REZENSION – Es sind wenige Momente des nur fünf Jahrzehnte währenden Lebens des österreichischen Komponisten und Dirigenten Gustav Mahlers (1860-1911), die Robert Seethaler (54) in seinem aktuellen Buch „Der letzte Satz“ auf knapp 130 Seiten zu einem Mosaik zusammenfasst. Es ist zugleich ein literarisches Psychogramm dieses Ausnahmekünstlers, das auch für solche Leser empfehlenswert ist, die nicht zu den Kennern klassischer Musik gehören.
Denn über Mahlers Musik wird kaum etwas berichtet, was mancher Kritiker schon bemängelte – wie ich meine, zu Unrecht. „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür“, lässt Schriftsteller Seethaler den Musiker sagen. Als Romancier, dessen Handwerkszeug die Sprache ist, geht es dem Autor folgerichtig nicht um den Musiker oder dessen Werke, sondern um den Menschen Gustav Mahler, um den arbeitswütigen Künstler, den Ehemann und Vater.
Um Buch treffen wir Mahler nach Abschluss seiner Arbeit mit den New Yorker Philharmonikern im Frühjahr 1911 an Deck des Passagierdampfers „Amerika“ auf seiner letzten Heimfahrt nach Europa. Es ist seine letzte Reise, sinnbildlich die Überfahrt in den Tod. Herzkrank und vom Fieber geschwächt, sitzt er einsam an Deck, nur umsorgt von einem Schiffsjungen, und lässt Momente seines Lebens Revue passieren. Bilder seiner Kindheit als „Judenbub“ tauchen auf, seine Hochzeit mit Alma Schindler, die Arbeit als Intendant der Wiener Hofoper und der Metropolitan Opera und als Dirigent in den Konzertsälen der Welt. Wir erfahren Privates über ihn als Vater zweier Töchter und als untauglicher Ehemann, der zugunsten seiner Arbeit seine junge, selbstbewusste Ehefrau vernachlässigt, die schließlich die ihr vorenthaltene Zuwendung beim Architekten Walter Gropius findet. „Ich bin eine Frau. Er ist ein Mann. …. Davon hast du natürlich keine Ahnung. …. Damit will man nichts zu tun haben, wenn man immer nur nach dem Höchsten strebt“, wirft Alma ihm vor.
Mahler ist zeitlebens ein von seiner Arbeit Getriebener. Verzweifelnd an der Unvollkommenheit anderer, will er das Vollkommene erreichen. Nicht einmal für die Hochzeit findet er die angemessene Zeit. Direkt von der Arbeit stürzt der Workaholic die Treppen zur Kirche hoch, so dass der dort sitzende Bettler folgert: „Sie sehen nicht aus wie ein Bräutigam.“ Für liebevolle Zweisamkeit und alles Private ist Mahler ungeeignet. Selbst am Urlaubssitz arbeitet er abgeschottet in seinem „Komponierhäuschen“.
Auch der weltweite Erfolg als Komponist und Dirigent lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er missachtet nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch sich selbst – bis hin zur todbringenden Erkrankung. Überrascht wird er auf seiner letzten Schiffsreise von der Lebensweisheit des erst 15-jährigen Schiffsjungen: „Wer weit geht, kommt spät an.“ Gustav Mahler ist nie angekommen, wollte immer nur weiter.
Ob „Der letzte Satz“ den Deutschen Buchpreis 2020 wirklich verdient hat, für den der Roman nominiert ist, mag jeder Leser selbst beurteilen. Der Verkaufserfolg, der das Büchlein im August auf den Spitzenplatz der Spiegel-Bestsellerliste gebracht hat, mag Seethalers Nachruhm als Autor des „Trafikant“ geschuldet sein. „Der letzte Satz“ ist kein literarisches Meisterwerk, aber in jedem Fall eine sprachlich angenehm und locker geschriebene, deshalb leicht lesbare Kurzbiografie über einen interessanten Mann, der sich selbst und seine Nächsten vollständig der Arbeit unterordnete. „Ich sollte noch ein bisschen bleiben.“ Dies ist der letzte Satz Mahlers in Seethalers Kurzroman. Der Mensch ist längst vergangen, seine Musik aber ist geblieben.