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Veröffentlicht am 15.11.2020

Gelungenes Epos

Leben ist ein unregelmäßiges Verb
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An diesem Buch hat der Autor vier Jahre lang gearbeitet, was keineswegs erstaunt. Er entwirft zwar keine ganze Welt, aber vier Lebensgeschichten mit sehr unterschiedlichen Verläufen. Mit großer erzählerischer ...

An diesem Buch hat der Autor vier Jahre lang gearbeitet, was keineswegs erstaunt. Er entwirft zwar keine ganze Welt, aber vier Lebensgeschichten mit sehr unterschiedlichen Verläufen. Mit großer erzählerischer Leichtigkeit erzählt er mal von dieser Entwicklung, mal von jener – legt hier seinen Fokus auf eine Kleinigkeit und überspringt in einem anderen Abschnitt mehrere Jahre. Wie man wohl einen so vielschichtigen 976-Seiten-Roman schreiben und dann aber auch irgendwann wieder beenden kann?

Ralf Lapperts „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ ist ein von einer überschaubaren Situation ausgehendes Epos: Vier Kinder, alle um die 12 oder 13 Jahre alt, werden aus einer Kommune im Kampstedter Bruch befreit, in der sie sich nie gefangen gefühlt haben. Die drei Jungen und das Mädchen sind dort bei neun Erwachsenen aufgewachsen. Sie sind weder irgendwo gemeldet noch haben sie eine Schule besucht oder den Hof und seine Umgebung je verlassen. Nun werden sie auseinandergerissen und zu nie gesehenen Verwandten und Pflegefamilien gebracht. Es ist Ende der 1970er Jahre und nach ein paar Wochen oder Monaten endet sowohl das mediale Interesse an den Kindern als auch ihre psychologische Betreuung. Sie werden in Schulen gesteckt und sollen ab jetzt funktionieren – das klappt mal mittelmäßig und mal schlechter.

Da Frida, Leander, Linus und Ringo keine Verbindung mehr haben, werden ihre Geschichten getrennt voneinander erzählt. Fridas und Leanders Leben wird relativ chronologisch vor den Lesenden ausgebreitet, während Ringos 50-jähriges Ich seinen Werdegang vor allem durch Selbstauskünfte, die er einer Journalistin gibt, enthüllt. Dem Autor gibt das die Möglichkeit für viele, kleine Cliffhänger, wenn mal wieder ein Kapitel mit einem Paukenschlag endet und das nächste mit einer der anderen Figuren weitergeht. Zudem bleibt der Roman nicht immer bei den ehemaligen Kommunenkindern: Einige ihrer Bekanntschaften bekommen ebenfalls ein Eigenleben – manchmal, bevor sie überhaupt als Bekannte eingeführt werden. Und so passiert es, dass einige Passagen plötzlich von jemand gänzlich Unbekanntem handeln und sich der Bezug zum restlichen Roman erst nach und nach ergibt. Das könnte stören, tut es aber nicht – zu meiner großen Verblüffung war Kapitel für Kapitel so fesselnd geschrieben, dass ich dem Autor einfach vertrauensvoll lesend gefolgt bin. Grund dafür war sicher, dass die Charaktere so stimmig und die Variationen im Erzähltempo äußerst gelungen sind. Lappert beherrscht es meisterhaft, kleine Begebenheiten detailliert zu schildern, doch ebenso kann er Wochen und Monate, sogar Jahre in ein paar Sätzen zusammenfassen, die trotzdem noch dicht erzählt sind.

Und so fängt dieser Roman halbwegs überschaubar an und wird dann immer größer, weitverzweigter, umfassender. Nebenschauplätze kommen dazu, werden zu Hauptschauplätzen und verschwinden wieder, Figuren werden ausführlich eingeführt und spielen entweder eine größere Rolle oder versinken schnell in der Bedeutungslosigkeit – hier lässt sich nie erahnen, was als nächstes geschieht. Die 976 Seiten vergehen zwar nicht wie im Flug, aber doch erstaunlich schnell. Ein großes Lesevergnügen.

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Veröffentlicht am 08.10.2020

Psychogramm einer Ehe

Unter uns das Meer
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Dieser Roman ist größtenteils aus zwei Perspektiven erzählt, die durch ein unterschiedliches Schriftbild geschickt voneinander abgegrenzt sind. Die beiden Protagonisten sind ein Ehepaar, das seinen mehrmonatigen ...

