ergreifend und beeindruckend
Wie ich verschwandWas ist das?
Laura ist 13 Jahre jung, als sie entscheidet, dass sie Abnehmen möchte. Doch aus den anfänglich geplanten wenigen Kilos wird eine Krankheit, die die junge Frau nie wieder loslassen wird: ...
Was ist das?
Laura ist 13 Jahre jung, als sie entscheidet, dass sie Abnehmen möchte. Doch aus den anfänglich geplanten wenigen Kilos wird eine Krankheit, die die junge Frau nie wieder loslassen wird: Magersucht. Es beginnt ein Kampf gegen die vermeintlichen Kilos, ein Kampf gegen das alarmierte Umfeld und ein letztendlich auch ein Kampf gegen sich selbst. In „Wie ich verschwand“ beleuchtet Laura in ehrlicher, ungeschönter Weise den Weg in den Teufelskreis Magersucht und den mehr als schweren, steinigen Weg wieder heraus. Die Geschichte einer jungen Frau, die vor den Augen aller langsam verschwand und sich anfangs selbst doch zu sehr hasste, um dagegen zu kämpfen.
Gestaltung / Schreibstil
Das Buch ist ein einfaches Taschenbuch. Die Covergestaltung ist undramatisch und zurückhaltend lediglich mit einem Portrait der Autorin, dem Titel sowie dem Untertitel „Mein Weg aus der Magersucht“ gestaltet. Die Gestaltung gefällt mir sehr gut, da sie weder reißerisch noch überdramatisch gestaltet ist, was dem Buch gegenüber unwürdig wäre. Das Buch umfasst nach einem kurzen Vorwort 8 Kapitel, die einzelne Zeitabschnitte in dem Zeitraum von Erkrankung bis zur Besserung umfassen. Die Kapitel werden mit Zitaten oder Liedtexten eingeleitet. Im Anhang gibt es noch Hinweise für Betroffene und ihre Angehörigen.
Was erwartet einen?
Die Autorin beschreibt in diesem Buch ihre eigene Geschichte. Sie ist hierbei sehr reflektiert und ehrlich. Dies führt dazu, dass auch ihre Gedankenmuster zur Zeiten der Erkrankung im Buch niedergeschrieben sind. Ebenfalls wird die Zeit in der Klinik beschrieben, wobei Verhaltensmuster der Krankheit thematisiert werden. Neben der Anorexie leidet die Autorin auch unter Depressionen und Panikattacken. Daher werden gelegentlich auch suizidale Absichten thematisiert. Leser sollten sich bewusst sein, dass das Buch daher in vielerlei Hinsicht triggernde Inhalte thematisiert.
Mein Fazit
Es ist unglaublich schwer, meine Gedanken und Gefühle zu diesem Buch in Worte zu fassen. Nicht, weil das Buch schlecht ist. Oh nein, das auf gar keinen Fall. Ich habe bereits viele ähnliche Bücher – fiktiv und real – gelesen und empfinde dieses Buch als das bisher beste Werk, was mir untergekommen ist. Warum es mir so schwerfällt, ist, weil dieses Buch beim Lesen extrem viel in mir ausgelöst hat und genau dieses Gefühl in dieser Rezension einzufangen echt eine Herausforderung ist. Aber ich werde es versuchen…
Die Autorin nimmt den Leser bei diesem Buch mit auf die Reise von Anfang bis zum Ende. Das Ende symbolisiert hierbei nicht die Heilung, denn die Autorin macht ziemlich eindeutig klar, dass Heilung in dieser Form nicht eintreten kann und wird, lediglich Besserung. Dennoch ist man von Anfang an dabei. Dabei, wie eine 13-jährige entscheidet, dass sie ein wenig abnehmen möchte, weil sie sich zu dick fühlt. Doch schon schnell begreift man, dass hier mehr verborgen liegt als die bloße Vorstellung, zu dick zu sein. Die Autorin beschreibt ihre ersten Bemühungen und die ersten Erfolg, die ersten Rückschläge und ihre Folgen. Es ist ein Auf und Ab – und es endet in einer schweren Erkrankung, die jahrelang die Autorin und ihr komplettes Umfeld wie eine Bestie in ihren Klauen halten wird. Anfangs noch etwas belächelt und als harmlosen Abnehmversuch angesehen, radikalisieren sich Lauras Gedanken sehr schnell. Die äußeren Umstände, etwa der familiäre Umzug, die Trennung vom besten Freund, die