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Veröffentlicht am 01.10.2020

Starkes Debüt, aufrüttelnd erzählt

Die Sommer
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Die titelgebenden Sommer in Ronya Othmanns Romandebüt sind die Ferien, die Leyla Jahr für Jahr bei ihren Großeltern verbringt. So weit, so normal; allerdings wohnen die Großeltern nicht an Nord- oder Bodensee, ...

Die titelgebenden Sommer in Ronya Othmanns Romandebüt sind die Ferien, die Leyla Jahr für Jahr bei ihren Großeltern verbringt. So weit, so normal; allerdings wohnen die Großeltern nicht an Nord- oder Bodensee, sondern in Kurdistan – einem Land, das es offiziell gar nicht gibt und dessen Namen Leyla auf keinen Fall vor Dritten erwähnen soll. Das jedenfalls schärft ihr kurdischer Vater seiner Tochter von Kindesbeinen an ein. Und so lebt Leyla von klein auf mit einer Schere im Kopf: Hier ihr deutsches Leben in der Nähe von München, da ihre kurdischen Sommer bei den Großeltern in Nordsyrien. Hier Wohlstand, da einfachste Verhältnisse. Hier nur die Eltern, da eine Großfamilie. Hier das Leben eines Durchschnittsteenagers, da Angehörige einer stets bedrohten Minderheit als Jesidin.

Leyla liebt ihre Sommer und Ronya Othmann gelingt es, sie für die Lesenden erfahrbar zu machen – immer wieder geht es um Licht, Gerüche, Haptik. Im Buch scheitert die Protagonistin dagegen daran, ihren deutschen Klassenkameraden und Freundinnen dieses andere Leben nahezubringen. Es rührt an, wie Leyla, die Außenseiterin mit der deutschen Mutter, im Laufe eines Sommers mehr und mehr im nordsyrischen Dorf ankommt, um dann durch ihre Abreise wieder in eine andere Welt katapultiert zu werden und im Jahr darauf erneut von vorne anzufangen.

„Die Sommer“ ist ein wichtiges Buch – über Verfolgung, Flucht und Heimatlosigkeit, ein Leben als Außenseiterin und Fremdheit im eigenen Land. Gleichzeitig ist die Grundstimmung von einer unbestimmten Sehnsucht nach Menschlichkeit, Zugehörigkeit und Frieden geprägt. Wie nebenbei erzählt Ronya Othmann die Geschichte der Jesiden; von Vertreibung, Flucht, Schikane, staatlicher Willkür und ständiger Benachteiligung. Sie erzählt sie durch Leylas Vater, der seine gesamte Freizeit vor dem Fernseher verbringt und sämtliche arabische Nachrichtensendungen verfolgt, die er finden kann. Der davon träumt, dass verschiedene Ethnien und Religionen gleichberechtigt in einer Demokratie zusammenleben – und dessen Hoffnungen mit Ausbruch des Krieges in Syrien wieder einmal zerstört werden. Ab da verbringt Leyla, inzwischen fast erwachsen, ihre Sommer in Deutschland und entfremdet sich trotzdem mehr und mehr von ihrer Umgebung. Ihre Zerrissen- und Verlorenheit sowie ihre Ohnmacht werden dabei immer erdrückender. Blass bleibt dagegen Leylas Mutter, die allerdings auch nur eine Nebenfigur ist: eine pragmatische Krankenschwester, die ihren Ehemann und dessen kurdische Verwandtschaft bedingungslos unterstützt und offensichtlich keinerlei Verwandte oder Freunde hat, mit denen sie ihre Tochter auch in Deutschland etwas verwurzeln könnte. Das fand ich etwas unstimmig, aber es war auch das einzige.

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Veröffentlicht am 27.09.2020

Temporeicher Episodenroman

Turbulenzen
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Es heißt, dass man über sechs bis sieben Ecken jeden anderen Menschen auf der Welt kennt. In diesem Episodenroman sind es 13 Ecken, die wieder zu der Person führen, bei der die Geschichte ihren Ausgangspunkt ...

