„Sie ist nicht verantwortlich, ich bin nicht verantwortlich. Wessen Verantwortung ist es dann […]?“ (S. 198)
Ich habe schon viele Bücher, auch Romane, über den Nationalsozialismus gelesen, zugegebenermaßen die meisten nicht freiwillig, sondern als aufgezwungene Schullektüre, und hätte nicht gedacht, dass mich ein Buch darüber noch einmal so erschüttern könnte, wie es dieses getan hat. Darin wird, sprachlich schlicht aber dennoch mit einigen wirkungsvollen Metaphern, die wahre Geschichte von Stefania Podgórska, genannt Fusia, erzählt, die in dem Alter, in dem junge Frauen in Deutschland heute ihr Abitur machen oder eine Ausbildung absolvieren, dreizehn Juden vor den Nationalsozialisten versteckte. Die besondere Dramatik lag dabei darin, dass sie vor dem Einmarsch der Deutschen in dem Laden einer jüdischen Familie, der Diamants, gearbeitet hat, die für sie schnell zu einer zweiten Familie wurden. Sie hatte sich in Izio Diamant verliebt, die beiden wollten heiraten, doch alle Diamants mussten zunächst ins Ghetto ziehen und wurden dann zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedliche Orte deportiert. Eines Nachts klopfte einer der Diamant-Söhne an Stefanias Tür und bat um kurzzeitiges Asyl - doch es war nicht Izio, sondern dessen Bruder Max. Stefania, die sich zusätzlich um ihre kleine Schwester kümmern musste, fasste sich ein Herz und gewährte Max Unterschlupf. Doch es gab noch andere, die verzweifelt waren und Hilfe brauchten und so machte sich Stefania auf die Suche nach einem geeigneten Haus…
Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, ist so unglaublich, dass ich geneigt wäre, sie als unrealistisch abzutun, wenn ich nicht wüsste, dass sie wahr ist. Alleine, dass es Stefania gelungen ist, in den Wirren des Krieges ein ganzes Haus für sich und ihre Schwester zu mieten, ist irgendwie unglaublich, aber im Verlauf des Buches ergeben sich noch viele andere bedrohliche und noch viel unglaublichere Komplikationen und es ist unfassbar, dass alle Beteiligten das überlebt haben. Die Stärke des Buches liegt gerade in den detaillierten Schilderungen des Alltagslebens. Hier kommen Dinge zur Sprache, über die im Geschichtsunterricht in der Regel nicht geredet wird bzw. die einem vielleicht nicht bewusst sind, wenn man sich im großen Rahmen mit dem Thema auseinandersetzt. Im kleinen Rahmen geht es dann aber um Fragen wie „Wie ernähre ich eine so große Gruppe von Menschen?“ und das nicht nur finanziell, sondern so, dass es niemandem auffällt, dass immer dieselbe junge Frau regelmäßig riesige Menschen an Nahrungsmitteln erwirbt.
Fusia ist mir bereits auf den ersten Seiten unglaublich ans Herz gewachsen. Ihre Gedankengänge waren so authentisch und sympathisch, dass ich mich sehr gut in sie hineinversetzen konnte. Man fühlt ihre Angst und ihre Trauer, aber auch ihre Entschlossenheit, erstarrt in Ehrfurcht vor den Opfern, die sowohl sie als auch ihre kleine Schwester Helena bringen. Mit zunehmendem Druck und wachsender Gefahr spürt man, wie müde sie von allem ist, was einerseits ihre Angst verdrängt, sie andererseits aber auch zynisch werden lässt.
Es gibt Stellen in dem Buch, an denen mein erster Gedanke war: „Na das ist aber doch jetzt ein wenig übertrieben, oder?“, aber dann habe ich mich daran erinnert, dass hier eine wahre Geschichte erzählt wird. Man kann tatsächlich davon ausgehen, dass die meisten Begebenheiten, egal wie klein sie sind, so passiert sind, denn die Autorin schreibt im Nachwort, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen auf Stefanias Memoiren gestützt hat. Das bedeutet, dass man hier ein authentisches Bild davon bekommt, wie menschenverachtend der Nationalsozialismus allgemein war, selbst wenn man nicht zur eigentlichen Opfergruppe gehörte. Es wird auch eindrücklich dargestellt, wie bereitwillig viele Menschen die Gelegenheit genutzt haben, um auf anderen, gegen die sie schon die ganze Zeit über etwas hatten, herumzutrampeln und sich zu bereichern. Wie viele würden heute ihrem Hass freien Lauf lassen, wenn es „erlaubt“ wäre?
In einem derartigen Buch ist ein Nachwort natürlich obligatorisch, ich möchte aber hervorheben, dass dieses besonders gut gelungen ist. Man bekommt Einblicke in den Schreibprozess der Autorin, ihre Beschäftigung mit der Thematik und erfährt, was aus Stefania und „ihren“ Juden wurde. Vorsichtshalber empfehle ich an dieser Stelle, das Nachwort auf keinen Fall vor der Geschichte zu lesen und sich auch nicht zu Stefania zu informieren, wenn man sich in Bezug auf ihre Beziehung zu den anderen Beteiligten nicht die Spannung verderben will.
Meine einzige Kritik gilt dem Cover und dem deutschen Titel. Ersteres passt meiner Meinung nach leider gar nicht und lädt auch nicht dazu ein, das Buch in die Hand zu nehmen. Ich empfinde es gleichzeitig als nichtssagend und zu positiv für die Thematik des Buches, selbst, wenn man an die unbeschwerte Zeit Fusias vor dem Fall der ersten Bomben denkt. Das ist natürlich sehr bedauerlich, weil das Buch so vielen potenziellen Leser*innen entgeht. Den englischen Titel, „The Light in Hidden Places“, finde ich persönlich etwas poetischer, aber das ist vielleicht Ansichtssache. Ansonsten lege ich das Buch jedem ans Herz und empfehle es auch nachdrücklich als Schullektüre. Ich glaube, dass die Welt ein schönerer Ort wäre, wenn sich wieder mehr Menschen für mehr Dinge verantwortlich fühlen würden.