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Veröffentlicht am 14.09.2020

Ein ungewöhnlicher Sheriff im hohen Norden

Kalmann
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Kalmann Odinsson, der Titelheld des Romans von Joachim B.Schmidt, ist eine Art isländischer Cousin von Forrest Gump. Intellektuell eher unterbelichtet, ein Tor reinen Herzens, von anderen ein wenig als ...

Kalmann Odinsson, der Titelheld des Romans von Joachim B.Schmidt, ist eine Art isländischer Cousin von Forrest Gump. Intellektuell eher unterbelichtet, ein Tor reinen Herzens, von anderen ein wenig als Sonderling angesehen. Ein Mensch, dem Doppelbödigkeit und Ironie fremd sind und der Fragen wortwörtlich nimmt.

Würde Kalmann in einer Großstadt leben, wäre er womöglich in einer integrativen Wohngemeinschaft mit einer Arbeit, die mehr Beschäftigungstherapie ist. Aber er lebt in dem Dorf Raufarhövn am Polarkreis und sein Großvater meinte immer, Kalmann sei ganz normal -auch wenn die Räder in seinem Kopf manchmal verkehrt liefen. Also ging Kalmann nicht auf eine Sonderschule, sondern aud die Dorfschule, lernte von seinem Großvater jagen und angeln. Jetzt ist er der selbsternannte Sheriff von Raufarhövn und Experte für Gammelhai. Da Kalmanns Mutter als Krankenschwester in der nächstgrößeren Stadt arbeitet und der mittlerweile demente Großvater im Pflegeheim lebt, lebt Kalmann alleine und zieht sich, wenn er nicht gerade jagt oder Gammelhai einlegt, mit Vorliebe Fast-Food und Fernsehserien ein.

So weit, so gut - doch dann stößt Kalmann während der Jagd auf einen Polarfuchs auf eine grße Blutlache und findet sich plötzlich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder. Denn der Hotelbesitzer Robert McKenzie, der im Besitz der Fischereilizenzen ist, ein Hotel und einen Golfplatz hat - also ein wichtiger Mann am Ort - ist verschwunden. Kalmann bringt immer wieder mögliche Eisbären ins Spiel, doch die Polizistin, die in dem Vermisstenfall ermittelt, schließt ein Gewaltdelikt nicht aus. Dann wird auch noch eine Tonne aus dem Meer gefischt und im Magen eines von Kalmann gefischten Hais eine menschliche Hand entdeckt...

Die Ereignisse überstürzen sich und Kalmann ahnt langsam, dass er irgendwas gesehen hat oder weiß, dass sein mitunter eher wattiges Gedächtnis erfolgreich beiseite gelegt hat. Gut ist nur, dass er in Krisen gut funktioniert: "Es gibt Momente im Leben, in denen man nicht überlegt, Man handelt einfach. Der Körper übernimmt die Führung, das Gehirn darf dann eine Pause machen, denn man hat keine Zeit für Denkereien. In solchen Momenten bin ich irgendwie normal."

Geschildert aus der Sicht des Ich-Erzählers Kalmann, entwickelt sich der Vermisstenfall in einem ganz eigenen, entschleunigten Rhythmus. Kalmann ist zwar einerseits ständig im Zentrum des Geschehens, braucht aber ein bißchen länger, um die Zusammenhänge zu durchschauen oder sich an etwas Wesentliches zu erinnern . Dieser einsame Sonderling ist ein Highlight des Romans, den man ähnlich wie Forrest Gump einfach gern haben muss. Zum anderen ist da Schmidts Schilderung des Dorfes, der einsamen winterlichen Landschaft hoch im Norden von Island, die den Leser in den Bann zieht.

Ein klassischer Krimi ist "Kalmann" weniger, spannend ist es trotzdem.

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Veröffentlicht am 09.09.2020

Sprachgewaltiges Familienporträt

Die Infantin trägt den Scheitel links
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Fulminant, ausdrucksstark, bildgewaltig - Helena Adler hat mit "Die Infantin trägt den Scheitel links" ein krachendes Familienporträt einer österreichischen Bauernfamilie geschrieben. Es ist ein Buch wie ...