Es heißt, dass man über sechs bis sieben Ecken jeden anderen Menschen auf der Welt kennt. In diesem Episodenroman sind es 13 Ecken, die wieder zu der Person führen, bei der die Geschichte ihren Ausgangspunkt genommen hat. Und aus jeder Ecke wird ein kleiner Einblick in ein Leben.

Die „Turbulenzen“ des britischen Autors David Szalay haben es in sich und führen die Lesenden einmal um den Globus. Auf jeder Strecke, an jeder Station wird ein anderer Protagonist begleitet, der mit der Hauptperson des vorigen und der des folgenden Kapitels in mal mehr, mal weniger loser Verbindung steht. Was alle eint: eine gewisse, mindestens temporäre Einsamkeit, wie man sie z.B. erlebt, wenn man alleine eine Flugreise antritt. Außerdem sind alle Figuren entweder bereits in „Turbulenzen“ geraten oder haben diese unmittelbar vor sich. Und so erzählen die mit Flugrouten überschriebenen Kapitel von Scheidewegen und Wendepunkten.

Obwohl man jeden Protagonisten nur ein paar Seiten lang begleitet, vermitteln diese einen lebhaften Eindruck von Charakteren und Lebenssituationen. Die kurzen Kapitel handeln von den Zufällen, die Menschen zusammenführen. Und von Schicksalsschlägen, die das Leben des einen auf den Kopf stellen und die der andere nur am Rande wahrnimmt. Der Taxifahrer oder die Sitznachbarin im Flugzeug sind schnell vergessen und ebenfalls wieder mit ihren eigenen Leben beschäftigt.

Mir hat dieser rasante Roman voller schneller Wechsel sehr gut gefallen. Die Lektüre ist wie ein temporeicherr Ritt um die Welt, eine flüchtige Begegnung folgt auf die nächste, ein Schicksal streift das andere. Sehr abwechslungsreich und doch mit Tiefgang.

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Veröffentlicht am 05.09.2020

Wenn die Vergangenheit Dich einholt

American Spy
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Lauren Wilkinsons Debüt „American Spy“ beginnt mit einer Actionszene: Wir schreiben das Jahr 1992 und die alleinerziehende Marie Mitchell wird in ihrer Wohnung in Conneticut von einem Mann überfallen, ...

Lauren Wilkinsons Debüt „American Spy“ beginnt mit einer Actionszene: Wir schreiben das Jahr 1992 und die alleinerziehende Marie Mitchell wird in ihrer Wohnung in Conneticut von einem Mann überfallen, den sie überwältigen und töten kann. Denn Mitchell ist kein leichtes Opfer, sondern eine frühere FBI-Agentin. Mit ihren beiden Söhnen und gefälschten Pässen flieht sie zu ihrer Mutter nach Martinique. Dort schreibt sie nach und nach ihre Lebensgeschichte auf und versucht gleichzeitig, Vorkehrungen für ihre Zukunft zu treffen, denn sie muss fürchten, dass dies nicht der letzte Anschlag auf ihr Leben war.

Wilkinsons Protagonistin ist keine strahlende Heldin, kein Bond-Girl mit der Lizenz zum Töten in einer „Mission Impossible“. 1955 geboren, hat sie eine durchwachsene Kindheit, die mit einem furchtbaren Verlust endet. Als Beste ihres Abschlussjahrgangs ergattert sie einen Job beim FBI, muss aber bald feststellen, dass Erfolg und Anerkennung weißen Männern vorbehalten sind. 1987 scheint ein Spezialauftrag ihre Chance zu sein, sich zu beweisen. Doch selbst in den davon handelnden Kapiteln ist Wilkinson weit davon entfernt, das Leben einer Spionin zu glorifizieren oder auch nur als besonders aufregend dazustellen: Wilde Verfolgungsjagden sind selten, Wartezeiten und Botengänge deutlich häufiger.

„American Spy“ handelt dann auch gar nicht hauptsächlich von Auftragskillern und Attentaten, sondern davon, in den 60er und 70er Jahren in Queens aufzuwachsen. Von der Bedrohung des Kalten Krieges, die Kindern schon in der Schule eingeimpft wurde. Davon, was es hieß, in den 1980er Jahren gleich doppelte Außenseiterin beim FBI zu sein: als Frau und als Schwarze. Und davon, wie ein westafrikanisches Land zum Spielball der Weltmächte wird – und eine Agentin zum Spielball ihrer Auftraggeber.

