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Veröffentlicht am 15.02.2017

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
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Fred ist ein sensibler alleinerziehender Vater des fast 14 jährigen zu klein gewachsenen und künstlerisch begabten Phil und hat sich dazu entschlossen als ehrenamtlicher Sterbebegleiter tätig zu sein. ...

Fred ist ein sensibler alleinerziehender Vater des fast 14 jährigen zu klein gewachsenen und künstlerisch begabten Phil und hat sich dazu entschlossen als ehrenamtlicher Sterbebegleiter tätig zu sein. In seiner Freizeit hat er diverse Kurse und Fortbildungen zu dem Thema erfolgreich absolviert und wird nun von der Hospizleitung einer bald sterbenden Frau zugeteilt. Es handelt sich um die eigenwillige, direkte und charakterfeste Karla. Die 60 Jährige ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, hat die Chemo abgebrochen, nimmt aber diverse Medikamente zu sich und fühlt sich nur in ihrer Wohnung sicher und geborgen. Sie weiß nicht wie viele Wochen oder Monate ihr noch bleiben, aber diese will sie nicht in einem Hospiz verbringen und weiß selber noch nicht, ob das Engagement eines Sterbebegleiters die richtige Entscheidung für sie ist.

Die großen Charakterunterschiede machen das Aufeinandertreffen nicht gerade einfach. Fred ist zu unsicher, während Karla ihm sehr klar und deutlich zu verstehen gibt was sie von ihm und seinem Nebenjob hält. Es ist nicht einfach für die beiden auf einen Nenner zu kommen und gut zusammenzuarbeiten, doch nach einiger Zeit kommt die Beziehung in Fahrt. Zudem vermitteln auch andere Charaktere zwischen den beiden, damit das Eis schneller bricht.

Fred ist ein sehr ehrgeiziger, hartnäckiger und anteilnehmender Begleiter, welcher leider noch zu unerfahren ist und die Dinge und Karlas Wünsche zu Anfang nicht so akzeptiert wie sie sind. Er will das Karla vor ihrem Tod noch schöne Momente erlebt, will für sie eine Überraschung organisieren und ihr zu viele von seinen Ideen aufdrängen. Sein unbeholfenes Handeln bringt unerwartete und negative Konsequenzen mit sich, die die Beziehung zwischen ihm und Karla sehr erschüttern.

Ich habe ein sehr dramatisches und trauriges Buch erwartet und habe herausgelesen, dass es um noch so viel mehr geht als das. Es geht nicht nur um das Sterben an sich und um die Huldigung all der ehrenamtlichen Sterbebegleiter. Es geht zum einen um den Verlust von Menschen in jeglicher Hinsicht und den Folgen daraus für jeden der Charaktere. Es geht um den Zusammenhalt zwischen den Menschen, um die Bereitschaft sich zu helfen, füreinander da zu sein und mit einander kommunizieren zu können, Fehler einzugestehen und ehrlich zu sein. Es ist ein Loblied auf das Leben, die Freundschaft, Lebensentwicklungen und die Familie, so klein diese auch sein möge. Mit unterschwelliger Komik, ein wenig gut platzierter Ironie, alltagstauglichen Dialogen und einprägsamen Charakteren hat Susann Pásztor ein echtes Lesehighlight gezaubert.

Veröffentlicht am 01.02.2017

Niemand ist bei den Kälbern

Niemand ist bei den Kälbern
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Wer kennt sie nicht, die schön aufgemachten Zeitschriften mit den Namen „Landlust“, „Landidee“ oder „Liebesland“, die Monat für Monat vorzugsweise Leserinnen das Landleben auf romantische Art und Weise ...

Wer kennt sie nicht, die schön aufgemachten Zeitschriften mit den Namen „Landlust“, „Landidee“ oder „Liebesland“, die Monat für Monat vorzugsweise Leserinnen das Landleben auf romantische Art und Weise näherbringen möchten? Beim Durchblättern dieser Zeitschriften erhält man glatt den Eindruck, dass das Leben auf dem Land aus perfekt geschnittenen Hecken, schneckenfreien Beeten und einer tagtäglichen Zubereitung von köstlichen Mahlzeiten besteht. Da bekommt man doch sofort Lust aufs Land zu ziehen und sich voll und ganz dieser Idylle hinzugeben.

Doch das echte Landleben ist oft nicht schön und heiter. Es ist häufig mit einer Menge Arbeit, Dreck, Gestank und Schweiß verbunden und alles andere als entspannt. Alina Herbing versucht in ihrem Roman „Niemand ist bei den Kälbern“ genau diese Art von Landleben einzufangen, was ihr meines Erachtens auch sehr gut gelungen ist.

