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Veröffentlicht am 24.10.2020

Anspruchsvolle Sündenfall-Variation

Westwind
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Samantha Harveys Roman Westwind ist ein Roman, der nicht ganz einfach zu rezensieren ist, da man mit jedem Satz Gefahr läuft, etwas preis zu geben, was lieber ungesagt bleiben sollte. Hierin ähnelt man ...

Samantha Harveys Roman Westwind ist ein Roman, der nicht ganz einfach zu rezensieren ist, da man mit jedem Satz Gefahr läuft, etwas preis zu geben, was lieber ungesagt bleiben sollte. Hierin ähnelt man als Rezensent auf unheimliche Art der Erzählinstanz des Romans: John Reve, Pater, Beichtvater und geistliches Oberhaupt von Oakham, der sich nach dem Verschwinden des reichen und beliebten, aber auch reformgeistigen, Bürgers Thomas Newman (die Bedeutung des Nachnamens kommt nicht von ungefähr – dies gilt auch für den Namen des Großgrundbesitzers Townshend) der Herausforderung stellen muss, das Verschwinden aufzuklären und seine Schäfchen zu beschützen.

Das herausragende und außergewöhnlich gut umgesetzte Merkmal dieses Romans ist seine Erzählstruktur. John Reve, der sich allmählich als unzuverlässiger Erzähler entpuppt, berichtet chronologisch rückwärts von den Umständen um Newmans Verschwinden. Er beginnt also an Tag 4 und endet mit dem Tag, an dem Newman das letzte Mal gesehen wurde . Die Art, wie es Harvey gelingt, den Leser trotz dieser anspruchsvollen Erzähltechnik nicht vollends zu verwirren, graduell immer mehr und vor allem Tag für Tag sich ergänzende Informationen zu enthüllen und im Grunde schon auf Seite 111 von 350 die passende Endnote des Romans zu setzen (keine Sorge, man erfährt hier dennoch nichts, was die Auflösung vorwegnähme) ist bravourös. Ebenso exzellent gelingt es ihr, John Reves Perspektive zu nutzen. Er ist der Dreh- und Angelpunkt unserer eigenen Wahrnehmung – wir erleben und sehen die Geschehnisse und alle weiteren Figuren nur durch ihn, gefärbt durch sein Urteil und seine Absichten, seine eigene Position gegenüber seinem Selbst.

Erstklassig eingefangen ist auch die noch mittelalterlich geprägte, düstere und provinzielle Atmosphäre eines Dorfes am Ende des 15. Jahrhunderts mit seiner tiefen Gottesfurcht, Frömmigkeit und dem allgegenwärtigen Aberglauben und alten Bräuchen. Harvey macht mit leichter Hand sehr deutlich, wie beschwerlich, karg und begrenzt das Leben der Menschen war. Es gelingt ihr so ausgezeichnet, einen geeigneten Kontext für die wesentlichen Probleme und Zweifel ihres Romans zu schaffen, der sich mit den Grundfragen von Moral und Religiosität, menschlicher Einmischung und Bedürfnissen befasst und so bei aller zeitlichen Distanz durchaus auch deutliche Bezüge zur heutigen Gesellschaft und Kirche ermöglicht.

Trotz all dieser positiven Aspekte hat mich der Roman dennoch nicht vollends begeistert. Er ist zwar ein wunderbares, anspruchsvolles und viele Interpretationsmöglichkeiten anbietendes Schmuckstück von Literatur, aber ich konnte keine Nähe zu John Reve aufbauen und war an der Handlung meist nur mäßig interessiert , was mit den manchmal recht langen und langatmigen Ausführungen zur Religion zusammenhing. Wer darüber hinwegsehen kann, wird mit einem innovativen Erzählaufbau und sehr viel Stoff zum Nachdenken belohnt.

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Veröffentlicht am 25.09.2020

Damals, 1985...

Die Optimisten
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In Die Optimisten verarbeitet Rebecca Makkai auf mitreißende, packende und emotional tief berührende Weise und auf zwei Zeitebenen (Chicago 1985 bis frühe 90er und Paris 2015) Ereignisse rund um die erste ...

In Die Optimisten verarbeitet Rebecca Makkai auf mitreißende, packende und emotional tief berührende Weise und auf zwei Zeitebenen (Chicago 1985 bis frühe 90er und Paris 2015) Ereignisse rund um die erste Aids-Welle.

Ich habe sehr lang für diesen Roman gebraucht, was weder meinem üblicherweise rasanten Lesetempo geschuldet ist, noch der Tatsache, dass dieses Buch mich nicht angesprochen hätte. Im Gegenteil: ich konnte Die Optimisten nicht schnell lesen, weil es sich hier um einen wirklich ganz tollen, gut gemachten Roman handelt, der den Leser allerdings auch oftmals so stark erschüttert und angreift, dass man die Lektüre unterbrechen muss.

