Vielfältige Familiengeschichte
Hannah und LudwigMit "Hannah und Ludwig" erzählt Rafael Seligmann die Geschichte seiner Eltern und ihrer Familien in der Zeit von 1934 bis 1957 und beleuchtet damit das Leben der nach Palästina eingewanderten Juden und ...
Mit "Hannah und Ludwig" erzählt Rafael Seligmann die Geschichte seiner Eltern und ihrer Familien in der Zeit von 1934 bis 1957 und beleuchtet damit das Leben der nach Palästina eingewanderten Juden und die Aufbruchsstimmung in einem Teil der Erde, der in die Weltpolitik so eingebunden wurde, daß er erst einmal zu sich selbst finden mußte. Da ich über diese Zeit in Palästina/Israel bisher nicht viel wußte, war ich angetan von der Fülle an Wissen, die dieses Buch enthält.
Schon der erste Eindruck ist ansprechend, ein ausgesprochen passendes Titelbild, das die Ankunft von Einwanderern in Palästina zeigt, auch haptisch hochwertig gestaltet (das Korrektorat/Lektorat hätte sich daran ein Beispiel nehmen können, wobei hier immerhin ein wenig sorgfältiger gearbeitet wurde als beim letzten Buch, das ich von diesem Verlag las). Erfreulich ist auch ein Glossar, auch wenn ich ein paar Begriffe dort vergeblich suchte. Ganz am Ende finden sich einige Familienfotos, ebenfalls sehr erfreulich.
Der Autor beginnt mit der Ankunft der Brüder Ludwig und Heinrich und berichtet uns das Geschehen mit Ludwig als Ich-Erzähler. Ludwig Seligmann ist Rafaels Vater und ich fand das Vorgehen, sich durch die Erzählperspektive gewissermaßen in dessen Haut zu begeben, sehr ungewöhnlich und mutig. An manchen Stellen scheint es, als ob der Autor vor zu viel innerer Nähe zurückschreckt, gerade Ludwigs erste Beziehungen sind seltsam distanziert geschildert und wirken teils fast nicht zur Geschichte gehörig. Auch ist Ludwigs Verhaltensweise vereinzelt nicht nachvollziehbar, weil der Ich-Erzähler hier seine Gedanken nur vage anschneidet. Im Allgemeinen aber funktioniert die Erzählperspektive gut, denn so erleben wir diese erste Zeit in Israel durch Ludwigs Augen und können wirklich in das Geschehen eintauchen. Die Sprache ist durchgehend ausgezeichnet und gerade im ersten Drittel zeichnet sie sich durch farbige Beschreibungen aus, die mit wenigen Worten ganze Bilder heraufbeschwören können. Das gelegentliche Einbeziehen von Dialogen mit jiddischen Anklängen oder Dialekten aus den jeweiligen Heimatregionen trug sehr zur Farbigkeit bei. Ich hatte beim Lesen wirklich das Gefühl, dabei zu sein. Dieses Farbigsein nimmt allmählich etwas ab, dafür geht der Autor im zweiten Teil viel tiefer in die Gefühlswelt der Personen.
Inhaltlich war gerade der erste Teil für mich faszinierend, in dem wir Ludwig und Heinrich bei ihren ersten Schritten in der neuen Heimat begleiten. Die Brüder gehen sehr unterschiedlich mit ihrer Situation um und das las sich spannend und gab viele Einblicke in die Lage der deutschen Juden in Palästina, die ihr Heimatland vermissten, sich mit der gänzlich anderen Kultur nicht immer anfreunden konnten und gleichzeitig in dem schmerzlichen Bewusstsein leben mußten, daß ihr Heimatland sie nicht mehr wollte. Oft kommt dazu noch die Angst um in der alten Heimat zurückgebliebene Verwandte. Heinrich leidet unter dem Verlust seiner Heimat sehr und richtet sich in Palästina in einem Provisorium ein, das zu einem andauernden Zustand wird. Leider verschwindet er nach dem ersten Drittel des Buches fast völlig aus der Geschichte und taucht nur noch in gelegentlichen Einschüben auf. Nachdem er uns so intensiv vorgestellt wurde, fand ich es schade, daß wir über seine Gedanken dann so gut wie nichts mehr erfahren.
Der zweite Weltkrieg wird überraschend schnell abgehandelt und auch hier fehlten mir oft Informationen dazu, wie die Familienangehörigen manche Dinge erlebten, was sie über die Geschehnisse dachten. Die historischen Hintergrundinformationen werden oft nicht eingebunden, sondern textbuchartig erzählt. Das geht manchmal nicht anders, aber ich dachte oft "Ja, gut, aber wie empfand die Familie dies?" Im letzten Drittel, nach der Gründung Israels, werden die textbuchartigen Einschübe länger und lasen sich in dieser Häufigkeit für mich oft ein wenig trocken. Bei einigen jüdischen Traditionen (z.B. dem Mikwebesuch der Braut) wären dagegen ein paar erklärende Hintergrundsätze sehr willkommen gewesen.
Als Ludwig Hannah, seine spätere Frau, kennenlernt, kommt diese als zweite Ich-Erzählerin dazu, so daß die Erzählperspektiven wechseln. Diese Wechsel werden lediglich durch drei Leerzeilen angezeigt, die ich im Lesefluß auch nicht immer so deutlich wahrgenommen habe, so daß ich oft anfänglich verwirrt war, wenn sich die Erzählperspektive änderte. Als nachher noch Rafaels Erzählperspektive dazukommt und zwischen drei Ich-Erzählerin gewechselt wird, wird es gelegentlich noch ein wenig verwirrender. Hier wäre es ausgesprochen hilfreich gewesen, einfach kurz "Hannah","Ludwig" oder "Rafael" davorzusetzen. Dies hätte den Fluß nicht unterbrochen und wäre erheblich leserfreundlicher gewesen. Sinnvoll sind diese wechselnden Perspektiven nämlich durchaus, da sie gerade in der Beziehung zwischen Ludwig und Hannah verschiedene Gesichtspunkte beleuchten.
Da der Autor sowohl Ludwigs wie auch Hannahs Familie einbindet, erfahren wir eine Vielzahl von Schicksalen und bekommen so ein vielfältiges Bild der Erfahrungen, die ausgewanderte Juden in jener Zeit machten. Das fand ich sehr anschaulich, wenn auch mancher viel zu kurz kommt und einige Dinge unklar bleiben. Es entfaltet sich ein gut geschildertes Panorama jener Zeit und jener Gegend. So ist "Hannah und Ludwig" ein Buch, das in gelungener Sprache viele Informationen vermittelt und uns am Schicksal zahlreicher Menschen teilhaben läßt.