Dieser Roman ist größtenteils aus zwei Perspektiven erzählt, die durch ein unterschiedliches Schriftbild geschickt voneinander abgegrenzt sind. Die beiden Protagonisten sind ein Ehepaar, das seinen mehrmonatigen Segeltörn mit zwei kleinen Kindern schildert. Der Mann, Michael, ist die treibende Kraft dahinter, seine Frau Juliet hat irgendwann nachgegeben und so steuern sie ihre Familie schließlich in einem Boot über das Karibische Meer. Doch vor Problemen lässt sich nicht davonsegeln, und Probleme haben Michael und Juliet jede Menge – miteinander, mit anderen und mit sich selbst; beide schleppen unverarbeiteten, zum Teil nie ausgesprochenen Ballast mit sich herum. Immer wieder wird außerdem deutlich, dass es Juliet in der Romangegenwart absolut nicht gut geht. Sie sitzt in einem Schrank, während sie ihren Part der Geschichte erzählt. In Michaels Schrank. Michael dagegen schildert seine Gedanken im Logbuch des Schiffes. Die Diskrepanz zwischen den beiden Perspektiven erzeugt eine unterschwellige Spannung, die Sogwirkung entwickelt. Wie das Segelboot der beiden steuert die Geschichte auf etwas zu, aber Autorin Amity Gaige lässt die Lesenden lange im Unklaren darüber, wohin die Reise geht.

Und so navigiert sie mit sicherer Hand zwischen Drama, Abenteuerroman, Familiengeschichte und Psychogramm einer Ehe hin und her. Es geht um den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch um den Umgang mit Ängsten und Traumata. Verschiedenste zwischenmenschliche Untiefen werden nach und nach gnadenlos ausgeleuchtet. Und immer wieder fordert das Meer volle Aufmerksamkeit und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Protagonisten. Ein ungewöhnlicher Roman, bei dem mir sehr lange nicht klar war, worauf er hinausläuft, der mich aber trotzdem (oder gerade deswegen?) gefesselt hat. Intelligent geschrieben und packend erzählt.

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Veröffentlicht am 01.10.2020

Starkes Debüt, aufrüttelnd erzählt

Die Sommer
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Die titelgebenden Sommer in Ronya Othmanns Romandebüt sind die Ferien, die Leyla Jahr für Jahr bei ihren Großeltern verbringt. So weit, so normal; allerdings wohnen die Großeltern nicht an Nord- oder Bodensee, ...

Die titelgebenden Sommer in Ronya Othmanns Romandebüt sind die Ferien, die Leyla Jahr für Jahr bei ihren Großeltern verbringt. So weit, so normal; allerdings wohnen die Großeltern nicht an Nord- oder Bodensee, sondern in Kurdistan – einem Land, das es offiziell gar nicht gibt und dessen Namen Leyla auf keinen Fall vor Dritten erwähnen soll. Das jedenfalls schärft ihr kurdischer Vater seiner Tochter von Kindesbeinen an ein. Und so lebt Leyla von klein auf mit einer Schere im Kopf: Hier ihr deutsches Leben in der Nähe von München, da ihre kurdischen Sommer bei den Großeltern in Nordsyrien. Hier Wohlstand, da einfachste Verhältnisse. Hier nur die Eltern, da eine Großfamilie. Hier das Leben eines Durchschnittsteenagers, da Angehörige einer stets bedrohten Minderheit als Jesidin.

Leyla liebt ihre Sommer und Ronya Othmann gelingt es, sie für die Lesenden erfahrbar zu machen – immer wieder geht es um Licht, Gerüche, Haptik. Im Buch scheitert die Protagonistin dagegen daran, ihren deutschen Klassenkameraden und Freundinnen dieses andere Leben nahezubringen. Es rührt an, wie Leyla, die Außenseiterin mit der deutschen Mutter, im Laufe eines Sommers mehr und mehr im nordsyrischen Dorf ankommt, um dann durch ihre Abreise wieder in eine andere Welt katapultiert zu werden und im Jahr darauf erneut von vorne anzufangen.

„Die Sommer“ ist ein wichtiges Buch – über Verfolgung, Flucht und Heimatlosigkeit, ein Leben als Außenseiterin und Fremdheit im eigenen Land. Gleichzeitig ist die Grundstimmung von einer unbestimmten Sehnsucht nach Menschlichkeit, Zugehörigkeit und Frieden geprägt. Wie nebenbei erzählt Ronya Othmann die Geschichte der Jesiden; von Vertreibung, Flucht, Schikane, staatlicher Willkür und ständiger Benachteiligung. Sie erzählt sie durch Leylas Vater, der seine gesamte Freizeit vor dem Fernseher verbringt und sämtliche arabische Nachrichtensendungen verfolgt, die er finden kann. Der davon träumt, dass verschiedene Ethnien und Religionen gleichberechtigt in einer Demokratie zusammenleben – und dessen Hoffnungen mit Ausbruch des Krieges in Syrien wieder einmal zerstört werden. Ab da verbringt Leyla, inzwischen fast erwachsen, ihre Sommer in Deutschland und entfremdet sich trotzdem mehr und mehr von ihrer Umgebung. Ihre Zerrissen- und Verlorenheit sowie ihre Ohnmacht werden dabei immer erdrückender. Blass bleibt dagegen Leylas Mutter, die allerdings auch nur eine Nebenfigur ist: eine pragmatische Krankenschwester, die ihren Ehemann und dessen kurdische Verwandtschaft bedingungslos unterstützt und offensichtlich keinerlei Verwandte oder Freunde hat, mit denen sie ihre Tochter auch in Deutschland etwas verwurzeln könnte. Das fand ich etwas unstimmig, aber es war auch das einzige.

