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Veröffentlicht am 15.08.2020

Das Regenorchester

Das Regenorchester
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Der Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib hat mich auch in seinem zweiten Roman, den ich bisher gelesen habe, durch seine Erzählkunst überzeugen können: Nach "Der Glückliche" war es nun "Das Regenorchester"....

Auch ...

Der Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib hat mich auch in seinem zweiten Roman, den ich bisher gelesen habe, durch seine Erzählkunst überzeugen können: Nach "Der Glückliche" war es nun "Das Regenorchester"....

Auch im Roman wandert ein Schweizer Schriftsteller mit seiner Frau und dem Papagei Vian nach Irland aus; sie verbringen einige glückliche Jahre miteinander in ihrem Haus - bis es zu Auseinandersetzungen und zur endgültigen Trennung kommt. Während Vian nur in Schwitzerdütsch "Bern isch schö" kräht, geht es unserem Protagonisten alles andere als gut. Er schließt sich einer Gruppe verlassener Männer an, die von einem Coach ein "Wieder-Stabilisierungsseminar" oder wie immer man dies nennen möchte, in einer Wald- , Feld- und Wiesenaktion "draußen" ihren Schmerzen des Verlassenworden seins, ihrer Gefühlswelt (gegen cash, versteht sich) nun freien Lauf lassen.
Diesen Abschnitt des Romans habe ich sehr genossen, da er sehr reale Männergefühle widerspiegelt und in komischer Weise zum Ausdruck bringt (z.B. stellt jemand von den 9 Männern fest, dass er gar nicht wütend ist, sondern nur traurig: Dennoch verlangt der Coach von allen, dass sie mit dem Prügel, den sich jeder suchen musste und der "genau in die Hand passt" mit Vehemenz auf die Lichtung im Walde einprügeln....

Als "Sean", der eingewanderte Schweizer, in Donegal eine Frau kennenlernt, merkt diese sofort, welchen Schmerz er mit sich trägt: Sie ist sehr krank und will ihm - der ja Autor ist - gerne ihre Geschichte erzählen. So kommt es, dass sich Niamh und "Sean", wie sie ihn nennt, mit einem Diktiergerät treffen und wir in das Leben von Niamh, das sie fortan in Sequenzen erzählt, eintauchen, daran teilhaben:

Die Geschichte Niamhs, in einer einfachen, armen Familie mit 8 Kindern aufgewachsen, erinnert an das Irland der 50er und 60er Jahre: Durch die hohe Arbeitslosigkeit mussten viele Iren und Irinnen nach England auswandern, um Geld zu verdienen. So auch einige Geschwister Niamhs und sie selbst auch eines Tages. Höhepunkte ihrer Kindheit und Jugend waren die Besuche von Familie Friedrich aus Köln, die jeden Sommer im Nachbarcottage verbringen, Niamh später Frau Friedrich hilft und sich sehr eng mit deren Tochter, Nella, anfreundet. Diese Freundschaft soll später dazu führen, dass Niamh viele Jahre in Köln lebt, bevor sie - viel älter geworden - nach Irland zurückkehrt.

Der Roman ist geprägt vom Leben Sean's, der versucht, sich aus seinem Schmerz zu befreien und wieder "von vorne anzufangen" und der Lebensgeschichte von Niamh, von der ich an dieser Stelle nicht mehr verraten möchte: Ein beeindruckender Roman über Liebe, Trennung, Schmerz und Verlassenwerden sowie Krankheit und Tod: Aber auch von Mitmenschlichkeit, Freundschaft und Empathie sowie vom Loslassen und vom Neubeginn. Der Erzählstil des Autors gefällt mir sehr; er ist schnörkellos, atmosphärisch und lässt genügend Raum für eigene Gedanken und Gefühle. Besonders gerne habe ich am Leben von Niamh teilgenommen, die hier exemplarisch für viele Irinnen ihrer Generation (*1940) stehen könnte. Der Autor lebte selbst zwischen 1996 und 2016 im County Donegal/Irland.

Ich empfand "Das Regenorchester" als sehr lesenswert und empfehle "es" gerne weiter!

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Veröffentlicht am 04.08.2020

Gustav Mahler's letzte Reise....

