Die Geister der Wilden Jagd
In Berlin herrscht die Zeit der grauen und kalten Rauhnächte zwischen den Jahren und leider auch eine autoritäre, rechtspopulistische und fanatische Partei. Laut einer Mythologie beginnt in dieser Jahreszeit ...
In Berlin herrscht die Zeit der grauen und kalten Rauhnächte zwischen den Jahren und leider auch eine autoritäre, rechtspopulistische und fanatische Partei. Laut einer Mythologie beginnt in dieser Jahreszeit die Wilde Jagd – wer geisterhafte Jäger am Himmel sieht oder hört, dem könnte Fürchterliches drohen. Und so schwirren und irren drei skurille Figuren durch ihre Welt – Burschi (auch Elisa) pflegt ein altes Ehepaar und verliebt sich in die mystische Widerständlerin Johanna, die nach Schwarzpulver riecht. Charlie (Karl) ist unbezahlter Praktikant bei einem angesagten Hip-Hop-Label und leidet unter der immer ängstlichen und klammernden Mutter Charlotte Venus. Diese ist nach einer gescheiterten großen Liebe und Erfolglosigkeit in ihrem kreativen Beruf alkoholkrank, psychisch labil und – zur Scharfschützin bei der Bürgerwehr umgeschult.
Allesamt versuchen menschliche Bindungen aufzubauen und sich unter dem ausländer- und frauenfeindlichen, homophoben Regime, das keine Subkultur, wilde junge Menschen oder jegliche Divergenz duldet, einigermaßen frei zu bewegen – denn längst hat die Bürgerwehr alle Privilegien, die Ansichten der Partei mit dem Amt für Staatsmoral hart durchzusetzen und Widerständige festzunehmen.
Trotz dystopischen und finsteren Zukunftsaussichten ist Lara Lichtblaus Debütroman voller Poesie, Romantik und Humor. Das ist ihrer frischen, experimentellen und sehr lyrischen Sprache zu verdanken, die vor innovativen und bunten Bildern nur so sprudelt und auch vor der üblichen Satzstellung oder Wortgebrauch keinen Halt macht. Fast wie in einem Poetry-Slam lässt Lichtblau ihre Figuren multiperspektivisch erzählen, auf jeder Seite findet sich ein Lieblingssatz und die Überschriften fließen einfach in das Textbild.
Zwar ist das an der ein oder anderen Stelle auch teilweise etwas zu viel sprachliche Verspieltheit und der ein oder andere Charakter nur oberflächig in seiner Innenwelt angeschnitten, aber der lakonische Witz, der besonders bei den aufmüpfigen Remmidemmi-Geschichten von Charlotte daherkommt, ist sehr treffsicher und witzig.
Und bei allem bleibt ein bitterer Nachgeschmack, denn trotz Hoffnungsschimmer am Ende des Romans – wie weit sind wir noch von der politischen und gesellschaftlichen Welt, die Laura Lichtblau erschafft, entfernt? So greift die Autorin ein sehr gegenwärtiges, brisantes Thema auf und changiert trotzdem zwischen Ironie, Surrealem und tatsächlicher Bedrohung.
Es gibt ein offenes Ende, das viele Fragen zu den Personen offen lässt - der Leser durfte die drei Protagonisten nur kurz bei ihrer märchenhaften Geisterjagd begleiten – innere Geister, politische Geister und mystische Geister am Feuerwerkshimmel. Und Lichtblau hat die Raketen mit jeder Menge sprachlich ausgeklügeltem und schlagkräftigem Schwarzpulver befüllt.
Ein sehr lesenswertes Debüt, das deutlich macht, wie schützenswert unsere gesellschaftlichen Freiheiten und Unterschiedlichkeiten sowie Kunst und Kultur sind.