Ein wuchtiges Buch!
1000 Serpentinen AngstEin wirklich tolles Buch, das mich in gleich mehrfacher Hinsicht überrascht hat. Zum einen, weil es formell so ganz anders war, als erwartet: Statt einer ruhigen, eher straighten Narrative springt die ...
Ein wirklich tolles Buch, das mich in gleich mehrfacher Hinsicht überrascht hat. Zum einen, weil es formell so ganz anders war, als erwartet: Statt einer ruhigen, eher straighten Narrative springt die Erzählung sowohl zeitlich als auch räumlich hin und her, vom Inneren eines Snackautomaten nach New York, vom Hier und Jetzt in die nahe und ferne Vergangenheit. Hinzu kommt, dass große Teile als eine Art Dialog angelegt sind, wobei die fragende Sprechstimme, auf die die Erzählerin auch nur bedingt Antworten gibt, nicht nur lange unklar bleibt, nein, sie nutzt auch durchgängig CAPS LOCK, was in meinem Internet-durchsetztem Hirn in Geschreie übersetzt wird ("WO BIST DU JETZT?"). Das mag sich jetzt alles ziemlich chaotisch und strukturlos anhören, aber Olivia Wenzel hat den Dreh raus: Sie schafft es, alle diese Versatzstückchen (plus die enorme Themenvielfalt, die ich noch gar nicht angesprochen habe) in ein sehr gut lesbares, unterhaltsames und vor allem kluges Buch zu verwandeln: It's a kind of literary magic ;)
Falls ihr also auch zu den Leser*innen gehört, die gerne wissen woran sie sind (Stichwort: wer spricht denn da nun?), kann ich euch nur raten: Nehmt es einfach so hin und lasst euch darauf ein, ohne weiter nachzudenken. So hat es bei mir auch geklappt, und ich muss sonst eigentlich auch immer ganz genau vorher wissen, was da nun Sache ist.
Auch inhaltlich hat dieses Buch eine Menge zu bieten. Die Protagonstin ist Tochter einer DDR-Rebellin (die wiederum Tochter einer strammen SED-Funktionärin ist) und eines Austauschstudenten aus Angola. Die Themen Rassismus, DDR, Systemtreue bzw- rebellion, PoC in der DDR usw. machen sich hier also schon von ganz alleine auf. Hinzu kommt, neben dem Offensichtlichen, weiteres Familiendrama, das schließlich im Verlust ihres Zwillingsbruders gipfelt. Auch queere Themen sind dabei: Die Protagonstin ist bisexuell - für sie quasi die Mitgliedschaft in einer weiteren marginalisierten Randgruppe.
Doch die Protagonstin reflektiert nicht nur Vergangenes, sondern auch neue Erfahrungen: Zum Beispiel, wie sie "schwarz sein" in den USA ganz neu erfährt - als Teil einer black community (die, und das ist die nächste Schleife der Reflexion, als gemeinsamen Nenner vor allem den gemeinsam erfahrenen Schwerz, das Leid, die Ausgrenzung hat...).
Ja, der Olivia Wenzel hat sich den Teller hier ordentlich voll gepackt - doch sie behält den Überblick. Auch hier erinnert mich das Buch an Brüder, einen Kandidaten der letztjährigen Longlist: Es sind fast alle relevanten Themen dabei, und keines kommt zu kurz - doch alles geschieht natürlich, fast beiläufig, hier wird kein mühsames Themenbingo gespielt, sondern die Lebensumstände einer jungen Frau geschildert, die nicht nur in eine, sondern ziemlich viele Schubladen gesteckt wird.
Ein wuchtiges Buch, das ich sehr gerne gelesen habe.