Der letzte Satz
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Ein alter, schwerstkranker Mann ist auf der Fahrt mit dem Dampfer "Amerika" zurück nach Europa: Es handelt sich um Gustav Mahler, Musiker, Komponist und weltberühmter Dirigent (1860 - 1911), in seinem ...

Ein alter, schwerstkranker Mann ist auf der Fahrt mit dem Dampfer "Amerika" zurück nach Europa: Es handelt sich um Gustav Mahler, Musiker, Komponist und weltberühmter Dirigent (1860 - 1911), in seinem letzten Lebensjahr also begegnen wir nicht nur dem Musiker, sondern auch dem Menschen Mahler in einer biografischen Skizze (das Büchlein umfasst 126 Seiten), die doch viel mehr als eine skizzierte Persönlichkeit ist: Robert Seethaler (1966 in Wien) hat mit den Gedanken Mahlers in seinem neuen Buch "Der letzte Satz" (erschienenen bei Hanser, HC, gebunden, 2020) dem Leser eine Möglichkeit gegeben, in dessen (etwas kapriziöse) Persönlichkeit einzutauchen - und auch seine Musik kennenzulernen, so dies noch nicht geschehen ist:

Gut umsorgt wird Mahler von einem Schiffsjungen, der ebenfalls eine wichtige Figur im Roman darstellt und in den Dialogen viel Tiefgang zu finden ist: Er sollte auch am Ende des Buches eine Rolle spielen...

Mahler sinnt auf dem Sonnendeck (er fröstelt ständig, fiebert, war bereits krank, als er sein letztes Konzert in New York gab)über die Momente der Schönheit - und auch des Bedauerns in seinem Leben, an denen er den Leser teilhaben lässt: Da sind in jeweiligen Rückblicken sein Werdegang, die Hochzeit mit Alma, der damals schönsten Frau in Wien, die jedoch sehr viel jünger ist als er; die beiden Töchter Anna und Maria, der Tod Marias, über den er nie hinwegkam und seine Arbeit: Er liebt Vögel und kennt alle mit Namen, wenn nicht, gibt er ihnen eine - dieser Passus gefiel mir sehr und lässt auch die große Fantasie Mahlers, die auch in seinen Werken steckt, offenkundig werden. Er liebt die Musik, er liebt seine Arbeit, seine "Komponierhäuschen", in denen er in völliger Stille und Abgeschiedenheit komponieren kann; seine Frau und seine Töchter. Alma ist ihm ein Anker in seinem Leben und als es zur Ehekrise kommt, steht für Gustav Mahler die härteste Zeit an: Als Kind hat er einige Geschwister früh verloren; besonders der Tod seines etwas ältereren Bruders mit nur 15 Jahren ließ ihn früh spüren, wie schmerzhaft ein derartiger Verlust ist. Zeitlebens nicht gesund, hat er sich von seiner Krankheit niemals besiegen lassen; es erscheint eher, dass er in allem hart zu sich selbst war - aber auch ein Perfektionist, was die Auswahl der Chormitglieder betraf. Er staunt, als er seine Zeit als Hofdirektor der Wiener Oper nochmals auferstehen lässt:

"Man schlägt einen Ton an, und der schwingt dann weiter im Raum. Und trägt doch schon das Ende in sich". (Zitat S. 33)

Mahler liebte die Abgeschiedenheit, die Stille, die ihm Raum für seine Arbeit gab; Großstädte wie z.B. "das überzuckerte Paris" waren ihm zuwider: Wenn man bedenkt, welch feines Gehör er haben musste, kann man dies sehr gut verstehen. Fasziniert hat mich auch seine Liebe zu seinem Pult, hinter dem er sich "sicher und geborgen" fühlte:

"Es steckten die Wut und die Freude eines ganzen Lebens in ihm".
(Zitat S. 60)

Der etwas melancholische Grundton des Romans, dessen Sätze so glasklar wie aufsteigende Sektperlen an die Oberfläche dringen, passt sehr gut zum Befinden Mahlers und stilistisch schnörkellos, dabei sehr atmosphärisch, gelingt es Seethaler, sich ein Bild von Gustav Mahler zu machen, das vielschichtiger und tiefsinniger ist als der Romantext. Auch stellt er Positives, die Freude, die Mahler in Gedanken hat, wenn er an seine Arbeit denkt. dar (auch an Bord schreibt er noch 3 Stunden an einem neuen Werk), die ihm jedoch, wie er jetzt, am Lebensende angekommen, alles abverlangte. Ob er sich selbst zeitlebens zuviel abverlangt hat? Er verließ sich stets auf sein Gehör - und seinen Fleiß; die körperlichen Schmerzen suchte er oft, zu ignorieren.

