Kaum zu ertragen
„Ihr habt Glück, für euch ist alles vorbei. Für mich fängt es erst an.“ So dachte Philipp Lancon als er von seinen Rettern an den Leichen seiner Kollegen vorbei getragen wurde. Hatte er doch Minuten vorher ...
„Ihr habt Glück, für euch ist alles vorbei. Für mich fängt es erst an.“ So dachte Philipp Lancon als er von seinen Rettern an den Leichen seiner Kollegen vorbei getragen wurde. Hatte er doch Minuten vorher sein zerschossenes Gesicht im Handy gesehen. Statt des Unterkiefers und der Lippen sah er nur noch einen blutigen Klumpen und einen Fetzen, der auch Anlass zur Titelwahl dieses Buches
DerFetzen war.
Am 07.01.2015 stürmten zwei Irre in den Konferenzraum der Zeitschrift Charlie Hebdo und ermordeten die meisten der Teilnehmer. Philipp Lancon wurde schwerst verletzt geborgen und beschreibt in seinem Buch den Weg in ein anderes Leben. Nein, der Weg zurück ins alte Leben ist es keineswegs, das wird beim Lesen der Aufzeichnungen klar.
Zunächst berichtet Herr Lancon von den Tagen und Stunden vor dem Attentat. Warum er überhaupt ausgerechnet zu dieser Zeit an diesem Ort war und worüber sich unterhalten wurde. Es war der Autor Houellebecq und sein neuester Roman „Unterwerfung“, der ein Thema war. Als die beiden Brüder in den Raum stürzten lagen innerhalb von Sekunden alle dort Anwesenden tot oder verletzt auf dem Boden. Herr Lancon stellte sich leblos und das war seine Rettung.
Im Krankenhaus gab es etliche, die ihn mit ihrem eigenen Leid trösten wollten. Darauf und auf die Worte „Es wird schon wieder“ hätte er gerne verzichtet. Er schreibt in
DerFetzen, wie entsetzt die alten Eltern waren und dass sein Bruder für ihn eine starke Stütze war. Zwei Polizisten mit einer Beretta im Anschlag wurden als Leibwache abgestellt, da er noch immer als potenziell gefährdet galt. Als diese nach Monaten ohne Vorwarnung abgezogen wurden, kam er sich zunächst nackt und schutzlos vor. Über viele Monate konnte er sich nur per Whiteboard und Filzstift verständigen. Sprechen war ein Ding der Unmöglichkeit. Zahllose Operationen musste er über sich ergehen lassen um wieder halbwegs wie ein Mensch auszusehen. Haut von seiner Wade wurde in der Mundhöhle transplantiert, und die nachwachsenden Haare setzten ihm zu. Nahrung aufnehmen konnte er nur per Sonde und die Schmerzen waren lediglich mit Morphium zu ertragen.
Nein,
DerFetzen ist kein Buch des Jammerns, im Gegenteil. Sachlich berichtet Philipp Lancon was in ihm vorging und wie er die Reaktionen seiner Mitmenschen empfand. Kurz nach dem Attentat waren nicht nur in Frankreich Großdemonstrationen an der Tagesordnung und viele Menschen behaupteten Charlie zu sein. Doch, wie sieht es jetzt, vier Jahre danach aus? Was wurde aus den Hinterbliebenen und kamen die Spenden auch tatsächlich dort an, wo sie gebraucht wurden? Wie geht es den Überlebenden? Fragen, die kaum noch gestellt und in dem Buch
DerFetzen teilweise beantwortet werden.Für mich erschreckend ist die Tatsache, dass das Gesundheitssystem auch in Frankreich zusammengebrochen ist. Chirurgen sind überlastet und das Pflegepersonal ebenfalls. Darauf weist ein anderes Zitat aus dem Buch
DerFetzen hin:
„Die Welt scheint nicht dafür gemacht, Zeit auf die Pflege der Abseitigen zu verwenden.“ Den Satz schrieb Philipp Lancon im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt im Hopital de Invalides, dem Invalidendom.
Der Schluss des Buches handelt von einem erneuten Attentat aus gleichen Motiven. Meiner Meinung nach ist
DerFetzen ein Muss für jeden Menschen, der seine Empathie noch nicht verloren hat. Es hilft ebenfalls zu verstehen, was es bedeutet, schwerverletzt ein Trauma zu überleben.#NetGalleyDE