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Veröffentlicht am 27.12.2020

Weihnachtsbriefe berühmter Frauen und Männer - sehr lesenswert!

Habt alle ein schönes Fest und einen warmen Ofen!
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"Habt alle ein schönes Fest und einen warmen Ofen" - Hrsg. und kommentiert von Petra Müller und Rainer Wieland erschien Propyläen/Gruppe Ullstein Verlag 2018. Dieses wunderschöne Buch stand bereits letztes ...

"Habt alle ein schönes Fest und einen warmen Ofen" - Hrsg. und kommentiert von Petra Müller und Rainer Wieland erschien Propyläen/Gruppe Ullstein Verlag 2018. Dieses wunderschöne Buch stand bereits letztes Jahr auf meinem "Weihnachts-Leseprogramm" und in diesem - etwas anderen Jahr der Pandemie hat es mich an den Weihnachtstagen und in der Adventszeit sehr gut unterhalten.

Die Autoren haben sehr persönliche Weihnachtsbriefe an Menschen, denen die berühmten Schriftsteller, Komponisten, Märchendichter, Bildhauer und Maler nahestanden; seien es Ehefrauen oder Männer, Freunde oder Gönner, in diesem Buch literarisch brillant zusammengestellt, dass es eine Freude ist, sowohl die Briefe selbst als auch die Kommentare der AutorInnen, die ein tieferes Verständnis zu Person und Texten geben, zu lesen.

Besonders berührt haben mich die Weihnachtsbriefe an seine Kinder von J.R.R. Tolkien, der vielen FreundInnen der Fantasie als Autor des "Hobbits" und "Der Herr der Ringe" bekannt ist: Bereits die Überschrift, die dem Brief entnommen ist, zeugt von dessen Humor, Fantasie und Vorstellungskraft: "Die Nordpolspitze ist mitten entzweigebrochen und auf das Dach meines Hauses gefallen", so Tolkien. Auch Helene Hanff's Briefe aus New York, die später veröffentlicht werden sollten, haben mich sehr amüsiert (obgleich die Autorin so spartanisch lebte (1978), dass ihre Kleiderstange unter den Mänteln der vielen Gäste zum Weihnachtsessen in der winzigen Wohnung das Zeitliche segnete, was das Ende der Weihnachtspartys mit Freunden bedeutete...

Auch von Soldatenweihnachten (Franz Marc an seine Frau Maria) ist zu lesen und Heinrich Böll empfand "die militärischen Erheiterungsaktionen" am Christfest als eine Qual - und beschreibt sehr glaubwürdig, weshalb. Wir lesen vom berühmten Märchendichter Hans Christian Andersen, dass er Weihnachten oft im Schloss der Grafen von Moltke verbrachte und stets "auf fliegenden Koffern" lebte, nie sesshaft war. Als der jüngste Sohn des Grafen an Typhus starb, war das Schloss an Weihnachten ein Trauerhaus geworden und Moltke blieb "in den Mauern Kopenhagens": Sicher sehnte er sich nach dem üppigen und unterhaltsamen Fest, was in das Märchen um den kleinen Tannenbaum eingeflossen sein mochte (das ich sehr gerne mag und weshalb ich lieber seit vielen Jahren einen kleinen, künstlichen Baum mein eigen nenne, der immer wieder zum Leuchten gebracht werden kann, statt ihn bar aller Nadeln entsorgen zu müssen....

Als große (frühere) Bewunderin des intellektuellen Paares ihrer Zeit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre habe ich mit großem Interesse deren Korrespondenz, zumindest ausschnittweise, folgen können und hatte einen Einblick in die "offene Beziehung" der beiden, die sich jedoch im Leben und wohl auch im Schreiben ein Anker waren. Der Brief Brigitte Reimanns an ihre Jugendfreundin berührte mich tief und sehr beeindruckt war ich vom nur neunjährigen Wilhelm Busch, der an seine (mit Emotionen geizenden) Eltern einen rührenden Weihnachtsbrief schrieb und sich für seine neuen Hosen bedankte (er wuchs bei seinem Onkel, einem Pfarrer auf, der ihm die Grundlagen des Zeichnens u.v.a. beibrachte). Der (zeitlebens wohl schüchterne) Chopin traf mit seinem Brief an einen Freund ebenfalls mein Herz und mit den schönsten Weihnachtsbrief fand ich im letzten der Briefreihe von Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, mit der er offenere Worte fand als seiner Frau gegenüber und der bis ins hohe Alter trotz seinem schriftstellerischem Fleiß (und Können) mit seiner Familie oftmals in Geldnot war; am Existenzminimum lebte, bis er 70 Jahre alt war... Besonders das im Buch abgedruckte Gedicht von Fontane, das auch eine Art Lebensbilanz ist, erweckt das Gefühl, dass der berühmte Schriftsteller recht eins war mit sich selbst. Gerade an Weihnachten sicher ein eher gutes Gefühl!