In so manchen Sätzen ist man als Leser sehr berührt über die Lebendigkeit, das Aufseufzen, den Lebenswillen des schwerkranken Dirigenten, der das nahende Ende fühlt. Auch eine gewisse Demut vor dem Leben ist durchaus spürbar, die sich in Mahlers Emotionen äußert. So wünscht er sich, einmal "fliegende Fische" zu sehen - und verpasst dieses Erlebnis am Ende nur knapp. (So schön es übrigens aussieht, so tragisch ist dies auch, wer sich mit diesem Phänomen beschäftigen möge, wird wissen, was ich meine). In gewisser Weise personifizieren die Fische für mich hier ein Ende - und auch einen Aufbruch.

Auch die letzten Seiten deuten mit den Gedanken des früheren Schiffsjungen, der von Gustav Mahlers Tod erfährt, darauf hin: Alles beginnt. Und alles endet.
Ein berührender, stellenweise ergreifender Roman, den ich sehr gerne gelesen habe. Robert Seethaler ist es auf wenigen Seiten gelungen, "tief eintauchen zu können" in eine starke Persönlichkeit, die die Opernwelt als Reformer bis heute prägt und dem Leser für eigene Gedanken viel Raum zu lassen. 4,5
und Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 06.04.2020

Beeindruckender Roman um starke Frauen - und über Solidarität!

Das Haus der Frauen
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Laetitia Colombani hat mit ihrem Roman "Das Haus der Frauen" (Originaltitel "Les victorieuses") einen wundervollen und sehr lesenswerten Roman geschrieben, in dem sie die Leben zweier Frauen miteinander ...

Laetitia Colombani hat mit ihrem Roman "Das Haus der Frauen" (Originaltitel "Les victorieuses") einen wundervollen und sehr lesenswerten Roman geschrieben, in dem sie die Leben zweier Frauen miteinander literarisch verwoben hat und zum einen Blanche Peyron, die ihr Leben der Heilsarmee widmete und einen der höchsten Ränge in dieser Organisation gemeinsam mit ihrem Mann Albin ein literarisches Denkmal setzt und - einhundert Jahre später - eine Frau der Gegenwart, Solène, in Szene setzt, die stellvertretend für viele Frauen unserer Zeit stehen könnte....

Paris, Gegenwart:

Solène, eine erfolgreiche und brillante Staranwältin in den Dreißigern, wird jäh aus ihrem bisherigen Leben gerissen, als ein Mandant Suizid begeht: Sie fühlt sich schuldig und gerät in ein 'burn-out', das ein berufliches Weitermachen vereitelt. Ihr Psychiater rät ihr, sich selbst aus dem Fokus zu nehmen und anderen zu helfen, um aus der Abwärtsspirale der Depression herauszufinden. Nach längerer Zeit der Leere sieht sich Solène nach einer solchen Aufgabe um und wird fündig: Sie will sich als "öffentliche Schreiberin" in einem Haus der Frauen in Paris bewerben, da sie mit Wörtern stets gut umzugehen weiß. Nach zögerlichen ersten Stunden merkt sie, dass die Frauen langsam Vertrauen fassen und sich an sie wenden: Als Leser lernt man einige Frauen und ihre tragischen und auch oft traurigen Hintergründe kennen, weshalb sie im Haus der Frauen ein Dach über dem Kopf suchen: Da ist die Mutter aus Guinea, die den Sohn verlassen muss, um die Tochter vor einer Verstümmelung zu retten; die "Strickerin", die fleißig nadelt, aber meist kein Wort sagt, da sind die "Tatas", die viel Leben und Kinderwägen ins Haus bringen, was Cynthia, der stets Genervten und zuweilen Hochaggressiven, ein Dorn im Auge ist.... Sehr viel Sozialkritik sickert durch die Zeilen, die mehr als berechtigt sind, da noch heute alleinstehende Frauen mit Kindern zu den sozial Benachteiligten gehören und den größten Teil der Hilfesuchenden und Mittellosen Menschen in unserer Gesellschaft sind.