Fulminant, ausdrucksstark, bildgewaltig - Helena Adler hat mit "Die Infantin trägt den Scheitel links" ein krachendes Familienporträt einer österreichischen Bauernfamilie geschrieben. Es ist ein Buch wie ein Gemälde, mit nicht immer schmeichelhaften Beschreibungen der Familie aus der Sicht der jüngsten Tochter der Familie, die sich einerseits am Ende der familiären Hackordnung fühlt, andererseits mit ihrer scharfen und bissigen Beobachtungsgabe das Leben auf dem Hof kommentiert.

Die Wortwucht schlägt schon gleich auf den ersten Seiten durch, wenn die vierjährige Erzählerin eine gemeinsame Mahlzeit der Großfamilie beschreibt. Mehrere Generationen leben unter dem Dach, und vor allem die Urgroßeltern werden eindrücklich porträtiert: "Die langen Finger der Urgroßmutter stehen ab wie spitze Holzschiefer vom Tisch ab, um den wir alle sitzen. Die Arbeiterhände des Urgroßvaters sind übersät von Altersflecken und hervortretenden Adern. Sie ragen aus den Ärmeln seiner braunen Wollweste heraus wie die Köpfe von Schildkröten aus ihrem Panzer. Nackt und zerfurcht. Die Hände der beiden berühren einander nicht. Sie greifen nicht nach oben, denn es sind Hände aus dem Bauernstand, Sie Magd, er Knecht, die Genetik einer Gesindeschicht,"

Das ist großes Kopfkino von Anfang an, und die Brüche innerhalb der Familie sorgen für die kleinen Dramen im Alltag - ganz zu schweigen von dem großen, als die Erzählerin den Bauernhof im zarten Alter von vier Jahren abfackelt. Kann ja mal passieren. Es war auch eine Art Racheaktion, wurden doch die Welpen der Wolfshunde getötet, wie es eben mit unerwünschten Tiernachwuchs auf dem Hof häufig geschah. Überhaupt fühlt sich das Mädchen ihren "Wölfen" häufig näher als den eigenen Angehörigen: Die Mutter steigert sich in ihre Religiosität hinein, der Vater trinkt, die älteren Zwillingsschwestern mögen als Eisläuferinnen beeindrucken, nicht aber durch schwesterliche Fürsorge: Sie drohen der Kleinen, sie einzuschläfern. Wer solche Schwestern hat, braucht keine Feinde. Mit ihren Gewaltphantasien ist aber auch die Erzählerin ganz sicher kein armes Hascherl, sondern in der Familie als "kleine Satansbrut" bekannt.

Die "Infantin" erlebt eine Kindheit, die unendlich weit entfernt ist von Helikopter-Eltern, Mama-Taxi und dem gefüllten Terminkalender voll mit künstlerischer Frühförderung, Ballettraining und Musikunterricht wohlsituierter Stadtsprösslinge. Zwar kann das begabte Mädchen das Gymnasium besuchen und damit Aufstiegsträume der Familie umsetzen, doch dort spürt sie den Unterschied ihres Lebens und dem der Stadtkinder nur noch stärker. Die Bauernkinder erziehen sich im wesentlich selbst, durchaus ruppig mit Rudelbildung, in dem die gemeinsame Verwahrlosung voranschreitet und gleichzeitig Freiheit zelebriert wird.

Auch die Autorin wuchs auf dem Land auf, da fragt man sich natürlich, wie weit das Buch ein (Zerr-)Spiegel der eigenen Familie ist. Aus den Schilderungen des Familienlebens sprechen Liebe und Hass zugleich. Helena Adler lässt den Leser die Infantin durch die Pubertät und ins Erwachsenenalter begleiten, zu dem Punkt, wo sie eine grundlegende Entscheidung über ihre Zukunft treffen muss. Manches in dieser Dorfkindheit wirkt grotesk überzeichnet, manches liebevoll verspottet. Langweilig ist dieses Buch ganz sicher nicht.

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Veröffentlicht am 11.08.2020

Praller Familienroman voller Leben

Vaters Wort und Mutters Liebe
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Die Beziehungen zwischen Geschwistern, das weiß jeder, der kein Einzelkind ist, ist etwas Besonderes. Ganz egal, wie konfliktreich, wie sehr man sich streitet, um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurriert, ...