Fazit:

Ein wundervoller Band mit den schönsten Weihnachtsbriefen berühmter Persönlichkeiten aus dreihundert Jahren, der nachdenklich stimmt, prächtig unterhält, den Leser die "BriefeschreiberInnen" aus einer großen Nähe entdecken lässt und vom Autorenduo Müller/Wieland in den jeweiligen Kommentaren ein interessantes, abgerundetes Bild der jeweiligen Eindrücke erhält. Ein Buch, das ich absolut weiterempfehlen möchte - ein literarischer Genuss, ganz besonders in der Advents- und Weihnachtszeit. 4,5*

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Veröffentlicht am 02.10.2020

Robinsons Tochter - unverwechselbar: Aus der Feder von Jane Gardam

Robinsons Tochter
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"Robinsons Tochter" von Jane Gardam ist im Verlag HanserBerlin (HC, 2020) erschienen und wurde (wie die Vorgänger der englischen Autorin) von Isabel Bogdan ins Deutsche übersetzt. Im Original (Crusoes ...

"Robinsons Tochter" von Jane Gardam ist im Verlag HanserBerlin (HC, 2020) erschienen und wurde (wie die Vorgänger der englischen Autorin) von Isabel Bogdan ins Deutsche übersetzt. Im Original (Crusoes Daughter) erschien der Roman bereits 1985 und ich freute mich sehr auf diesen Roman, da Jane Gardam zu meinen britischen LieblingsautorInnen zählt.

England, 1904:

Polly Flint, Hauptprotagonistin dieses wundervollen Romans, erzählt uns ihr Leben in der Ich-Form, wodurch nach und nach eine besondere Nähe zu den Gefühlen und Gedanken Pollys geschaffen wird und sie dem Leser mehr und mehr ans Herz wächst....
Als 6jähriges Mädchen wird Polly von ihrem Vater, einem Seemann, zu Aunt Mary und Aunt Frances ins "Gelbe Haus", auch Oversands genannt, von Wales aus ins nördliche England gebracht, wo sie fortan (nach vielen Pflegefamilien, ihre Mutter Emma starb, als Polly ein Jahr alt war) leben sollte. Die Tanten sind die älteren Schwestern ihrer Mutter; die weiteren Bewohner sind Charlotte und Mrs. Woods; erstere das Hausmädchen und Mrs. Woods eine alleinstehende ältere Witwe, die Polly in Französisch und etwas Deutsch unterrichten wird. Aunt Mary ist von strengem Wesen; Frances dagegen sanftmütiger und das Leben der frommen Tanten ist nicht gerade auf Kinder zugeschnitten: So gibt es für Polly in dem großen und geheimnisvollen Haus kaum Abwechslung, auch wenn die Tage (und sogar die Wochenenden, samstags wird z.B. grundsätzlich gebeichtet und Sonntag folgen die Kirchgänge) durchgetaktet sind: Sehr interessiert ist Polly jedoch an den in reicher Zahl vorkommenden Bücher im Gelben Haus und liest alles, was ihr in die Hände fällt; einige englische Klassiker wie Jane Austens Romane z.B. Doch ein Buch hat es ihr ganz besonders angetan: Daniel Defoes "Robinson Crusoe".

