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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.09.2020

Liebe Frau Seeberg, gell, Sie schreiben noch mindestens eine Fortsetzung?

Der falsche Preuße
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Wilhelm Freiherr von Gryszinski ist ein Mann zum Liebhaben. Trotz seiner streng preußischen Erziehung (man denke nur an seine sauertöpfische Mutter und den schweigsamen Vater) scheut er sich nicht, zärtlich ...

Wilhelm Freiherr von Gryszinski ist ein Mann zum Liebhaben. Trotz seiner streng preußischen Erziehung (man denke nur an seine sauertöpfische Mutter und den schweigsamen Vater) scheut er sich nicht, zärtlich zu seiner Frau zu sein, seinen Sohn zu herzen und mit ihm zu schmusen, mit seiner Frau seine beruflichen Probleme zu besprechen, Leben und Essen in München zu genießen, so gut wie nie eine Waffe zu tragen und vor allem: immer seinem Gewissen zu folgen. Standesdünkel und Imponiergehabe sind ihm fremd. Wenn es darauf ankommt, weiß er aber sich sehr wohl zu wehren und auch Gebrauch von einer Waffe zu machen.
Und da war noch München. Zur Jahrhundertwende war das eine aufstrebende Stadt, Magnet für Künstler, Industrie-Magnaten, Neureiche, kurz, die Schickeria. Die Wohnviertel von ehemals, die Einkaufsläden, die Marktbuden, die Häuser mit ihren Bel-Etagen, die Straßen mit Droschken, Pferdefuhrwerken, Pferde-Straßenbahnen und ein paar handgezählten Automobilen, alles wird so detailliert und liebevoll beschrieben, dass der Leser sich wie auf einer Zeitreise fühlt. Und das Essen: da ist nix mit Fusion-Food, vegan, probiotisch, Paleo usw. Nur bodenständiges, traditionelles, gehaltvolles Essen. OK, Curry-Wurst (Berlin) oder Schäufele (Nürnberg) war zwar nicht dabei, muss auch nicht, aber urig bajuwarische Haupt- und Zwischenmahlzeiten satt.
Interessant fand ich die Anfänge der Kriminalistik, die eingehend beschrieben werden. Fingerabdrücke, Messungen von Gliedmaßen, Kopfumfängen, Beschreibungen der Ohrläppchen, es ist alles dabei.
Jedem Kapitel ist ein Zitat aus Hans Groß‘ “Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen usw.“ vorangestellt. Diese Zitate an sich sind interessant, ist das Buch ja der Grundstein der Kriminalistik. Hans Groß hat diese Wissenschaft praktisch aus der Taufe gehoben, hat Begriffe geprägt, die Terminologie erst erschaffen.
Das Buch selber ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet: Sehr ansprechender Schutzumschlag, Lesebändchen, Textbanderole und auf der Innenseite des Einbandes ein Stadtplan von München um die Jahrhundertwende mit den wichtigsten Straßen und Gebäuden.

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Veröffentlicht am 05.09.2020

Rasante Berg- und Talfahrt

Das Gewissen der Toten
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Ein Polizist überlebt als einziger einen Flugzeugabsturz. Damit muss er erst mal psychisch klarkommen. Als er wieder in den aktiven Polizeidienst zurückkehren will, scheint das seinen Kollegen Probleme ...

Ein Polizist überlebt als einziger einen Flugzeugabsturz. Damit muss er erst mal psychisch klarkommen. Als er wieder in den aktiven Polizeidienst zurückkehren will, scheint das seinen Kollegen Probleme zu bereiten. Die Begründung klingt plausibel. Es ist aus Sorge um ihn und nicht aus niederen Beweggründen. Nachdem er zuerst monatelang andere Fälle vom Schreibtisch aus gelöst hat und die ganze Schreibarbeit dafür geleistet hat, will er endlich wieder in den aktiven Dienst treten. Nach einigem Zögern willigen die Chefetagen und Kollegen ein, auch weil derzeit jeder fähige Polizist benötigt wird. Carter gelingt es beizeiten eine Entführung zu verhindern und darf nun endlich am wichtigen Fall mitarbeiten, ein Fall der ihm auf der Seele brennt. Weil Carter als einziger den Absturz überlebt hat, fühlt er sich in der Pflicht seinen verstorbenen besten Freunden über den Tod hinaus die Treue zu halten und etwas für sie oder ihre hinterbliebenen Familien zu tun.
Carter tut das und löst damit einen Theaterschlag nach dem anderen aus. Nichts ist so, wie es scheint, Sachverhalte die uns anfänglich klar und gesichert erschienen, wenden sich plötzlich um 180 Grad, der Gute wird zum Bösen oder nicht. Letztendlich erfüllt Carter alle Wünsche seiner drei Freunde und das ist für ihn die Hauptsache.