Die Beziehungen zwischen Geschwistern, das weiß jeder, der kein Einzelkind ist, ist etwas Besonderes. Ganz egal, wie konfliktreich, wie sehr man sich streitet, um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurriert, Futterneid entwickelt - am Ende sind die Geschwister, die uns besser kennen, als so ziemlich jeder andere Mensch, oder wissen, wie wir zu denen wurden, die wir sind. In Nina Wähäs Familienroman "Vaters Mord und Mutters Liebe" geht es um besonders viele dieser Geschwisterbeziehungen, denn immerhin umfasst die Familie Toimi 12 überlebende Geschwister, insgesamt hat Mutter Siri 14 Kinder geboren. Eine Bauernfamilie im Norden Finnlands, mit der sanften, duldsamen Mutter Siri und Vater Pentti, der mit seinem zornigen Wesen, seiner Unfähigkeit Liebe zu zeigen, seiner Härte nicht nur der Familientyrann ist, sondern auch immer abseits zu stehen scheint.

Wähä, eigentlichlich Schauspielerin, inszeniert ihren vielschichtigen Familienroman ein bißchen wie ein elisabethanisches Bühnenstück oder einen Moritatenerzählung mit dem allwissenden Erzähler am Anfang jedes Kapitels, in den nächsten Akt, das nächste Bild einführend. Am Ende, so heißt es schon frühzeitig, steht ein Mord. Oder vielleicht auch nicht. Aber passieren werde was. Demnächst jedenfalls.

Denn die Autorin nimmt sich viel Zeit, um in die Familie, die Geschwisterkonstellationen, die Familiengeschichte einzuführen. Eigentlich ist fast jedes Kapitel ganz besonders einem der Geschwister gewidmet, erlaubt dem Leser, über die Schultern der Großfamilie zu schauen, von Anfang an, wenn Anni, die älteste Tochter, von Stockholm in den hohen Norden reist. Nicht nur, um der Familie von ihrer Schwangerschaft zu berichten, sondern vor allem, um Bewegung ins Spiel zu bringen.

Die junge Frau, die so schnell wie möglich den heimischen Bauernhof verlassen hat, um ihr eigenes Leben zu führen, versucht nun einen ähnlichen Befreiungsschlag für die Mutter. Auch mit 56 Jahren soll es für sie noch nicht zu spät sein, ein anderes Leben als das in der lieblosen Ehe zu führen. Und die jüngsten Geschwister, vier und acht Jahre alt, sollen anders aufwachsen, als Anni und die anderen der älteren Kinder. Erst überzeugt sie ihre Geschwister, dann konfrontiert der Geschwisterrat Siri: Sie soll sich scheiden lassen,noch einmal einen Neubeginn wagen. Klar, dass Pentti das überhaupt nicht komisch findet.

Wähä schildert diese Familiengeschichte sowohl episch als auch als Mikrokosmos, viele kleine Porträts, das Ganze eingebettet in die Geschichte Kareliens von den Dreißiger bis zu den Achtziger Jahren. Auch die Geschwisterfront ist keineswegs geschlossen, es gibt Einzelinteressen, auch Egoismen und keineswegs jedes der Kinder ist ein Sympathieträger. Es geht um die schwierigen Jahre der Pubertät, Selbstentdeckung und Selbstverleugnung, die Suche nach Chancen und das Akzeptieren von Schicksal, um Liebe und Entfremdung.

Nicht zuletzt nimmt das Buch seine Leser mit in eine ziemlich archaische, isolierte Gesellschaft - es gibt zwar Nachbarn und eine Kleinstadt in der Nähe, doch all das bleibt ziemlich vage, Und auch die Familienidee erinnert eher an das 19. Jahrhundert als an die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist wirklich eine Welt, die ganz weit entfernt ist von vielen heutigen Familien, in denen Kinder teils überbehütet, teils maßlos mit Materiellem überhäuft werden. Die große Familie entspricht weniger dem Wunsch, als der Notwendigkeit, sind die Kinder doch kostenlose Arbeitskräfte im Stall und auf dem Feld. Nein, romantisch ist dieses Landleben überhaupt nicht,, aber trotz eines Endes, das dann doch noch ein paar Fragen offen ließ, ein praller Roman voller Leben.