Im Laufe der Zeit, die sich stellenweise biografisch lesen, wird dieses Buch die "Rettungsinsel" und das Zentrum geistigen Denkens, mentaler Stärke und Kraft für Polly, denn das Leben hält allerlei für sie bereit: Selbst eher Güte als Liebe und Zuneigungsbekundungen von den Tanten erfahren, verliebt sich Polly als 16jährige erstmals in Paul Treece, einem angehenden Dichter Anfang 20, der in "Thwaite", dem Haus eines alten Freundes der Familie, zu Gast ist: Der ältere, wortkarge, aber sehr sympathische Mr. Thwaite hat sie in sein Haus eingeladen, das so anders ist als das "Gelbe Haus"; laut Lady Celia, der Schwester von Mr. Twaithe, weiß man hier nicht, wem man im Flur so über den Weg laufen könnte... Das Haus ist ein Zufluchtsort und Ort der Regeneration, wie es scheint, für (etwas versponnen anmutende) Dichter, Maler und Schriftsteller (und -innen), um die sich Celia sehr liebevoll kümmert. Mr. Thwaite dagegen bleibt eher im Hintergrund, jedoch strahlt er eine "Sanftheit, Zufriedenheit und einen Frieden aus, verbreitet in jedem Raum eine angenehme Atmosphäre" - und spricht stets eher im "Telegrammstil". Diese interessante und überaus sympathische Figur, die am Ende des Romans eine Schlüsselrolle im Leben Pollys zukommen soll, hat mich sehr fasziniert.

So trifft man Menschen, die Polly kennenlernt: Stanley, den armen Jungen, der jeden Mittwoch ins Gelbe Haus kommt und von Charlotte verköstigt wird; die Zeits - eine jüdische Familie mit deutschen Wurzeln, mit denen Polly - sie ist 16 - eine wichtige Freundschaft pflegt und in dessen Sohn Theo sie sich verliebt; der bereits genannte Paul Treece, der ebenso wie Theo Zeit im 1. Weltkrieg zu Felde ziehen müssen. Wir verfolgen die Entwicklung Pollys zu einer jungen, klugen und verletzlichen Frau, die Liebe, Enttäuschung, Verlust, Depression, aber auch wahre Freundschaft erlebt: Alice, die nach Charlotte ins Gelbe Haus als Hausmädchen arbeitet, zieht die selbst etwas "schiffbrüchig" gewordene nun über 30 Jahre alte Polly wieder an Land: Auch in dieser Situation (Polly griff etwas häufig zur Whiskyflasche) und der Wende ist "Robinsons Tochter" ihr wie immer ein literarischer Leuchtturm:

"Denn meine Befreiung lag greifbar vor mir, alles war bereitet, und ein großes Schiff wartete nur darauf, mich hinzubringen, wohin ich wollte". (S. 279)

Die Zeitgeschichte des letzten Jahrhunderts (beide Weltkriege) sind in die Handlung verwoben und ein wichtiger Einschnitt in Pollys Leben, die - selbst nur privat unterrichtet und nie selbst in einer Schule gewesen - Kinder unterrichtete (ihre Mutter Emma war eine wundervolle Lehrerin), geschieht kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges: In einem Brief aus Deutschland wird Polly gebeten, zwei jüdische Mädchen, die mit einem Flüchtlingszug in London ankommen, abzuholen und sich um sie zu kümmern. So begeben sich der nun 80jährige Mr. Thwaite, Ms. Maitland (seine Haushälterin) und Polly auf die Reise nach London und wieder einmal bin ich fasziniert von dem Empathievermögen des alten Herrn: Während der Zug von Yorkshire Richtung London rollt, überlegt er, wo in Holland der Zug der Kinder jetzt sein könnte....

Eine ganz besondere, wundervoll erzählte, atmosphärisch dichte Lebensgeschichte einer Frau mit allen dramatischen Wendungen, die das Leben für sie bereithalten sollte - von ihrer Kindheit bis ins hohe Alter, die auch gesellschaftliche Veränderungen im England des 20. Jahrhunderts aufzeigt; von feiner Ironie gezeichnet und hier und da mit dem Jane Gardam so eigenen britischen trockenen Humor gewürzt, kann ich diese besondere Reise durch Polly Flints selbstbestimmte Lebenswelt sehr empfehlen. Von mir gibt es daher 4,5 Sterne und einen besonderen Platz (neben den Vorgängern) im Bücherregal!