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Veröffentlicht am 27.09.2020

Temporeicher Episodenroman

Turbulenzen
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Es heißt, dass man über sechs bis sieben Ecken jeden anderen Menschen auf der Welt kennt. In diesem Episodenroman sind es 13 Ecken, die wieder zu der Person führen, bei der die Geschichte ihren Ausgangspunkt ...

Es heißt, dass man über sechs bis sieben Ecken jeden anderen Menschen auf der Welt kennt. In diesem Episodenroman sind es 13 Ecken, die wieder zu der Person führen, bei der die Geschichte ihren Ausgangspunkt genommen hat. Und aus jeder Ecke wird ein kleiner Einblick in ein Leben.

Die „Turbulenzen“ des britischen Autors David Szalay haben es in sich und führen die Lesenden einmal um den Globus. Auf jeder Strecke, an jeder Station wird ein anderer Protagonist begleitet, der mit der Hauptperson des vorigen und der des folgenden Kapitels in mal mehr, mal weniger loser Verbindung steht. Was alle eint: eine gewisse, mindestens temporäre Einsamkeit, wie man sie z.B. erlebt, wenn man alleine eine Flugreise antritt. Außerdem sind alle Figuren entweder bereits in „Turbulenzen“ geraten oder haben diese unmittelbar vor sich. Und so erzählen die mit Flugrouten überschriebenen Kapitel von Scheidewegen und Wendepunkten.

Obwohl man jeden Protagonisten nur ein paar Seiten lang begleitet, vermitteln diese einen lebhaften Eindruck von Charakteren und Lebenssituationen. Die kurzen Kapitel handeln von den Zufällen, die Menschen zusammenführen. Und von Schicksalsschlägen, die das Leben des einen auf den Kopf stellen und die der andere nur am Rande wahrnimmt. Der Taxifahrer oder die Sitznachbarin im Flugzeug sind schnell vergessen und ebenfalls wieder mit ihren eigenen Leben beschäftigt.

Mir hat dieser rasante Roman voller schneller Wechsel sehr gut gefallen. Die Lektüre ist wie ein temporeicherr Ritt um die Welt, eine flüchtige Begegnung folgt auf die nächste, ein Schicksal streift das andere. Sehr abwechslungsreich und doch mit Tiefgang.

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Veröffentlicht am 05.09.2020

Wenn die Vergangenheit Dich einholt

American Spy
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Lauren Wilkinsons Debüt „American Spy“ beginnt mit einer Actionszene: Wir schreiben das Jahr 1992 und die alleinerziehende Marie Mitchell wird in ihrer Wohnung in Conneticut von einem Mann überfallen, ...

Lauren Wilkinsons Debüt „American Spy“ beginnt mit einer Actionszene: Wir schreiben das Jahr 1992 und die alleinerziehende Marie Mitchell wird in ihrer Wohnung in Conneticut von einem Mann überfallen, den sie überwältigen und töten kann. Denn Mitchell ist kein leichtes Opfer, sondern eine frühere FBI-Agentin. Mit ihren beiden Söhnen und gefälschten Pässen flieht sie zu ihrer Mutter nach Martinique. Dort schreibt sie nach und nach ihre Lebensgeschichte auf und versucht gleichzeitig, Vorkehrungen für ihre Zukunft zu treffen, denn sie muss fürchten, dass dies nicht der letzte Anschlag auf ihr Leben war.

Wilkinsons Protagonistin ist keine strahlende Heldin, kein Bond-Girl mit der Lizenz zum Töten in einer „Mission Impossible“. 1955 geboren, hat sie eine durchwachsene Kindheit, die mit einem furchtbaren Verlust endet. Als Beste ihres Abschlussjahrgangs ergattert sie einen Job beim FBI, muss aber bald feststellen, dass Erfolg und Anerkennung weißen Männern vorbehalten sind. 1987 scheint ein Spezialauftrag ihre Chance zu sein, sich zu beweisen. Doch selbst in den davon handelnden Kapiteln ist Wilkinson weit davon entfernt, das Leben einer Spionin zu glorifizieren oder auch nur als besonders aufregend dazustellen: Wilde Verfolgungsjagden sind selten, Wartezeiten und Botengänge deutlich häufiger.

„American Spy“ handelt dann auch gar nicht hauptsächlich von Auftragskillern und Attentaten, sondern davon, in den 60er und 70er Jahren in Queens aufzuwachsen. Von der Bedrohung des Kalten Krieges, die Kindern schon in der Schule eingeimpft wurde. Davon, was es hieß, in den 1980er Jahren gleich doppelte Außenseiterin beim FBI zu sein: als Frau und als Schwarze. Und davon, wie ein westafrikanisches Land zum Spielball der Weltmächte wird – und eine Agentin zum Spielball ihrer Auftraggeber.

Im besten Fall eröffnen Bücher einem neue Welten und dieses ist so eines. Wer einen hochspannenden Spionagethriller erwartet, wird von „American Spy“ vielleicht sogar enttäuscht sein. Mich hat dieses Buch allerdings nachhaltig beeindruckt.

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