Eine moderne saudische Frau und ihre Rache
Saras Stunde«Saras Stunde» ist die Geschichte einer Rache, vor allem aber die Geschichte einer modernen saudischen Frau, die sich weder als Opfer noch als Objekt sehen will. Das Buch von Najem Wali ist Anklage, Gesellschaftsporträt ...
«Saras Stunde» ist die Geschichte einer Rache, vor allem aber die Geschichte einer modernen saudischen Frau, die sich weder als Opfer noch als Objekt sehen will. Das Buch von Najem Wali ist Anklage, Gesellschaftsporträt und ungewöhnliche Liebesgeschichte zugleich.
Sie ist eine selbstbewusste Frau, keine die schweigt und den Blick niederschlägt. Doch im vielleicht entscheidensten Moment ihres Lebens verkleidet sich Sara, die Titelheldin des Romans «Saras Stunde» von Najem Wali, als Mann. Nur so kann sie den als Befreiungsschlag angesehenen Mord an dem Mann begehen, der so viele Leben ruiniert hat. Denn um in das Krankenhaus zu fahren, in dem ihr verhasster Onkel im Koma liegt, muss Sara Auto fahren - und das ist ihr als Frau in Saudi Arabien verboten.
Wali, der nach Ausbruch des Krieges zwischen Irak und Iran 1980 nach Deutschland flüchtete, stammt aus dem Irak, seine vorangegangenen Bücher befassten sich mit seiner Heimat. Nun wechselt er nicht nur die Szene seines Buches, sondern auch die Perspektive. «Saras Stunde» ist erzählt aus der Sicht einer Frau, die sich nicht fügen will in das Schicksal einer schweigenden, gehorsamen Frau unter dem Schleier.
Als jüngstes Kind und später Nachkömmling ist Sara so ganz anders als ihre Geschwister, hat schon als kleines Kind ihren eigenen Kopf. Die Mutter sieht es mit Sorge, der Vater, mit Aufträgen der US-Armee reich geworden, lässt der jüngsten Tochter Freiheiten, die er ihren älteren Schwestern nicht zugebilligt hätte. Sie darf sogar auf eine ko-edukative Grundschule gehen, in der auch Mädchen gemessen an den üblichen Verhältnissen des streng islamischen Landes mehr Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten haben. «Ich will nicht mehr die erste Schönheitskönigin des Königreiches werden, ich will die erste Psychiaterin in Saudi-Arabien werden», schreibt die zehnjährige Sara in einem Brief an ihre Freundin Alhanuf.
Die Geschichte Saras könnte sich zu einem arabischen Frauenfrühling entwickeln, zur Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau, die den Traditionen der Männergesellschaft entgegentritt. Doch es kommt anders. Sara, als zehnjährige mit dem ersten Irakkrieg konfrontiert, der ihren Vater nur noch reicher macht, missfällt mit ihrer selbstbewussten Art Scheich Jussuf-al-Ahmad, dem Chef der «Behörde für die Verbreitung von Tugendhaftigkeit und für die Verhinderung von Lastern». Er ist der Bruder von Saras Mutter, doch Sara ahnt schon früh - von diesem Onkel ist nichts gutes zu erwarten.
Der Mann, der selbst in der wahabitischen Gesellschaft als streng gilt, sieht mit Freude, dass fast alle seiner Söhne den Koran studieren und der Reihe nach dem Ruf ihres Landsmanns Osama bin Laden nach Afghanistan folgen. Nur sein Erstgeborener, Nassir, ist anders und flieht zum Studium ins gemäßigtere Nachbarland Bahrein, um dort zu studieren.
Die vom Onkel erzwungene arrangierte Ehe zwischen Nassir und Sara erweist sich als Ausweg für die beiden jungen Leute. Denn Nassir, der mittlerweile in Großbritannien studiert und davon träumt, ein Erfinder zu sein, ist homosexuell, auch wenn er sich selbst die Gefühle für seinen langjährigen Schulfreund zunächst nicht eingestehen will. Für Sara wiederum ist die Ehe, in der das Paar schon vor der Hochzeitsfeier beschließt, geschwisterlich zusammen zu leben, die Tür in eine Welt, in der sie den Hijab ablegen und das Leben einer westlichen Frau in London führen kann.
Mit den Terroranschlägen vom 11. September geht auch das Leben in London in Trümmer. Als Saudi, der im Keller seines Hauses immer wieder mit seinen Experimenten Explosionen auslöst, gerät Nassir unter Terrorverdacht. Sara muss zurück nach Saudi Arabien, in eine Gesellschaft, in die sie nie zurück kehren wollte. Nun will sie Rache, auch für alle diejenigen, deren Leben durch den religiösen Fanatismus des Scheich zerstört wurde.
Mit großer Sympathie für die junge Generation, die gegen alte Werte aufbegehrt, schildert Wali das Schicksal Saras und ihrer Familie, kritisiert Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit der selbst ernannten Religions- und Sittenhüter. Mit Sara hat er eine Titelheldin geschaffen, mit der sich nicht nur muslimische junge Frauen identifizieren können, sondern alle, die gegen vorgezeichnete Rollen aufbegehren.