Berührend die Geschichten, die hinter diesen Frauen stehen und Solène selbstkritisch werden lassen, sie mit der Zeit - trotz aller Zweifel - zum Positiven verändern: Solène nimmt wieder am Leben teil, wozu ihr die Stelle der Schreiberin im Haus der Frauen sehr hilft: Am Ende dieses sehr atmosphärischen und feingezeichneten Romans hat Solène erstmals in ihrem Leben das Gefühl, "an der richtigen Stelle zu sein". Sie kommt gar ihrem Traum näher, ein Buch zu schreiben und sortiert nach und nach ihr altes, behütetes Leben aus.

Paris 1925:

Blanche Peyron, Ende fünfzig, lungenkrank, Tochter eines französischen Pfarrers und einer schottischen Mutter, lernt in ihrer Jugend die Tochter von William Booth, der Heilsarmee in Schottland kennen und ist von deren Arbeit sehr beeindruckt: Fortan will sie ihr Leben den Aufgaben der Heilsarmee widmen, die sich für die Schwächsten und Ärmsten der Gesellschaft einsetzen. Sie lässt sich ausbilden und entwickelt ein starkes Mitgefühl für andere, die Schlimmes durchmachen. Ihre Hilfsbereitschaft grenzt an Selbstlosigkeit und sie stellt ihre Aufgaben, zu helfen, sogar vor ihre Gesundheit. Auch ein gewisser Sinn für Abenteuer macht ihre Persönlichkeit aus - vor allem aber eine Unerschrockenheit und eine Courage, die ihresgleichen sucht: Obwohl sie eigentlich nicht heiraten will, erkennt sie in Albin einen Seelenverwandten. Ihr Mann unterstützt sie auch in ihrer Arbeit zeitlebens und gemeinsam erreichen sie mit den Jahren viel: Sie schrecken auch nicht davor zurück, Mittel für ein großes Haus aufzutreiben, das alleinstehenden Frauen ein Dach über dem Kopf bieten würde; eine Möglichkeit für die von der Gesellschaft ins Abseits gedrängten Frauen "ihre Wunden heilen zu können, um wieder zu Kräften zu kommen".

Das Ehepaar erreicht sein Ziel durch große Anstrengungen, Geldgeber zu finden und die ersten Frauen können einziehen: Das Haus hat ca. 750 Zimmer! Der Autorin gelingt es sehr gut, sowohl Solène und ihre positive Veränderung durch ihre Arbeit und Solidarität mit den Frauen und ihren Anliegen als auch - im Wechsel der Romankapitel - Blanche Peyron Farbe und Leben einzuhauchen; mehr noch, Sozialkritik zu üben, wo sie leider heute noch Realität ist und gleichzeitig leidenschaftliche Charaktere darzustellen, dem Leser näherzubringen, was durch SOLIDARITÄT - das Hauptthema des Romans für mich - erreicht werden kann! Besonders Blanche Peyron, vor deren Energie und Willenskraft trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit man sich nur verneigen kann, wird hier zurecht ein literarisches Denkmal gesetzt, das gerade jetzt - in Pandemiezeiten - an das menschliche Miteinander und an Solidarität gemahnt.

Ich gebe diesem wundervollen Roman aus den genannten Gründen heraus die volle Punktezahl sowie eine absolute Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 23.01.2020

Das Blumenwasser wechseln

Unter den hundertjährigen Linden
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Die französische Originalausgabe dieses sehr berührenden Romans von Valérie Perrin (Fotografin und Drehbuchautorin; Lebensgefährtin des bekannten französischen Regisseurs Claude Lelouch) lautet: "Changer ...

Die französische Originalausgabe dieses sehr berührenden Romans von Valérie Perrin (Fotografin und Drehbuchautorin; Lebensgefährtin des bekannten französischen Regisseurs Claude Lelouch) lautet: "Changer l'eau des fleurs" - also "Das Blumenwasser wechseln" - für mich noch passender als der deutsche Titel!
Aus dem Französischen übersetzt wurde der Roman von Katja Hald und Elsbeth Ranke; er erschien (HC, gebunden) 2019 bei Droemer-Knaur.