Im besten Fall eröffnen Bücher einem neue Welten und dieses ist so eines. Wer einen hochspannenden Spionagethriller erwartet, wird von „American Spy“ vielleicht sogar enttäuscht sein. Mich hat dieses Buch allerdings nachhaltig beeindruckt.

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Veröffentlicht am 29.03.2020

Wenn nichts bleibt, wie es war

Was wir sind
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In den ersten Kapiteln dieses Romans fällt folgender Satz: „Du solltest an Deinen Freundschaften festhalten […]. An den Frauen. Am Ende werden nur sie für Dich da sein.“ Doch das Festhalten an Freundschaften, ...

In den ersten Kapiteln dieses Romans fällt folgender Satz: „Du solltest an Deinen Freundschaften festhalten […]. An den Frauen. Am Ende werden nur sie für Dich da sein.“ Doch das Festhalten an Freundschaften, auch oder gerade langjährigen Freundschaften, ist nicht immer einfach. Meist freundet man sich während einer ähnlichen Lebenssituation an, wenn man in räumlicher Nähe zueinander wohnt und zumindest teilweise ähnliche Interessen verfolgt. Aber was passiert, wenn sich diese Parameter ändern?

Davon handelt „Was wir sind“, der dritte Roman der britischen Autorin Anna Hope. Ihre drei Hauptfiguren Hannah, Lissa, Cate kennen sich aus Schule und Studium. Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf das Jahr 2004, als die drei 29-Jährigen gemeinsam in einer WG in London wohnen, das Wochenende und den Frühling genießen, im Park liegen, Wein trinken und den Tag vertrödeln. Doch schon sechs Jahre später sind die Weichen ganz anders gestellt: Cate hat eine Familie gegründet und ist nach Canterbury gezogen. Hannah und ihr Freund Nathan versuchen, ein Baby zu bekommen. Und Schauspielerin Lissa realisiert, dass sie ihren beruflichen Zenit mit Mitte 30 schon überschritten haben könnte.

Anna Hope räumt jeder der drei Figuren gleichermaßen Platz ein, alle Frauen kommen selbst zu Wort und berichten von ihren Erlebnissen. Zwischendurch gibt es Rückblicke, die von ihrem Kennenlernen, von Wendepunkten in ihren Leben und ihren Beziehungen zueinander erzählen. Der Roman heißt „Was wir sind“, doch was sie sind, ist Hannah, Lissa und Cate gar nicht immer so klar. Denn selbst wenn man seinen Platz im Leben gefunden zu haben glaubt, muss dieser nicht für alle Zeiten sicher sein.

Die drei Protagonistinnen sind sehr unterschiedlich, doch Anna Hope schafft es, sie den Lesern gleich nah kommen zu lassen. Berührend dargestellt werden auch die inneren Nöte, die jede der Figuren hat – obwohl sie alle Leben führen, die Außenstehende als erfolgreich, angekommen und beneidenswert beurteilen könnten. Tatsächlich beneiden Hannah, Lissa und Cate sogar einander, und auch das ist nachvollziehbar: Was einer Freundin wichtig ist, fällt der anderen vielleicht mühelos in den Schoß, was die eine sich erkämpfen muss, bedeutet der anderen wenig. Doch wie viel Diskrepanz und Distanz hält ihre Freundschaft aus?

Der Roman liest sich schnell und intensiv und hat mir aufgrund seiner abwechslungsreichen Darstellungen und der Tiefe der Figuren gut gefallen. „Was wir sind“ ist keine Feelgood-Lektüre, sondern bittersüß und stellenweise durchaus unter die Haut gehend.

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

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Veröffentlicht am 13.02.2020

Temporeich und komplex

Die Toten von Marnow
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Hätte ich an einem Büchertisch nach diesem Krimi gegriffen? Vermutlich nicht – das Cover empfinde ich als eher blass und nichtssagend und den Verfasser kannte ich bislang auch nicht, was vermutlich darin ...

