Ergreifendes Umwelt- und Generationendrama
JahresringeDer Hambacher Forst, einer der ältesten deutschen Wälder und Heimatort vieler seltener Tier- und Pflanzenarten, ist zum Synonym für die deutsche Umwelt(zerstörungs)politik geworden. Andreas Wagner ...
Der Hambacher Forst, einer der ältesten deutschen Wälder und Heimatort vieler seltener Tier- und Pflanzenarten, ist zum Synonym für die deutsche Umwelt(zerstörungs)politik geworden. Andreas Wagner hat die Rodungsgeschichte dieses Waldes und die damit verbundenen menschlichen Schicksale zum Gegenstand seines Debütromans gemacht. Die Handlung wird bestimmt durch die umstrittene Thematik des Braunkohletagebaus, die mit der Abholzung von Waldgebieten, die an den Lebensraum der Romanfiguren angrenzen sowie der Zerstörung und Umsiedlung ganzer Dörfer einhergeht.
Wir alle kennen den Hambacher Forst und wissen um seine prekäre Situation. Andreas Wagner aber will mit seinem Roman genauer fokussieren: Wer sind neben der Natur die Leidtragenden der Rodung, wer die Opfer, wer die Täter, wer die Aktivisten. Natürlich sind seine Figuren fiktiv, aber so oder so ähnlich hätte es ablaufen können bzw. ist es tatsächlich abgelaufen, nur eben mit anderen (realen) Personen. Die Firma RWE, die den Braunkohleabbau in NRW betreibt, wird sogar explizit genannt und nicht etwa unter fiktivem Namen verklausuliert.
Schauplatz der Handlung von “Jahresringe” ist das kleine “Doppeldorf” Lich-Steinstraß in Nordrhein-Westfalen, das an den Hambacher Wald oder Bürgewald, wie er auch genannt wird, angrenzt. Die “Entwurzelungsgeschichte” dieses Ortes, der tatsächlich im Zuge des Braunkohle-Tagebaus umgesiedelt wurde, wird exemplarisch anhand der Familie Klimkeit erzählt, deren “Gründerin” Leonore Klimkeit ist. 1946 wird die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Heimatvertriebene im äußersten Westen der jungen Republik “angespült”. Ein auf traditionelle rheinische Lebkuchen (“Moppen”) spezialisierter Bäcker und dessen Mutter nehmen sie bei sich auf, sie erlernt das Handwerk und wird zur Ersatztochter der Familie. Ihre Geschichte geht dem Leser (zumindest wenn ich für mich spreche) sehr nahe. Als “das Flüchtlingskind” oder “die Evangelische aus dem Osten” bleibt sie zeitlebens eine Außenseiterin der Dorfgemeinschaft, die sich trotz aller Anstrengungen als “Fremde” nie integrieren kann. Nur im Wald fühlt sie sich frei und geborgen, wie auch später ihr Sohn Paul (“Alles hier war echt. Alles war Geschichte. Alles war Natur." S.114) . Aber der Wald ist in Gefahr.
Von 1946 bis 2018 wird die Geschichte der Familie weiter verfolgt, immer vor dem Hintergrund der Abholzung des Hambacher Waldes. Von 1976-1984 steht Leonores Sohn Paul im Fokus, später dann ihre Enkelkinder.
Andreas Wagner erzählt unaufgeregt, ohne Schnörkel, aber mit großer Intensität. Sein Erzähler ist allwissend, er macht Verweise in die Zukunft. Vor allem arbeitet der Autor mit einer starken Symbolik und Elementen des magischen Realismus. Das titelgebende Maiglöckchen-Motiv zieht sich leitmotivisch durch den Roman.
Gerne hätte ich manche Figuren ausführlicher verfolgt und mehr über sie erfahren. Zum Beispiel über Pauls Vater oder Jan und Sarah. Was ist aus ihnen geworden? Wie haben sich ihre Anschauungen und Pläne angesichts der Ereignisse im Wald verändert? Schade dass das Buch dann doch ein wenig zu kurz war für einen opulenten Familienroman. Dennoch ist das für mich kein Grund, keine 5 Sterne zu geben: Ein beeindruckendes Debüt mit wichtigem Thema!