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Veröffentlicht am 30.08.2020

Fesselnd, packend, dramatisch: Eine "deutsch-deutsche Geschichte"!

Kinder ihrer Zeit
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Vorausschicken möchte ich, dass Claire Winter seit vielen Jahren zu einer meiner (deutschen) LieblingsautorInnen gehört. Daher habe ich mich sehr auf "Kinder ihrer Zeit", ihren neuesten (historischen) ...

Vorausschicken möchte ich, dass Claire Winter seit vielen Jahren zu einer meiner (deutschen) LieblingsautorInnen gehört. Daher habe ich mich sehr auf "Kinder ihrer Zeit", ihren neuesten (historischen) Roman, gefreut: Ich sollte für die Wartezeit belohnt werden und dieser Roman steht den Vorgängern in nichts nach; er ist eher noch spannender und fesselnder, trägt im letzten Romandrittel gar Züge eines sehr guten Agententhrillers - so dass man sich als LeserIn dem Geschehen kaum entziehen kann....

Der Roman ist (auf starken und spannenden 565 Seiten) im Diana-Verlag (HC, 2020) erschienen und in drei Teile gegliedert:

Die Handlung beginnt mit der Flucht von Rosa, die ihre Zwillingstöchter Emma und Alice (11) auf der Flucht im letzten Kriegsjahr (1945) in den sicheren Westen bringen will. Da die Rote Armee schneller ist als viele Menschen aus Ostpreußen, die bis zuletzt ihre Heimat nicht verlassen durften, ist dieser Teil des Romans für mich sehr ergreifend dargestellt: Rosa muss einen Zwilling, der erkrankt ist (Alice) zurücklassen, um den anderen (Emma) zu retten. Die beiden Mädchen werden durch die Kriegswirren getrennt und denken beide viele Jahre, dass die Zwillingsschwester vermutlich nicht mehr am Leben ist - bis sie sich nach Jahren im Berlin des Kalten Krieges (1960/61) wiederbegegnen sollten.... Äußerlich sehen sich Emma und Alice sehr ähnlich; jedoch wuchsen sie in sehr verschiedenen Gesellschaftssystemen auf, der heutigen BRD und der DDR, die vollkommen in der Hand (und der Überwachung) des "großen Bruderlands" UdSSR, heute Russland, stand. Die Bühne, die wir als Leser betreten, ist die heiße Zeit in Berlin vor dem Mauerbau, die die Stadt für viele Jahre in zwei Teile spalten sollte....

Im Romanverlauf lernen wir immer besser die Charaktere der Hauptprotagonisten kennen; die authentisch und sehr empathisch beschrieben werden: So ist es zum einen herzzerreißend, wie sich die beiden jungen Frauen wiedertreffen - und feststellen, wie unterschiedlich sie geprägt sind. Während Alice lange Zeit an die beste Staatsform des Sozialismus glaubt und linientreu später andere Menschen bespitzelt, sie ausspionieren muss; wächst Emma zu einer offenen, sympathischen und zu den Werten der Freiheit stehenden jungen Frau heran, deren große Sympathie den Sprachen gilt, weshalb sie diese Vorliebe zu ihrem Beruf macht und Dolmetscherin wird. Alice ist "Fachkraft im Schreibdienst", was einer Sekretärin im Westen zu dieser Zeit entsprochen hat. Ihre Art ist eher zurückhaltend und verschlossen, da sie früh in ihrem Leben alleine zurechtkommen musste - und durch eine harte Schule früherer DDR-Heime ging. Einzig Sergej, der sie damals auf der Flucht aus dem brennenden Haus rettete, obgleich sie Deutsche war und sich immer um sie kümmerte, vertraut Alice.
Doch welchen Preis muss Sergej zahlen, damit sein Vorgesetzter beim KGB, Markov, ihn nicht belangt?

Es ist die Zeit, in der es in Berlin vor Spionen nur so wimmelte - und sowohl der KGB als auch der BND gerne Menschen anwarben, die sie "umdrehen" konnten, um z.B. wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu bekommen.