Hätte ich an einem Büchertisch nach diesem Krimi gegriffen? Vermutlich nicht – das Cover empfinde ich als eher blass und nichtssagend und den Verfasser kannte ich bislang auch nicht, was vermutlich darin liegt, dass er in erster Linie Drehbuchautor ist und die meisten seiner früheren Bücher unter dem Pseudonym Gil Ribeiro veröffentlicht hat. Sie spielen alle an der Algarve. In diesem Krimi wird dagegen in Rostock ermittelt – und im titelgebenden Marnow, einem fiktiven Ort an der Mecklenburgischen Seenplatte.

Holger Karsten Schmidt holt in „Die Toten von Marnow“ zum Rundumschlag aus: Es geht um vertuschte Skandale in der deutsch-deutschen Geschichte, den Kampf gegen das vermeintlich Aussichtslose, Rache und Selbstjustiz. Im Zentrum stehen zwei Ermittler, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten: Der Rostocker Frank Elling, stolzer Familienvater, der seinen Lieben alle Wünsche erfüllen will und um 17 Uhr den Stift fallen lässt, um zu ebendiesen nach Hause zu eilen. Und Lona Mendt: Die westdeutsche Zugezogene, effizient, verschwiegen, wurzellos und in einem Wohnmobil lebend. Klingt nach einem Tatort-Duo? Dann wäre es eines, bei dem ich einschalten würde. Denn obwohl das Privatleben der Ermittler in diesem Thriller durchaus eine Rolle spielt, nimmt es nicht zu viel Raum ein, macht sie nur menschlich und ihre Handlungen nachvollziehbar. Schmidt gestaltet seine extrem unterschiedlichen Hauptfiguren gleichermaßen gelungen aus. Er beweist viel Talent bei der Darstellung von allem Menschlichen – das ihn nur bei Ellings Frau Susanne etwas im Stich gelassen hat, die erstaunlich eindimensional und klischeehaft daherkommt.

Aber nun zur eigentlichen Handlung, die im Jahr 2003 angesiedelt ist: Zunächst wird ein Arbeitsloser in seiner Wohnung ermordet. Dann ein alter, dementer Mann in einem luxuriösen Pflegeheim. Die beiden haben keine Verbindung zueinander, die Tat trägt allerdings die gleiche Handschrift. Und die Spuren weisen nach Marnow. Also beschließt Lona Mendt, ihr Wohnmobil auf dem dortigen Campingplatz aufzustellen. Doch dann kommt es zu einem ersten Showdown in Rostock – und es wird nicht der letzte bleiben …

In „Die Toten von Marnow“ überschlagen sich die Ereignisse immer wieder. Mehrmals dachte ich: „Ach, SO ein Krimi ist das“ – wenn wieder mal eine Actionszene kam oder ein anderes, nicht vorhersehbares Ereignis aus dem Nichts auftauchte und richtungsweisend wirkte. Allerdings war es das längst nicht immer, denn was in anderen Büchern eventuell noch sehr ausgewalzt worden wäre, wickelt Schmidt stets schnell und gekonnt wieder ab. Im Beschleunigen und Drosseln des Handlungstempos ist er ein wahrer Meister, nie gibt es Längen – dafür jedoch immer wieder Überraschungen. Vor Action schreckt der Autor bei keiner Gelegenheit zurück – wenn das Ganze ein Tatort wäre, dann vermutlich einer mit Till Schweiger. Wobei Schmidt durchaus auch mal leise Töne anschlägt und sich Zeit für langsame Entwicklungen nimmt. Und so steuert die Handlung in ganz verschiedene Richtungen, während die Spannung immer weiter steigt.

Einige der Protagonisten in „Die Toten von Marnow“ haben mehr Glück als Verstand. Gestört hat mich das allerdings kaum und ich habe diesen Krimi als sehr gelungen empfunden, weil er gleichzeitig komplex und spannend ist und darüber hinaus eine ungeheuerliche Geschichte erzählt. Der NDR verfilmt ihn als vierteilige Miniserie, die nächstes Jahr ausgestrahlt werden soll – ob die vielen Facetten und Untertöne dabei erhalten bleiben? Ich bin gespannt.

Ich habe dieses Buch als Leseexemplar erhalten.

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