Die Autorin versteht es ganz hervorragend, die Unsicherheit, das Unwissen, die Angst und das mit einer Aids-Diagnose verbundene Bewusstsein des herannahenden Todes zu transportieren, ohne dabei zu unnötigen Schaueffekten oder übertriebener Dramatik zu greifen. Die Optimisten ist vielmehr ein sehr ruhiger Roman, der zu fesseln versteht, indem er die Furcht und Verzweiflung der ersten Aids-Jahre anhand des äußerst sympathisch gezeichneten, intellektuellen und mitfühlenden Yale personalisiert, den der Leser auf seinem Weg begleitet. Dabei geht es mitnichten nur um die Krankheit, sondern auch um Liebe, Freundschaft, Gemeinschaft, Familie und vor allem Kunst und die Bedeutung von Erinnerung und Vergangenheit. Makkai lässt sich viel Zeit, ein Bild der Zeit heraufzubeschwören, Freundeskreise auszuloten, aber auch die Realität der homosexuellen Community und den noch ungewohnten Alltag auf den Aids-Stationen darzustellen. Durch das gemäßigte Erzähltempo wird auch der Leser Teil dieser Welt und „freundet“ sich sozusagen mit Yale an, leidet und bangt mit ihm. Der Chicago-Teil weist trotz seines Umfangs nicht allzu viele Längen auf und ist in seiner Darstellung der Hilflosigkeit angesichts des Virus regelrecht – in einem positiven Sinne - schmerzhaft. Ebenso beeindruckend ist die Einsamkeit, die Isoliertheit der als Outsider betrachteten gay community, die hier anhand von Yale fast greifbar gemacht wird.
Der Paris-Teil hat mich nicht ganz so begeistert, was sicherlich daran liegt, das Fiona, eine Freundin von Yale, als Figur für den Leser schwieriger zu begreifen ist. Dennoch hat dieser Teil für den Romanaufbau seine wesentliche Funktion – auch wenn er sicherlich etwas kürzer hätte sein können - und verfügt durch Fionas Suche nach ihrer Tochter Claire über einen eigenen Spannungsbogen.

Die Optimisten ist ein besonderer und gelungener Roman, der mich wegen seiner Geschichte, seines großartig ausgestalteten Protagonisten und seines Erzählstil zutiefst bewegt hat.

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Veröffentlicht am 27.08.2020

Ganoven, Magie und Rätsel

Die Jagd nach dem magischen Detektivkoffer, Band 1: Die Jagd beginnt!
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"Die Jagd beginnt" mit diesem gelungenen Band. Ein Zwillingspärchen bekommt von seiner umtriebigen Tante Gundula einen geheimnisvollen Koffer mit magischem Inhalt geschenkt, auf den es auch die ausgebufften ...


"Die Jagd beginnt" mit diesem gelungenen Band. Ein Zwillingspärchen bekommt von seiner umtriebigen Tante Gundula einen geheimnisvollen Koffer mit magischem Inhalt geschenkt, auf den es auch die ausgebufften Ganoven Doris und Theodor abgesehen haben.

Das Kinderbuch schildert flüssig und kindgerecht den Wettlauf um den Koffer. Die Geschichte ist sehr unterhaltsam und abwechslungsreich und die sprachliche Umsetzung glücklicherweise nicht zu simpel. Die Spannung ist altersentsprechend angepasst - die Ganoven sind nicht wirklich furchterregend, aber hartnäckig und durchtrieben genug, um für eine aufregende, aber nicht angsterzeugende, Handlung zu sorgen. Sehr schön sind die in den Fließtext eingefügte Briefe von Tante Gundula, da sie für ein sehr abwechslungsreiches Leseerlebnis sorgen und dazu noch mit ihren etwas schwerfälligen Reimen für Schmunzler sorgen. Richtig gut kommen auch die eingefügten Rätselaufgaben an. Sie sind zumindest teilweise gar nicht mal so einfach zu lösen und sorgen für eine sehr wertvolle, genauere Auseinandersetzung mit dem Text und vor allem auch mit den sehr stimmig die Handlung ergänzenden Bildern. Die magischen Gegenstände, vor allem das Fernglas (auf dessen großen Einsatz wir noch warten), beflügeln die Fantasie. Ein wirklich gelungenes Kinderbuch, das viel Lesespaß bietet, aber vielleicht insgesamt etwas kurz geraten ist.

Für meinen Sohn (8) war das Buch leider viel zu schnell zu Ende und eins der Rätsel war auch viel zu leicht. Dennoch hat das Buch ihn unglaublich gut unterhalten und interessiert. Es ist meiner Meinung nach jedoch eher - auch wegen der recht großen Schrift - etwas für Kinder, die gerade aus der Erstleser-Phase heraus sind, für Drittklässler ist es (zumindest in unserem Fall) zu wenig umfangreich und fordernd, für Erstleser, die es allein lesen wollen, könnte es etwas zu schwierig sein.