neue Schule und familiäre Probleme tragen hierbei auch eine entscheidende Rolle. Langsam wird die Autorin immer weniger, während die Sogen ihrer Familie immer mehr werden. Es gibt Streitereien und Drohungen. Laura empfindet die familiäre Sorge als übertrieben und sorgt sich davor, dass man sie mästen wolle. Die Mutter hingegen merkt, wie ihr Kind immer strengere Regeln aufstellt: Kein Essen vor 12, für ein Essen braucht sie bald Stunden, eine ellenlange Lebensmittelliste mit Essen, die sie nicht isst. Laura treibt Sport, hungert, fängt an sich selbst zu verletzen. Mehrere Anläufe beim Arzt bringen nichts, denn dieser beruhigt die Mutter immer wieder, dass alles in Ordnung sei. Doch Lauras Mutter gibt so schnell nicht auf, denn sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Gleichzeitig findet Laura immer neue Methoden, ihre Ticks zu verbergen und ihre Schummeleien zu verbessern. Sie verliert mehr und mehr Gewicht, friert andauernd, verletzt sich selbst noch mehr und isst noch weniger. Immer wieder steht das Wort „Zwangseinweisung“ und „Klinikaufenthalt“ im Raum, doch mit Händen und Füßen wehrt sich die Autorin dagegen. Sie ist überzeugt, zu fett für die Klinik zu sein. Sie ist überzeugt, dass alles gar nicht so schlimm sei und alle nur übertreiben. Als die Eltern dann irgendwann doch über die Klinikeinweisung entscheiden, wiegt Laura mit 16 Jahren bei einer Größe von 1,75m nur noch um die 39 Kilo. Sollte man meinen, dass sie jetzt erkennt, wie schlimm es um sie steht, so ist dem nicht so. Die Autorin beschreibt, was sie bei ihren Klinikaufenthalt denkt, wie sie die dort geltenden Regeln zu umgehen versucht und wie jedes Kilo mehr auf der Waage für sie zu mehr Selbsthass und mehr Selbstverletzungen führt. Gefangen in einer Spirale, wo sie ihren Wert über ihr Gewicht zu definieren versucht und ihren Selbsthass mit Gewalt gegen sich selbst auslebt.
Dieses Buch ist eine emotionale Achterbahn der schlimmsten Sorte. Von Anfang an empfand ich die Autorin als sehr sympathisch und fühlte mich in die Geschichte regelrecht reingezogen. Ich verstand, wieso sie auf ihre Familie sauer war. Ich verstand nicht, wie sie nicht erkennen konnte, dass sie dabei war, sich selbst zu zerstören. Ich verstand, wie die Stimme im Kopf ihr diktierte, was sie zu denken und zu essen hat. Ich verstand nicht, wie sie die Sorgen ihrer Mutter und ihres Bruder nicht verstehen konnte. Und genau damit hat die Autorin etwas geschafft, was diese Krankheit ausmacht: Auf den ersten Blick wirkt Magersucht so einfach. Man fühlt sich zu dick, man hungert, man will dünn sein. Aber es liegt so viel mehr dahinter, was sich teilweise nicht erklären lässt. Doch durch die Augen einer Betroffenen zu sehen, eröffnet zumindest eine ganz andere Perspektive. Ich habe viele Bücher dieser Art gelesen und bei den fiktiven merkte man, dass eben diese Erkenntnisse fehlen. Bei den realen war es aber oft so, dass sie sich entweder wie eine absolute Verteufelung lesen, bei der die Autorin mit jahrelanger Distanz zur Krankheit ihre eigenen Handlungen und Gedanken abtun, oder ihr Handeln fast schon glorifizieren. Bei diesem Buch ist beides nicht der Fall. Die Autorin wirkt auf mich sehr reflektiert, aber sie ist nicht hier, um etwas zu beschönigen. Sie erzählt offen, was sie damals gedacht hat, und erklärt, dass ihr natürlich mittlerweile klar ist, dass diese Gedanken falsch waren. Trotzdem beschönigt sie sie nicht oder redet ihre eigene jugendliche Gedankenwelt klein. Sie akzeptiert, was sie damals dachte und tat, aber reflektiert es zugleich. Und das fand ich wahnsinnig interessant, einfach weil es wirklich starke Einblicke in die Gedanken und Gefühle gibt.