Bourgogne, Frankreich, Brancion-en-Chalon:

Violette Toussaint, vormals Trenet, übernimmt mit ihrem Mann Philippe die Stelle als Friedhofswärterin, da Sasha, der diese Aufgabe mit viel Leidenschaft fürs Gärtnern übernommen hatte, nach Eintritt ins Rentenalter den Entschluss gefasst hat, durch die Welt zu reisen und alte Freunde zu besuchen...

In Rückblenden lernt man die beiden Hauptprotagonisten, Violette und Philippe kennen und erfährt in verschiedenen zeitlichen Sequenzen immer mehr von ihnen: Während Violette einen schweren Start ins Leben hatte; ihre Kindheit bei Pflegeeltern verbrachte und selten das Gefühl hatte, wirklich "dazuzugehören", wächst Philippe als Einzelkind von Eltern auf, die nicht eben perfekt sind und dem Jungen eher mit auf den Weg geben, dass er niemandem trauen solle und stets an sich selbst zu denken habe; der Vater kann sich der sehr dominanten Mutter gegenüber nicht behaupten und von der Heirat mit der "sehr einfachen" Violette ist besonders die Mutter von Philippe alles andere als begeistert - schlimmer noch, sie ignoriert ihre Schwiegertochter, die fortan einfach "übersehen" wird.

Philippe, der niemals wirklich etwas leisten musste, hatte zuvor mit Violette einen Job als Schrankenwärter inne, wobei es stets Violette ist, die die Schranken der vorüberfahrenden Züge öffnet bzw. schließt. Die Familie vergrößert sich und Violette, die nun wieder lernen will und sich John Irving's Roman "Gottes Werk und Teufels Beitrag" kauft, versucht mit Erfolg, ihre Lesekompetenz zu verbessern. Sie hat eine grundsätzlich versöhnliche Einstellung zum Leben und im Gegensatz zu Philippe fühlt sie sich weder einsam noch ist ihr langweilig: Sie hat viele Interessen - und Fantasie, während Philippe sie immer mehr alleine lässt, Touren mit seinem Motorrad unternimmt und sie betrügt. Dies berührt Violette nicht wirklich - jedoch geschieht eines Tages ein Unglück, das ihr Leben - und auch das von Philippe von grundauf ändert: Ein schwerer Verlust, dessen Schmerz der Leser nur erahnen kann, wird Violette einige Zeit lähmen, bis sie wieder zu neuer Kraft finden wird...

In dieser Zeit lernen wir den weiteren Protagonisten kennen; Julien Seul - ein Kommissar aus Bordeaux, erscheint auf dem Friedhof (auch diesen Job meistert Violette alleine; ihr Mann Philipp fuhr immer länger weg, bis er eines Tages gar nicht mehr wiederkam), da er das Grab von Gabriel Prudent sucht. Einem Mann, der seiner Mutter einen Platz in der Ewigkeit garantierte und von dem Julien bis dato nichts wusste. Die Asche der verstorbenen Mutter, Irène Fayolle, soll im Grab von Monsieur Prudent beigesetzt werden, so wie es notariell besprochen war. In Tagebüchern, die Julien findet und die er - sich sogleich angezogen fühlend von der freundlichen und attraktiven Friedhofswärterin Violette - ihr später ausleiht, kommt eine tragische Liebesgeschichte zweier Menschen zutage, die sich wünschten, nach ihrem Tod in aller Ewigkeit vereint zu sein. Wird es Julien und Violette gelingen, zueinander zu finden?

Die Themen dieses Romans sind sehr vielschichtig; die Lebenswege der Hauptprotagonisten sind sehr gut nachvollziehbar erzählt; es geht um Tragik, Liebe, Verlust, Schmerz, aber auch Lebensfreude und (wiedergewonnener) Lebensmut, der aus regenerierter Lebenskraft erwachsen kann. Es geht um die kleinen Dinge, die glücklich machen (können), um Pflanzen und das Gärtnern; auch vor allem darum, dass sich das Leben jeden Tag ändern kann und vor Verlust und Schmerz niemand gefeit ist. Aber vor allem geht es darum, dass man wieder aufstehen sollte, wenn das Schicksal hart an der Türe klopft. Dass Leben und Tod nahe beieinander liegen und gerade in kleinen Dingen wie Blumen, das Gärtnern, das Säen, die Pflege und das Aufkeimen von Pflanzen ein Reigen des Lebens ist, dem der Mensch viel Positives entnehmen kann: Er kann seinen eigenen Garten gestalten; so wie Violette sehr leidenschaftlich ihre Aufgaben auf "ihrem" Friedhof wahrnimmt: Ihre Zeit den Pflanzen auf dem schönen Friedhof widmet, der vier "Bezirke" hat: das Lorbeer-, Pfaffenhütchen-, Zedern- und Eibenviertel.