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Veröffentlicht am 10.08.2020

Berührend und poetisch

Am Abend vor dem Meer
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Khaled Hosseini berührt mit seinem schmalen, reich bebilderten Buch, Sea Prayer, Gebet am Meer, heißt seine kleine aber wichtige Erzählung im Original, und wie ein Gebet ist sie geradezu meditativ. Sicher ...

Khaled Hosseini berührt mit seinem schmalen, reich bebilderten Buch, Sea Prayer, Gebet am Meer, heißt seine kleine aber wichtige Erzählung im Original, und wie ein Gebet ist sie geradezu meditativ. Sicher auch ein geeignetes Buch, um Kindern das Thema Flucht über das Meer nahe zu bringen.

Gerade mal 45 Seiten, manchmal nur ein paar Zeilen Text als Ergänzung zu den Illustrationen von Dan Williams. Mit "Am Abend vor dem Meer" setzt Khaled Hosseini den Flüchtlingsfamilien ein Denkmal. In ebenso einfacher wie poetischer Frage gibt es Antwort auf die Frage: Warum kommen diese Menschen?

Inspiriert für «Am Abend vor dem Meer» wurde Hosseini vom Schicksal des dreijährigen Alan Kurdis aus Syrien, der vor drei Jahren im Mittelmeer ertrank. Das Bild des toten Kindes am Strand ging damals um die Welt.

Schon die Farben der Bilder zeigen die Zäsur, die der Krieg nach Syrien gebracht hat. Das Davor: Bunt, Grün, farbenfroh, ein üppiges orientalisches Leben. In düsteren Grautönen dann die Bilder vom Krieg, von Luftangriffen, von Menschen unter Trümmern. Und auch das Meer, das den Ausweg bieten soll in eine sichere Zukunft, wirkt bedrohlich, das Blau mit Schwarz gemischt wie eine tödliche Gefahr.

Denn auch heute noch ist der Text, der den Tausenden von Flüchtlingen gewidmet ist, «die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung im Meer ertrunken sind» und denen Alan Kurdis vor drei Jahren ein Gesicht gegeben hat, von beklemmender Aktualität.

In dem Text wendet sich ein Vaters an seinen kleinen Sohn, beschwört die Erinnerung an die heilere Vergangenheit hervor, in der die syrische Stadt Homs blühte, als die Familie bei Verwandten auf dem Land unter Olivenbäumen ruhen konnte.

Die Welt, die der kleine Marwan kennt, ist nur die des Krieges. Der Abend vor der Überfahrt über das Meer mit den beruhigenden Worten des Vaters gerät zum Höhepunkt von Hoffnung und Verzweiflung: «Denn heute Macht kann ich nur daran denken, wie tief das Meer ist, wie riesig, wie teilnahmslos. Und dass ich dich nicht davor beschützen kann.»

Hört das Meer das Gebet des Vaters? Das «Inshallah» des Vaters ist auch Ausdruck einer Erkenntnis, an einem Punkt zu stehen, wo er nichts mehr ändern kann. Er kann nur hoffen, dass die kostbarste Fracht auf den Wellen, sein Kind, sicher und heil das rettende Ufer auf der anderen Seite des Meeres erreicht.

Die Einnahmen des Autors aus dem Verkauf des Buches, heißt es im Klappentext, gehen an das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, zu dessen Sonderbotschaftern der einst aus Afghanistan geflohene Hosseini gehört sowie an Hosseinis eigene Stiftung.

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Veröffentlicht am 09.08.2020

Thriller zwischen bleierner Zeit und DDR-Abwichklung

Die letzte Terroristin
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Mit dem Politthriller „die letzte Terroristin hat André Georgi einen spannenden Politthriller geschrieben, der gleichermaßen Erinnerungen an den blutigen „deutschen Herbst“ und die Zeit nach dem Zusammenbruch ...

Mit dem Politthriller „die letzte Terroristin hat André Georgi einen spannenden Politthriller geschrieben, der gleichermaßen Erinnerungen an den blutigen „deutschen Herbst“ und die Zeit nach dem Zusammenbruch der DDR geschrieben.