Christin ist Mitte Zwanzig und lebt bei ihrem Freund Jan und dessen Vater und Lebensgefährtin auf einem Bauernhof in einem sehr kleinen Dorf in Nordwestmecklenburg. Hier kennt jeder jeden, hier bleibt nichts geheim und hier passiert auch nichts Weltbewegendes. Es sind immer die gleichen Dorffeste, das triste Dasein und die Ausweglosigkeit, die Christin verrückt machen. Sie sehnt sich nach einem richtigen Job in einem Büro, nach einer besseren Zukunft und ein wenig Zuneigung von Jan, doch all das bleibt ihr verwehrt und spielt nur in Christins Phantasie eine Rolle. In der großen weiten Welt muss es für sie doch noch mehr geben, als Kälber, Felder und jeden Tag die gleichen Gesichter. Ihre Beziehung ist nur noch eine Zweckgemeinschaft, der Alkohol ihr bester Freund und die Dorfbewohner sind zum größten Teil verkorkst. Wahre Freundschaft, Liebe und Wertschätzung scheinen hier Fremdwörter zu sein.

Alina Herbing beschreibt klar, rau, ehrlich und ohne Verschnörkelungen das „andere“ Landleben. Das Landleben, welches sicherlich weit verbreitet ist und nichts von der lieblichen Idylle hat, die man sich unter einem Leben auf dem Land vorstellt. Die Charaktere bleiben auf Abstand, so dass man manchmal nicht weiß, ob man nun Mitleid, Sympathie oder Abscheu ihnen gegenüber empfinden soll. Man wünscht sich, dass Christin aufwacht und tätig wird, doch die Perspektivlosigkeit ist erdrückend und prägt sich durch den hervorragenden Schreibstil bei dem Leser ein.

Die vorherrschende Atmosphäre finde ist unheimlich gut beschrieben. Ja, man riecht die Landluft, spürt die Hitze, hört die Vögel, die Mähmaschine und die Mücken. Beim Lesen kam es mir so vor, als stünde ich selber auf dem Feld.

Veröffentlicht am 16.12.2016

Das Zimmer

Das Zimmer
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Björn ist ein junger und engagierter Mann, der in der neuen Abteilung einer großen Behörde durch eine korrekte und effektive Arbeitsweise schnell beruflich aufsteigen möchte. Ziel ist es, früher oder später ...

Björn ist ein junger und engagierter Mann, der in der neuen Abteilung einer großen Behörde durch eine korrekte und effektive Arbeitsweise schnell beruflich aufsteigen möchte. Ziel ist es, früher oder später Chef ebendieser Abteilung zu werden. Björns Arbeitstag ist durchstrukturiert, die Pausen minutiös geplant und eine Abweichung von seinen Regularien ist unerwünscht. So hält er auch kaum Kontakt zu den neuen Arbeitskollegen und vermeidet unnötigen Small Talk.
Die Fassade fängt an zu bröckeln, als Björn zwischen dem Fahrstuhl und den Toiletten der Abteilung ein Zimmer entdeckt. Dieses penibel aufgeräumte und saubere Zimmer irritiert ihn zunächst und wird dann zu seinem Rückzugsort. Verwundert darüber, dass kein anderer Kollege dieses Zimmer nutzt, erklärt er es zu seinem Ort der Ruhe und empfängt dort die besten Ideen. Tag für Tag geht Björn in das Zimmer – in sein wundervolles, stilles Zimmer.
Als er zu einer Besprechung in das Büro seines Chefs gerufen wird, trifft er dort auch all seine Kollegen an. Diese verstehen nicht, warum Björn enorm viel Zeit auf dem Flur verbringt und wie ein Irrer vor sich hin starrt. Völlig irritiert erzählt er von dem Zimmer und kann es nicht glauben, als alle behaupten es gäbe dieses Zimmer gar nicht. Eine hitzige Diskussion entsteht und es steht Aussage gegen Aussage.
Dieses sehr kurzweilige Buch hat mir unglaublich gut gefallen. Der Schreibstil ist sehr angenehm und die Thematik interessant. Die Story ist so schön verwirrend, dass man sich als Leser tatsächlich oft fragt, ob es dieses besagte Zimmer nun gibt oder eben nicht. Das Buch ist gespickt mit sarkastischen und witzigen Sprüchen und spielt mit der Phantasie des Lesers.

Veröffentlicht am 03.12.2016

Winterrosenzeit

Winterrosenzeit
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Hans-Peter, ein Jura-Student, lebt in einem beschaulichen Dorf in Deutschland und schwärmt für die Musik der Beatles. Sein Adoptivvater und Bürgermeister des Dorfes hält nicht viel von dem Jungen und erst ...