So entwickelt sie auch die richtige Nähe und auch Distanz zu all den Trauernden, die ihr vertrauensvoll in ihrem "Wartezimmer" ihr Herz ausschütten; ist eine empathische Seelentrösterin, was auch Julien sofort bemerkt. Das Aussagekräftigste an diesem sehr sensibel geschriebenen, stellenweise poetischen Roman ist für mich die Tatsache, dass die Liebe letztendlich stärker ist als der Tod: Sie überlebt ihn!

Die Figurenzeichnung ist sehr authentisch; durch die Rückblenden lernt der Leser Reaktionen der Protagonisten zu verstehen und eine sehr starke Violette Toussaint kennen, deren Charakter wirklich fesselt und beeindruckt. Während Philippe über lange Strecken wenig "punkten" kann, lernt man auch ihn am Ende von einer anderen, unbekannten Seite kennen. Einige liebenswerte Nebenfiguren wie Célia und vor allem Sasha, der Violette auf seine - fast schon therapeutische Weise - ins Leben zurückführt und sie durch ihn die Stelle als Friedhofswärterin bekommt, mochte ich auch sehr gerne. Die Gräfin, La Comtesse de Darrieux, die Violette die Geschichte ihrer großen Liebe erzählt (am Tag, als diese beigesetzt wird), bringt den Leser ebenfalls zum Schmunzeln: Auch in dieser Rolle spielt die Liebe einen ebenso wichtigen Part wie der Tod, der wiederum nur durch Liebe zu überwinden ist. Was mich an ein altes spanisches Sprichwort erinnert, das ich nie vergessen habe:

"Jedes Mal, wenn sich in deinem Leben ein Loch auftut, fülle es mit Liebe!" Dies könnte der Tenor dieses teils melancholischen, teils tragischen, aber auch sehr poetischen und vor allem lebensbejahenden Romans von Valérie Perrin sein! Mir hat er sehr gut gefallen und ich kann diesen berührenden und zu Herzen gehenden Roman besonders jenen Menschen empfehlen, die vielleicht in letzter Zeit einen schmerzhaften Verlust - im Freundes- oder Familienkreis - durchleben mussten. Aber auch allen anderen sensiblen LeserInnen sei er sehr gerne weiterempohlen!

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Veröffentlicht am 03.01.2020

Ebbe, Blut und edle Austern - Luc Verlain's 3. Fall

Winteraustern
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In "Winteraustern" von Alexander Oetker löst Luc Verlain seinen dritten Fall, der dieses Mal mit der Austernfischerei im Bassin von Arcachon, der Acquitaine im Südwesten Frankreichs zu tun hat. Verlegt ...

In "Winteraustern" von Alexander Oetker löst Luc Verlain seinen dritten Fall, der dieses Mal mit der Austernfischerei im Bassin von Arcachon, der Acquitaine im Südwesten Frankreichs zu tun hat. Verlegt wurde der spannende Krimi aus dem benachbarten Frankreich bei Hoffmann und Campe (TB, broschiert, 2019).

Ich habe mich sehr auf den neuen Fall von Luc Verlain gefreut, da ich beide Vorgänger mit Interesse und oftmals einem Schmunzeln auf den Lippen gelesen habe - und wurde auch hier nicht enttäuscht:

In der Vorweihnachtszeit herrscht bei den Austernfischern in der Acquitaine Hochkonjunktur, da die Franzosen Weihnachten mit Austern essen gleichstellen (was ich auch nicht wusste). Der Verkauf zu dieser Zeit in ganz Frankreich ist maßgeblich für das Überleben der einzelnen Austernfischer, deren Existenz nur dann gesichert ist, wenn sie viele Austernbänke besitzen - wie Bertrand Chevalier - der unumstritten "der Hai unter den Fischen" ist und alle kleineren Bänke aufkauft, die für die Besitzer nicht mehr rentabel sind. Luc und sein alter, todkranker Vater wollen eine Tour durchs Bassin unternehmen, die damit endet, dass ein kleiner Austernfischer, Monsieur Lascasse, hinterrücks überfallen wird und gerade noch einen Notruf an die Küstenwache (die auch die Austern bewacht) abgeben kann, bevor die Flut ihm den Tod durch Ertrinken beschert. Doch es sollte noch schlimmer kommen; unweit der Stelle, an der Lascasse ins Boot gehievt wird, entdeckt Luc zwei Männer, die auf einer Sandbank wie an einem Totempfahl angebunden sind - und wie sich herausstellt, nicht mehr am Leben sind. Wer hat Pierre Lascasse überfallen und zwei junge Männer, die angesehenen Austernfischerfamilien angehören, getötet?

Dieser spannenden Frage widmet sich Luc mit seiner Partnerin Anouk wie auch dem Kollegen Etxeberria und der Leser lernt Licht und Schatten bei der Austernfischerei zu unterscheiden: Es ist sehr viel Arbeit und dauert einige Jahre, bis eine Austernzucht für den Verzehr geeignet ist - Umwelteinflüsse spielen eine Rolle, der Klimawandel, der Bakterien und Viren an den Muscheln fördert und ein Betrieb nur gut davon leben kann, Austern zu züchten, wenn er ein großeres Reservoir besitzt: Die kleinen, aber qualitativ sehr hochwertig arbeitenden Austernfischer sind ständig einer existenziellen Bedrohung ausgeliefert, worüber sich Bertrand Chevalier zumindest freuen kann, da er diesen dann ihre Austernbänke mit Freuden abkaufen kann, wie er es bei Lucs Vater ebenfalls getan hat. Dieser spielt hier eine sehr berührende Rolle, da er - schwerkrank - dennoch in die Ermittlungen einbezogen ist, die Toten identifizieren kann (er war einer der ältesten Austernzüchter im Bassin) und auch praktisch von Nutzen ist, in dem er nochmal in den Genuss kommt, ein Boot zu steuern. Hätte Chevalier ein Motiv gehabt?

Dies muss der Leser selbst in diesem stimmigen, spannenden, atmosphärischen Kriminalroman nachlesen, da ich natürlich an dieser Stelle nichts verrate: Der Schreibstil von Alexander Oetker gefällt mir sehr: In seinen Beschreibungen der Acquitaine, dem Südwesten Frankreichs, liegt eine gehörige Portion Liebe zu diesem Landstrich, "in der der Mond und die Gezeiten im Wechselspiel das Leben bestimmen", den Salzgeruch, die Algen riech- und spürbar machen. Auch Arcachon mit seinen Sehenswürdigkeiten sind mit Sicherheit eine Reise wert!



Besonders gefällt mir, dass hier auch ein Stück Zeitgeschichte aufgegriffen wurde, die Terroranschläge von Paris mit vielen unschuldigen Opfern sollten nicht vergessen werden (und haben folgerichtig Luc zeitweise in Paris polizeilich als Commissaire de Police Nationale arbeiten lassen, der, einer der besten Leute, erst nach dieser Zeit wieder ins Acquitaine zurückkehren konnte. Er hatte sich wegen der Erkrankung seines Vaters aus Paris ins Acquitaine versetzen lassen, um Zeit mit ihm zu haben). Dies macht den Kriminalroman auch sehr menschlich; abgesehen davon, dass es natürlich (so nebenbei) immer mal um die Beziehung zwischen Luc und Anouk geht. Ob Letztere den Karrieresprung machen wird und nach Paris geht? Mit Sicherheit wissen wir nur, dass es kurz vor Weihnachten von ihr "recht frohe Kunde" gibt...



Ich freue mich auf einen weiteren Fall von Luc Verlain und empfehle "Winteraustern" gerne KrimileserInnen weiter, die Spannung, Atmosphäre, "menscheln" und Frankreich mögen; es ist eine Ode an den wundervollen Südwesten Frankreichs und der wendungsreiche Fall endet anders als gedacht!

Von mir begeisterte 4,5* und 93° auf der "Krimi-Couch".

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