Zwei weitere Hauptprotagonisten, deren Geschicke mir ebenfalls sehr nahe gingen, waren Max, der beste Freund von Emma - und Julius, ein junger aufstrebender Wissenschaftler, der im Osten Deutschlands forschte und Zeuge einer Entführung wurde, die seinen besten Freund, ebenfalls Wissenschaftler, betraf: Wie wird sich Julius entscheiden, wird er es vorziehen, sich in den Westen abzusetzen - oder ist sein Gesinnungswandel, parteigemäßes und linientreues Verhalten, echt?

Diesen und vielen anderen Fragen mehr, die sich im Roman stellen, geht der Leser mit großer Spannung nach: "Kinder ihrer Zeit" ist ein Stück Zeitgeschichte - die auch die endgültige Trennung der Stadt Berlin in Ost- und Westberlin beinhaltet: Im Showdown müssen sich unsere RomanheldInnen entscheiden und nicht alle kommen mit dem Leben davon. Die Autorin setzt Alice und Emma (wobei ich den Fakt, dass es sich um Zwillinge handelt, genial fand), Max und Julius, aber auch Sergej und Markov stellvertretend für viele Menschen in einer sehr berührenden, fesselnden Weise dar, die durchaus damals "Kinder ihrer Zeit" waren und teils großen Gefahren ausgesetzt waren, manche zum Spielball der Politik wurden. Tragisch empfand ich das Romanende, aber auch sehr stimmig.

Claire Winter gelingt es wieder einmal, den geneigten Leser in eine Zeit der jüngeren deutschen Geschichte zu entführen und manches "spürbar" zu machen, was damals in Berlin Realität war. Die gewohnt sehr gute und akribische Recherche zu dieser Zeit Ende der 50er/Anfang der 1960er Jahre sind ein weiteres großes Plus der Autorin, die meinen Horizont und meine Sichtweise auf diese Ereignisse erweitern und verbessern konnte.

Ich hatte die Freude, in einer Leserunde gemeinsam mit Claire Winter ihren neuen Roman zu lesen und danke ihr für die sehr spannende, aufschlussreiche und fesselnde Lektüre und die prickelnde Atmosphäre, die stets in ihren Romanen herrscht: Ich freue mich schon sehr auf den nächsten Roman von ihr und spreche eine absolute Leseempfehlung aus!

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Veröffentlicht am 15.08.2020

Das Regenorchester

Das Regenorchester
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Der Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib hat mich auch in seinem zweiten Roman, den ich bisher gelesen habe, durch seine Erzählkunst überzeugen können: Nach "Der Glückliche" war es nun "Das Regenorchester"....

Auch ...

Der Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib hat mich auch in seinem zweiten Roman, den ich bisher gelesen habe, durch seine Erzählkunst überzeugen können: Nach "Der Glückliche" war es nun "Das Regenorchester"....

Auch im Roman wandert ein Schweizer Schriftsteller mit seiner Frau und dem Papagei Vian nach Irland aus; sie verbringen einige glückliche Jahre miteinander in ihrem Haus - bis es zu Auseinandersetzungen und zur endgültigen Trennung kommt. Während Vian nur in Schwitzerdütsch "Bern isch schö" kräht, geht es unserem Protagonisten alles andere als gut. Er schließt sich einer Gruppe verlassener Männer an, die von einem Coach ein "Wieder-Stabilisierungsseminar" oder wie immer man dies nennen möchte, in einer Wald- , Feld- und Wiesenaktion "draußen" ihren Schmerzen des Verlassenworden seins, ihrer Gefühlswelt (gegen cash, versteht sich) nun freien Lauf lassen.
Diesen Abschnitt des Romans habe ich sehr genossen, da er sehr reale Männergefühle widerspiegelt und in komischer Weise zum Ausdruck bringt (z.B. stellt jemand von den 9 Männern fest, dass er gar nicht wütend ist, sondern nur traurig: Dennoch verlangt der Coach von allen, dass sie mit dem Prügel, den sich jeder suchen musste und der "genau in die Hand passt" mit Vehemenz auf die Lichtung im Walde einprügeln....