Für Außenstehende ist es schwer zu begreifen, was in dem Kopf einer Person vorgeht, die objektiv nur noch Haut und Knochen ist, von sich selbst aber denkt, unglaublich dick zu sein. Doch Laura versucht hierein Einblicke zu geben, auch wenn sie weiß, dass man es nicht erklären kann. Ich empfinde es als sehr mutig, so offen zu den Zwangsgedanken und auch den suizidalen Gedanken zu stehen. Es fühlt sich an, als würde die Autorin hierdurch eine Art Tabu brechen. Sie spricht selbst im Buch davon, dass es ihr wichtig ist, mehr Aufmerksamkeit für psychische Erkrankungen (damit ist nicht nur die Depression, sondern eben auch die Anorexie gemeint) und vor allem mehr Sensibilität hierfür zu generieren. Die Gesellschaft erklärt Magersucht zu oft zu einer Modeerscheinung, die aufs Äußere abzielt. Doch die äußerliche Gewichtsabnahme ist oftmals nur ein Symptome, nicht aber der Auslöser. Es geht um Hilferufe, Selbsthass, Verzweiflung und Unsicherheit. So neigen Ärzte dazu, bei nicht deutlich untergewichtigen Patienten keine Magersucht anzunehmen, obwohl sie vielleicht hochgradig gefährdende Gedankenmuster haben. In dieser Hinsicht ist das Buch eine wunderbare Hilfe, denn ich finde, dass jeder es lesen kann. Es ist egal, ob man sich für das Thema Magersucht interessiert, vielleicht selbst betroffen ist oder jemanden im Umfeld hat. Jeder kann es lesen und kann hieraus Erkenntnisse mitnehmen, die ihm helfen könnten, im eigenen Umfeld auf solche Muster zu achten und zu verstehen, dass es nicht einfach ein „ich nehme jetzt ab“ ist.
Das Buch zeigt in beeindruckender und bedrückender Weise auf, wie leicht es ist, in die Magersucht zu rutschen, aber wie unfassbar schwer, wieder herauszukommen. Und auch hier liegt eine Stärke des Buches. Oftmals wird in ähnlichen Büchern die „Heilung“ sehr schnell abgehandelt und es so dargestellt, als sei es so einfach. Die Autorin zeigt, dass dem nicht so ist. Ich bin dankbar für die interessanten Einblicke in den Klinikalltag, für die ehrlichen Beschreibungen darüber, wie hier die Regeln versucht wurden zu umgehen. Und für die Einblicke darein, was die Schwestern und Ärzte in dieser Klinik jeden Tag leisten und wie sie ihre Patienten trotz aller Widerstände nicht aufgeben und ihnen Mut machen. Ich konnte die positive Energie regelrecht spüren. Ich bin dankbar dafür, wie die Autorin den Leser auf die Reise des Auf und Abs mitnimmt, die nach der Entlassung auf sie warteten. Es gibt keine Wunderheilung, das betont Laura immer wieder. Und sie erklärt sehr anschaulich, wieso. Es ist jeden Tag ein Kampf und es wird gute und schlechte Tage geben. Ebenfalls stark fand ich die Einblicke in den Familienalltag. Bei einer Anorexie leidet nicht nur der Erkrankte, sondern auch sehr stark das Umfeld. Lügen, Streitigkeiten, Verzweiflung, Angst, Hilflosigkeit – all das wird in diesem Buch beschrieben. Wie die Mutter verzweifelt versucht, zu verhindern, dass ihre Tochter vor ihren Augen stirbt. Wie der Bruder versucht, seine Schwester beim Kampf zu unterstützen. Und wie sie alle am Ende ihrer Kräfte sind, weil nichts zu helfen scheint. Es sind diese Einblicke, die das Buch so wahnsinnig unter die Haut gehen lassen.
Es ist einfach unglaublich beeindruckend, wie der menschliche Körper funktioniert und wie das Gehirn das Handeln manipulieren kann. Es sind schonungslose, gnadenlose Einblicke, die manchmal auch definitiv wehtun. Generell schwankte beim Lesen meine Empfindung oft zwischen Mitleid, Wut, Verzweiflung, Hoffnung und Fassungslosigkeit. Es ist ein Buch, bei dem man mitleiden wird und zugleich permanent vor der Frage steht, wie es sein kann, dass der Geist den Körper in dieser Form bekämpft. Die Antwort hierauf wird das Buch nicht geben, denn das ist nicht möglich. Aber das Buch kann in faszinierender Weise zumindest dazu beitragen, dass man mehr Verständnis für die Krankheit und die Kämpfe der Betroffenen gewinnen kann. Es ist ein Buch, was mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.
[Diese Rezension basiert auf einem Rezensionsexemplar, was mir freundlicherweise von dem Verlag zur Verfügung gestellt wurde. Meine Meinung wurde hierdurch nicht beeinflusst.]