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Veröffentlicht am 17.08.2020

Eigentlich ist alles Kunst

Ein Mann der Kunst
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Ich habe diesen beschwingten Roman außerordentlich genossen, vor allem weil er mir sehr kurzweilige und humorvolle Einblicke in die Kunstwelt gewährt hat. Der Autor hat mit seiner Erzählerfigur Constantin ...

Ich habe diesen beschwingten Roman außerordentlich genossen, vor allem weil er mir sehr kurzweilige und humorvolle Einblicke in die Kunstwelt gewährt hat. Der Autor hat mit seiner Erzählerfigur Constantin Marx einen ausgezeichneten Beobachter geschaffen, der den Spagat zwischen sympathischer Zurückhaltung und nuanciertem Urteil mühelos schafft. Seine Beschreibungen der Förderverein-Mitglieder sind entlarvend, aber gleichzeitig voller Zuneigung für diese selbsternannte Akademiker-Elite. Ebenso gelungen ist die schrittweise Annäherung an den eigenbrötlerischen Künstler, der sich schließlich auf erfrischende Weise als Mensch entpuppt. Der Roman ist einfach richtig gut gemachte, niveauvolle und geschickte Unterhaltung, die bei mir tatsächlich auch noch eine gedankliche Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen der Kunst ausgelöst hat. Lesenswert!

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Veröffentlicht am 04.08.2020

Die Höhen und Tiefen der Musik

Die Dirigentin
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Willy kann ihre Liebe zur Musik im New York der Zwanziger Jahre nicht ausleben: Frauen, vor allem aus ihrer Schicht, sind in der Branche nicht willkommen. Dennoch setzt Willy alles daran, ihren Traum zu ...

Willy kann ihre Liebe zur Musik im New York der Zwanziger Jahre nicht ausleben: Frauen, vor allem aus ihrer Schicht, sind in der Branche nicht willkommen. Dennoch setzt Willy alles daran, ihren Traum zu verwirklichen. Auf ihrem hindernisreichen Weg, eine der ersten Dirigentinnen in der Musikgeschichte zu werden, stolpert Willy über ein Familiengeheimnis, das sie zu Antonia werden lässt, findet Freunde und Feinde, reist durch die Welt und kämpft für und gegen die Liebe.

Willys Geschichte hat mich fasziniert, in Atem gehalten, Musik fühlen lassen und mich auch über weite Strecken begeistert. Der Roman fühlt sich gut in die begrenzte Lebenswelt von Frauen in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein. Willys Weg ist im Kontext dieser Beschränkungen einfach außergewöhnlich und der Stoff, den man typischerweise als Drehbuch für einen Oscar-Film kennt (nicht umsonst ist die Autorin von Haus aus auch Drehbuchschreiberin). Dies ist schön und sehr solide, mitreißend und durchaus inspirierend, aber birgt keine Überraschungen. Ohne zu viel zu verraten: selbst der Handlungsstrang um Robin hat mich nicht erstaunt - genau das hatte ich die ganze Zeit schon vermutet. Über die Vorhersehbarkeit der Geschichte konnte ich grundsätzlich jedoch gut hinwegsehen, da sie an sich sehr reizvoll ist. Problematischer ist die Tatsache, dass der Roman meiner Ansicht nach zeitweise immer mal wieder seinen historischen Kontext in der Figurenzeichnung und Figurenhandlung und auch in der Darstellung des settings aus den Augen verliert, nur um sich dann wieder sehr machtvoll daran zu erinnern. Da hätte ich mir mehr Konstanz gewünscht.

Durch die Perspektivenwechsel zwischen Willy/Antonia, Frank und Robin wird die Handlung sehr lebendig und vielseitig. Der Aufbau des Romans animiert zum beständigen Weiterlesen, das Buch legt man in der Tat nur schwer aus der Hand. Stilistisch war ich mit dem Roman nicht immer einverstanden. Zwar zeichnet er sich durch eine sehr hohe Lesbarkeit und auch einige gelungene Passagen aus, aber es gibt auch Passagen, in denen Dialoge in der Wortwahl einfach zu modern daherkommen - dies mag natürlich auch der Übersetzung geschuldet sein.

Die Figurenzeichnung ist grundsätzlich nicht schlecht, allerdings schwanken alle im Roman auftretenden Charaktere zwischen sehr starker Fortschrittlichkeit und überaus konservativer Rückwärtsgewandtheit. Dazu bin ich immer etwas empfindlich, wenn im historischen Roman zu viel erklärt und gelehrt wird - natürlich möchte ich etwas über die Zeit lernen und wissen, aber dies sollte in die Handlung und die Figurenzeichnung subtil und elegant eingebunden werden. In Die Dirigentin wird der beginnende Feminsimus teilweise zu grob in den Text eingefügt bzw. den Figuren in den Mund gelegt.

Die Dirigentin ist ein historischer Roman, der manchmal seinen Kontext vergisst, sich für Frauen stark macht und page turner-Qualität hat. Er ist ein schöner, unterhaltender Roman für Leser, die sich in Hollywood-Stoffen verlieren können und über ein paar unelegante Anachronismen hinwegsehen können.

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