Als "Sean", der eingewanderte Schweizer, in Donegal eine Frau kennenlernt, merkt diese sofort, welchen Schmerz er mit sich trägt: Sie ist sehr krank und will ihm - der ja Autor ist - gerne ihre Geschichte erzählen. So kommt es, dass sich Niamh und "Sean", wie sie ihn nennt, mit einem Diktiergerät treffen und wir in das Leben von Niamh, das sie fortan in Sequenzen erzählt, eintauchen, daran teilhaben:

Die Geschichte Niamhs, in einer einfachen, armen Familie mit 8 Kindern aufgewachsen, erinnert an das Irland der 50er und 60er Jahre: Durch die hohe Arbeitslosigkeit mussten viele Iren und Irinnen nach England auswandern, um Geld zu verdienen. So auch einige Geschwister Niamhs und sie selbst auch eines Tages. Höhepunkte ihrer Kindheit und Jugend waren die Besuche von Familie Friedrich aus Köln, die jeden Sommer im Nachbarcottage verbringen, Niamh später Frau Friedrich hilft und sich sehr eng mit deren Tochter, Nella, anfreundet. Diese Freundschaft soll später dazu führen, dass Niamh viele Jahre in Köln lebt, bevor sie - viel älter geworden - nach Irland zurückkehrt.

Der Roman ist geprägt vom Leben Sean's, der versucht, sich aus seinem Schmerz zu befreien und wieder "von vorne anzufangen" und der Lebensgeschichte von Niamh, von der ich an dieser Stelle nicht mehr verraten möchte: Ein beeindruckender Roman über Liebe, Trennung, Schmerz und Verlassenwerden sowie Krankheit und Tod: Aber auch von Mitmenschlichkeit, Freundschaft und Empathie sowie vom Loslassen und vom Neubeginn. Der Erzählstil des Autors gefällt mir sehr; er ist schnörkellos, atmosphärisch und lässt genügend Raum für eigene Gedanken und Gefühle. Besonders gerne habe ich am Leben von Niamh teilgenommen, die hier exemplarisch für viele Irinnen ihrer Generation (*1940) stehen könnte. Der Autor lebte selbst zwischen 1996 und 2016 im County Donegal/Irland.

Ich empfand "Das Regenorchester" als sehr lesenswert und empfehle "es" gerne weiter!

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Veröffentlicht am 04.08.2020

Gustav Mahler's letzte Reise....

Der letzte Satz
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Ein alter, schwerstkranker Mann ist auf der Fahrt mit dem Dampfer "Amerika" zurück nach Europa: Es handelt sich um Gustav Mahler, Musiker, Komponist und weltberühmter Dirigent (1860 - 1911), in seinem ...

Ein alter, schwerstkranker Mann ist auf der Fahrt mit dem Dampfer "Amerika" zurück nach Europa: Es handelt sich um Gustav Mahler, Musiker, Komponist und weltberühmter Dirigent (1860 - 1911), in seinem letzten Lebensjahr also begegnen wir nicht nur dem Musiker, sondern auch dem Menschen Mahler in einer biografischen Skizze (das Büchlein umfasst 126 Seiten), die doch viel mehr als eine skizzierte Persönlichkeit ist: Robert Seethaler (1966 in Wien) hat mit den Gedanken Mahlers in seinem neuen Buch "Der letzte Satz" (erschienenen bei Hanser, HC, gebunden, 2020) dem Leser eine Möglichkeit gegeben, in dessen (etwas kapriziöse) Persönlichkeit einzutauchen - und auch seine Musik kennenzulernen, so dies noch nicht geschehen ist:

Gut umsorgt wird Mahler von einem Schiffsjungen, der ebenfalls eine wichtige Figur im Roman darstellt und in den Dialogen viel Tiefgang zu finden ist: Er sollte auch am Ende des Buches eine Rolle spielen...