Hans-Peter, ein Jura-Student, lebt in einem beschaulichen Dorf in Deutschland und schwärmt für die Musik der Beatles. Sein Adoptivvater und Bürgermeister des Dorfes hält nicht viel von dem Jungen und erst recht nicht von seinen Jeans, den längeren Haaren und der Hottentottenmusik, die seiner Ansicht nach den Charakter der Jugend verdirbt. So muss sich Hans-Peter diverse Sticheleien und und gar böse Worte gefallen lassen, doch trotz alldem lässt er sich nicht von seinem Plan abbringen. Er will unbedingt die Beatles in England live sehen und hat hierfür fleißig Geld angespart, um diese Reise antreten zu können.
Zwanzig Jahre sind seit dem Krieg vergangen und noch immer spürt man die Ablehnung gegen Deutsche und heißt diese oftmals nicht willkommen. Hans-Peter hat jedoch Glück auf seiner Reise nach England und wird per Anhalter von einer Gruppe Jugendlicher mitgenommen, die ebenfalls zu dem Konzert der Beatles fahren. Hier lernt er die quirlige und hübsche Ginny kennen und verfällt sofort ihrem Charme. Ginny ist Rosenzüchterin und arbeitet im Familienbetrieb, der an das herrschaftliche Anwesen in einer ländlichen Gegend, angrenzt. Dort lebt sie mit ihrer Mutter, Großmutter und ihrem aus Deutschland stammenden Vater, welcher während der Kriegszeit furchtbare Dinge erlebt hat und nicht über diese sprechen möchte.
Nachdem sich Ginny und Hans-Peter näher kommen, werden erste Befürchtungen, die Familie von Ginny könnte Hans-Peter aufgrund seiner Herkunft ablehnen, wach und das junge Glück muss um seine gemeinsame Zukunft bangen.

Ricarda Martin hat wieder ein sehr emotionales, herzerwärmendes und spannendes Buch geschrieben, welches durch einen tollen Schreibstil, sympathische Charaktere und viel Abwechslung in den Kapiteln besticht. Aufgrund der sehr guten Beschreibungen der Szenen und Menschen ist man als Leser mitten drin im Geschehen, macht eine imaginäre Zeitreise in die 60er Jahre und mag das Buch kaum aus der Hand legen. Zeitweise habe ich beim Lesen die Luft anhalten müssen, weil ich so von der Story gefesselt war. Das Buch behandelt viele unterschiedliche Themen, wobei die Liebe von Ginny und Hans-Peter natürlich im Vordergrund steht. Einiges ist hier vorhersehbar und in manchen Kapiteln gibt es einen Hauch zu viele Zufälle, aber dies ist alles ausgesprochen gut in die Geschichte eingearbeitet worden, so dass es dem Lesevergnügen keinesfalls schadet. Ich habe „Winterrosenzeit“ sehr gerne gelesen und kann es in jedem Fall weiterempfehlen.

Veröffentlicht am 13.11.2016

Memory Wall

Memory Wall
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Alma lebt als eine reiche Weiße über siebzig in Südafrika und hat ihr Gedächtnis verloren. Sie hat nur noch sehr selten klare Momente, in denen sie weiß was sie tut. Damit sie sich wieder erinnern kann, ...

Alma lebt als eine reiche Weiße über siebzig in Südafrika und hat ihr Gedächtnis verloren. Sie hat nur noch sehr selten klare Momente, in denen sie weiß was sie tut. Damit sie sich wieder erinnern kann, hat sie im Gästezimmer ihres Hauses eine Memory Wall erstellt. Unzählige beschriftete Zettel, Fotos und Kassetten hängen an dieser Wand und sind miteinander verbunden, damit sich Alma der Zusammenhang zwischen den Ereignissen und Informationen erschließt. Zudem ist sie in Behandlung bei einem Spezialisten, der ihr vier Ports in ihre Schädeldecke eingepflanzt hat. Wenn sie diese mit einer Apparatur verbindet, kann sie die Kassetten abspielen und so in Erinnerungen schwelgen. Hier lehnt sie sich in ihren Sessel zurück und taucht in eine andere Welt ein. In eine schöne Welt, in der ihr Mann noch lebte und sie noch alles wusste.

In Almas Haus wird regelmäßig eingebrochen. Die beiden Einbrecher suchen fieberhaft nach einer Kassette mit Erinnerungen, auf welcher Almas Mann sie zu einem Fossil mitten in einer Wüste führt. Sie wollen das Fossil bergen, es verkaufen und Schulden begleichen. Doch die Zeit rennt ihnen davon, dann Almas Haus soll sehr bald schon verkauft werden und die alte Dame in ein Pflegeheim umziehen.

Als Nebenstrang wird das einfache Leben von Almas langjährigem Hausdiener Phako und seines fünfjährigen Sohnes beleuchtet. Er lebt in einer armseligen Wellblechhütte am Rande der Stadt, besitzt nur einige von Alma und ihrem Mann aussortierte Gegenstände und arbeitet von morgens bis abends bei Alma. Er kümmert sich um den Haushalt, fährt sie zum Arzt, geht einkaufen und ist nun kurz davor seinen Job zu verlieren, da Alma in das Pflegeheim eingewiesen werden soll.

In diesem kurzen Buch treffen zwei Welten aufeinander, die der Autor spielend miteinander verbindet. Er greift Themen auf, die viel Platz zum Nachdenken lassen und klar machen, dass unser Gedächtnis, unsere Erinnerungen mit das Wichtigste sind das wir haben. Ohne diese wandeln wir verwirrt umher, vergessen zu essen, zu schlafen, zu atmen. Ohne unser funktionierendes Gedächtnis sind wir bloß eine Hülle ohne Inhalt.

Meines Erachtens ist dies ein sehr beeindruckendes und tiefgründiges Buch, welches sehr gut geschrieben ist und einen nicht so schnell los lässt