Wie weit würdest Du für Deine Überzeugungen gehen, welchen Preis für Deine Ideale bezahlen? Das ist die Frage, die sich die Hauptfigur des Psychothrillers "Die letzte Terroristin" stellen muss - und die Antwort findet sie letztlich viel zu spät. Schon der Start des Buches ist rasant: Ein Kommando der letzten Generation der RAF arbeitet sich durch seine Kill-Liste, ein unter Druck geratener Ermittler des Bundeskriminalamts soll weitere Anschläge verhindern. Greift das seit Jahren gepflegte Programm der V-Männer, hat er es geschafft, den streng abgeschotteten Kreis der RAF-Unterstützerszene zu durchbrechen und einen Kontaktmann einzuschleusen? Kurz kommt Hoffnung auf, den Terroristen doch noch voraus zu sein, bis ein neues Attentat das BKA nur weiter unter Druck setzt.

Es gibt viele Grautöne in diesem Buch, kein reines Schwarz-Weiß-Schema. Terroristen wie Polizisten sind Jäger und Gejagte zugleich, denn das BKA steht unter dem Druck von Öffentlichkeit und Politik. Was macht dieser Druck mit den Beamten, was macht das jahrelange Versteckspiel, das Leben in der Anonymität, mit den in den Untergrund gegangenen RAF-Mitgliedern?

Seit den 70-er Jahren sind zwei neue RAF-Generationen in den politischen Kampf gegangen, nunmehr nicht aus der Stadtguerilla und beflügelt vom revolutionärem Kampf in Lateinamerika oder Afrika, sondern geschult von Stasi-Ausbildern, die lange ihre eigene Agenda verfolgt haben, nun aber im wiedervereinigten Deutschland vor allem auch an die eigene Zukunft denken müssen. Da werfen die Terroristen, die einst im Ausbildungslager so sorgfältig mit Nato-Waffen geschult werden, einen langen und ungewollten Schatten.

Die RAF-Teams, die jedes Zaudern als Verrat ansehen und alle Brücken hinter sich verbrannt haben, glauben sich wiederum an einem historischen Wendepunkt: Im Osten Deutschlands brodelt es, Zehntausende fürchten um ihre Arbeitsplätze, ihre ganze Existenz, während die einstigen volkseigenen Betriebe abgewickelt werden.

Manchem Investor geht es nicht um „blühende Landschaften“ in Bitterfeld und anderswo, sondern darum, potenzielle Konkurrenz von Anfang an zu zerschlagen. Kein Aufbau Ost, sondern brutales Ausschlachten und Kleinhalten. Ist das der Moment, wo sich die RAF mit Anschlägen auf verhasste Manager an die Spitze einer Volksrevolte stellen könnte?

Immer wieder wechselt Georgi in seinem Thriller die Erzählperspektive, schildert die Sicht der RAF-Leute und der Ermittler, zeigt auch den Preis, den sie in diesem jahrelangen, erbitterten Kampf führen. Privatleben ist ein Luxus, das sich die BKA-Ermittler nicht mehr leisten können, die Terroristen haben das mit der Entscheidung für den Untergrund ohnehin für sich verabschiedet.

Doch was ist mit den Familien, die zurück bleiben und aus allen Wolken fallen, wenn ein Familienmitglied, jemand mit dem gleichen Nachnamen, plötzlich mit dem Fahndungsaufruf des BKA landesweit auf den Bildschirmen erscheint? Wenn Nachbarn, Kollegen, Mitschüler die Angehörigen in Kollektivverantwortung nehmen und sie letztlich den Preis zahlen müssen. Aber auch für die Familien der Anschlagsopfer, zeigt Georgi mit einem Blick in deren Zukunft, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Eine Kugel oder eine Bombe kann gleich mehrere Menschenleben zerstören.

Spannend wäre «Die letzte Terroristin» schon allein wegen des Katz und Maus-Spiels – Die Ermittler jagen die Terroristen, die wiederum ihren letzten Anschlag umsetzen wollen. Doch daneben geht es eben auch um die Jagd in den Köpfen der Beteiligten, die immer mehr zu Getriebenen werden. Druck und Angst, Zweifel und Hoffnung, Besessenheit und Enttäuschungen – als Sieger kann sich hier keiner fühlen. Das Klima von Verdächtigungen und Misstrauen, Skrupeln und Berechnungen wird eindrücklich gezeichnet. Eine beklemmende und intensive Lektüre.

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