pessimistisch und zu nachtragend, um zu verzeihen.
Tatsächlich hat mich am meisten die Unwissenheit und Naivität der anderen weiblichen Charaktere gestört. Wer zusieht, wie andere leiden, ist nicht von Schuld befreit. Bis zum Schluss hat keiner das Bedürfnis, sich wenigstens zu entschuldigen. Lieber schweigen sie. Schweigen, das scheinbar toleriert wird. Außerdem war mir die Antagonistin zu flach und stereotyp. Ähnlich der Schulhof‑Mobberin, die sich selbst größer macht, indem sie andere unterdrückt. Auch Tierney handelt nicht so, wie ich es von ihr erwarten würde. Als Einzige hat sie gelernt, sich im Wald zurechtzufinden und auch zu angeln. Sie kann Seile knüpfen und Fallen bauen. Und dennoch verhungert sie beinahe.
Das Ende ist dann leider unbefriedigend, wenn auch trotzdem passend gewählt. Eines dieser Enden, die ich mögen sollte, weil sie voller versteckter Bedeutungen sind und mich zu Tränen rühren. Doch wegen denen ich aus dem gleichen Grund nach einer Fortsetzung verlange.
Schlussendlich ist Tierney nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Es sind die Männer, die sie immer wieder retten und auf deren Gnade sie angewiesen ist. Ich glaube, das ist es, was mich so sehr betrübt.
Das Buch selbst steckt jedoch trotz der Hoffnungslosigkeit voller kleiner Wunder, voller Liebe und Freundschaft. Was wir nur erreichen könnten, wenn wir anstatt gegeneinander doch einfach zusammen arbeiten würden?