Mahler sinnt auf dem Sonnendeck (er fröstelt ständig, fiebert, war bereits krank, als er sein letztes Konzert in New York gab)über die Momente der Schönheit - und auch des Bedauerns in seinem Leben, an denen er den Leser teilhaben lässt: Da sind in jeweiligen Rückblicken sein Werdegang, die Hochzeit mit Alma, der damals schönsten Frau in Wien, die jedoch sehr viel jünger ist als er; die beiden Töchter Anna und Maria, der Tod Marias, über den er nie hinwegkam und seine Arbeit: Er liebt Vögel und kennt alle mit Namen, wenn nicht, gibt er ihnen eine - dieser Passus gefiel mir sehr und lässt auch die große Fantasie Mahlers, die auch in seinen Werken steckt, offenkundig werden. Er liebt die Musik, er liebt seine Arbeit, seine "Komponierhäuschen", in denen er in völliger Stille und Abgeschiedenheit komponieren kann; seine Frau und seine Töchter. Alma ist ihm ein Anker in seinem Leben und als es zur Ehekrise kommt, steht für Gustav Mahler die härteste Zeit an: Als Kind hat er einige Geschwister früh verloren; besonders der Tod seines etwas ältereren Bruders mit nur 15 Jahren ließ ihn früh spüren, wie schmerzhaft ein derartiger Verlust ist. Zeitlebens nicht gesund, hat er sich von seiner Krankheit niemals besiegen lassen; es erscheint eher, dass er in allem hart zu sich selbst war - aber auch ein Perfektionist, was die Auswahl der Chormitglieder betraf. Er staunt, als er seine Zeit als Hofdirektor der Wiener Oper nochmals auferstehen lässt:

"Man schlägt einen Ton an, und der schwingt dann weiter im Raum. Und trägt doch schon das Ende in sich". (Zitat S. 33)

Mahler liebte die Abgeschiedenheit, die Stille, die ihm Raum für seine Arbeit gab; Großstädte wie z.B. "das überzuckerte Paris" waren ihm zuwider: Wenn man bedenkt, welch feines Gehör er haben musste, kann man dies sehr gut verstehen. Fasziniert hat mich auch seine Liebe zu seinem Pult, hinter dem er sich "sicher und geborgen" fühlte:

"Es steckten die Wut und die Freude eines ganzen Lebens in ihm".
(Zitat S. 60)

Der etwas melancholische Grundton des Romans, dessen Sätze so glasklar wie aufsteigende Sektperlen an die Oberfläche dringen, passt sehr gut zum Befinden Mahlers und stilistisch schnörkellos, dabei sehr atmosphärisch, gelingt es Seethaler, sich ein Bild von Gustav Mahler zu machen, das vielschichtiger und tiefsinniger ist als der Romantext. Auch stellt er Positives, die Freude, die Mahler in Gedanken hat, wenn er an seine Arbeit denkt. dar (auch an Bord schreibt er noch 3 Stunden an einem neuen Werk), die ihm jedoch, wie er jetzt, am Lebensende angekommen, alles abverlangte. Ob er sich selbst zeitlebens zuviel abverlangt hat? Er verließ sich stets auf sein Gehör - und seinen Fleiß; die körperlichen Schmerzen suchte er oft, zu ignorieren.

In so manchen Sätzen ist man als Leser sehr berührt über die Lebendigkeit, das Aufseufzen, den Lebenswillen des schwerkranken Dirigenten, der das nahende Ende fühlt. Auch eine gewisse Demut vor dem Leben ist durchaus spürbar, die sich in Mahlers Emotionen äußert. So wünscht er sich, einmal "fliegende Fische" zu sehen - und verpasst dieses Erlebnis am Ende nur knapp. (So schön es übrigens aussieht, so tragisch ist dies auch, wer sich mit diesem Phänomen beschäftigen möge, wird wissen, was ich meine). In gewisser Weise personifizieren die Fische für mich hier ein Ende - und auch einen Aufbruch.

Auch die letzten Seiten deuten mit den Gedanken des früheren Schiffsjungen, der von Gustav Mahlers Tod erfährt, darauf hin: Alles beginnt. Und alles endet.
Ein berührender, stellenweise ergreifender Roman, den ich sehr gerne gelesen habe. Robert Seethaler ist es auf wenigen Seiten gelungen, "tief eintauchen zu können" in eine starke Persönlichkeit, die die Opernwelt als Reformer bis heute prägt und dem Leser für eigene Gedanken viel Raum zu lassen. 4,5
und Leseempfehlung!

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