Das Trauma der Überlebenden
Manchmal ist auch das Überleben tödlich. Die Erzählsammlung der israelischen Schriftstellerin Irit Amiel gibt eine Ahnung vom Trauma der Holocaust-Überlebenden, das bis in die Gegenwart andauert.
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Manchmal ist auch das Überleben tödlich. Die Erzählsammlung der israelischen Schriftstellerin Irit Amiel gibt eine Ahnung vom Trauma der Holocaust-Überlebenden, das bis in die Gegenwart andauert.
Sie haben überlebt, aber sie blieben gezeichnet, auch
70 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager. Sie verließen
Europa, suchten eine Zukunft im jüdischen Staat – und fühlten sich
auch dort allein, unverstanden, zum Schweigen verdammt. Die
israelische Schriftstellering Irit Amiel erzählt in ihrer
Kurzgeschichtensammlung «Gezeichnete» Geschichten vom Leben nach dem
Holocaust, Geschichten, die deutlich machen, dass Überleben alleine
kein happy end bedeutet.
Was ist hier Fiktion, und wo werden Nachbarn, Freunde, Bekannte
skizziert? Immer wieder beschreibt Amiel Orte und Straßen, die sie
selbst kennt, das Ghetto von Tschenstochau, in dem sie als Kind
lebte, damals, als sie noch Irena Librowicz hieß. Die Menschen, die
sie beschreibt, sind ihre Altersgenossen aus Polen, aus Litauen, aus
der Ukraine, für die mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen
Besatzung die Kindheit endete und der Kampf ums Überleben begann.
In ihrem Buch setzt Amiel den Toten wie den Überlebenden ein Denkmal,
lässt ahnen, wie hoch der Preis Überlebens ist, wenn von Freunden,
Familie, Klassenkameraden nur die Erinnerung bleibt und das wissen,
alleine übrig zu sein, als letzter Zeuge, dass sie je gelebt haben.
«Nur ich blieb übrig, eine Gezeichnete, um sich zu erinnern und zu
erinnern, zu weinen und bis zum letzten Atemzug darüber zu
schreiben», heißt es in einer der Erzählungen. Das könnte auch ein
autobiographischer Satz von Amiel sein.
Die Einsamkeit der Opfer in den Ghettos und Todeslagern, den
Hunger, die unmenschlichen Lebensbedingungen, die Angst vor
Entdeckung und Verrat bei denjenigen, die im Untergrund mit falschen
Papieren überlebten – das ist nur ein Teil der Geschichte von Rafael
und Klara, Bruria und Elkana und all der anderen, die Amiel auf
wenigen Seiten porträtiert. Manches davon ist aus der
Erinnerungsliteratur bekannt, aus Gedenkstättenbesuchen.
Amiels Geschichten enden jedoch nicht 1945, sie beschreiben auch den
Neuanfang, die Lager für Displaced Persons, für das menschliche
Strandgut aus ganz Europa. Sie schildern das Leben in Israel, wo die
traumatisierten europäische Juden auf Zionisten stießen, vor denen
sie sich für ihr Schicksal geradezu rechtfertigen mussten und von
denen sie, so empfanden sie es jedenfalls, irgendwie verachtet
wurden.
Denn sie waren nicht die Avantgarde, die ihr Schicksal mit der
Auswanderung nach Palästina in den 20-er oder 30-er Jahren in die
Hand genommen hatten, sondern die Schwachen, die Opfer, die aus einem
vom Krieg verwüsteten Kontinent kamen und sich schon wieder in einem
Land unter fortwährender Bedrohung fanden.
Die Protagonisten in Amiels Geschichten schwiegen, wie viele
Überlebende, Jahrzehnte lang. Doch die Vergangenheit ruhte nur, wurde
mit zunehmendem Alter immer lebendiger. Manche der «Gezeichneten»
finden als alte Menschen doch noch Frieden mit ihrer Vergangenheit,
andere scheitern endgültig an ihrem Lebenstrauma. Es sind knappe,
leise Geschichten ohne Pathos, aber mit viel Traurigkeit und einem
bißchen Hoffnung.