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Veröffentlicht am 13.08.2020

OJ & ER – ein Liebespaar das Romeo und Julia in nichts nachsteht

#ichwillihnberühren
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Dieses Buch löst Polarisierungen auf. Wer bis dato eine Aversion gegen gleichgeschlechtliche Liebe hatte und Vorurteile hegte, kann sie nach der Lektüre kaum aufrecht erhalten. Die Probleme die sich in ...

Dieses Buch löst Polarisierungen auf. Wer bis dato eine Aversion gegen gleichgeschlechtliche Liebe hatte und Vorurteile hegte, kann sie nach der Lektüre kaum aufrecht erhalten. Die Probleme die sich in der Anbahnung einer gleichgeschlechtlichen Beziehung auftun, der Zwiespalt, die Unsicherheit, die Angst vor Ablehnung, Blamage, Spott, die heimliche Liebe die nicht gezeigt werden darf und die doch mit aller Macht nach außen dringt, all das wird hier meisterhaft beschrieben. Zu keiner Zeit aufdringlich, vulgär oder stereotyp, ist der Stil alltagstauglich und eben wie er heutzutage in Chats gepflegt wird. Was ich toll fand, war das in den Chats keine Trolle zu Wort kamen. Überhaupt die Chats, die kann man insgesamt und in corpore als wichtige Nebencharaktere neben den zwei Hauptgestalten betrachten. Sei es der Chat mit der einen Freundin, oder der große Chat mit der Jodel-Community, beide sind voller Ratschläge, Tipps, stehen den jungen Männern zur Seite. Die vielen Emoticons die die Kommentare begleiteten fand ich passend. (Ich gestehe, ich verwende auch recht viele in meinen Chats). Und das Cover des Buches war einfach nur toll, all die Emoticons und Zeichen die unsere Interaktion mit Handy oder I-Phone begleiten waren alle da.

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Veröffentlicht am 13.08.2020

Beklemmend und anklagend

Guten Morgen, Genosse Elefant
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Zuerst dachte ich es handelt sich um eine Beschreibung der stalinistischen Ära aus der Perspektive eines „tumben Tors“, eines Kindes das unschuldig mitten ins Machtzentrum Sowjetrusslands der fünfziger ...

Zuerst dachte ich es handelt sich um eine Beschreibung der stalinistischen Ära aus der Perspektive eines „tumben Tors“, eines Kindes das unschuldig mitten ins Machtzentrum Sowjetrusslands der fünfziger Jahre geworfen wird. Aber es ist viel mehr als das. Das Buch zeigt die ganze Schonungslosigkeit eines menschenverachtenden Regimes auf, in der sich die Potentaten gegenseitig verraten und zerfleischen, eines Regimes das selbst vor Kindern nicht halt macht. Sie werden gefoltert, verstümmelt, in den Kerker geworfen. Ein Regime dem Menschenleben nichts gelten, ganze Berufs- und Völkergruppen werden in den Gulag gesperrt oder hingerichtet, Hungersnot wird mit einem Achselzucken abgetan, solange der eigene Tisch reich gedeckt ist und der Wodka fließt.
Einziger Lichtblick: der stählerne Vater des Vaterlandes, die Sonne der Sowjetvölker, der Gärtner menschlichen Glücks, der Architekt der Freude, überlebt all seine Schlaganfälle und wird aber von „Bruhah“ (Beria) heimlich auf die Straße geworfen, wo er unter Pennern und Alkoholikern seine letzten Tage fristet, von einstiger Macht und Rache träumend. Wer liegt aber einbalsamiert im Sarg? Es ist einer der Doppelgänger Stalins, die nur ihres Aussehens wegen ein Leben im Verborgenen führen müssen und bei diversen öffentlichen Auftritten Stalins in Erscheinung treten. Bruhah (Beria) der sadistische Leiter des sowjetischen Geheimdienstes lässt es sich nicht nehmen, Juri, den etwas einfältig wirkenden aber hoch intelligenten Jungen persönlich die Nase zu brechen, einen Finger abzuschneiden, ihn in einer Zelle in der Lubjanka ohne Nahrung und Wasser fast verrotten zu lassen. Kleine Genugtuung: wenige Monate nach Stalins Tod wird Beria auch verhaftet und der Prozess gemacht. Onkel Kruschka im Buch ist in Wahrheit Stalins Nachfolger, Nikita Chruschtschow, der die von Beria begonnene Entstalinisierung massiv vorantrieb.
Auch die anderen im Buch genannten Potentaten gab es wirklich, gehörten zu Stalins Dunstkreis und haben Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.
Der einzige der Machthaber, der Juri vor Beria in Schutz nimmt nach Stalins Tod, ist Bulgirow, im echten Leben Nikolai Bulganin, späterer Ministerpräsident der UdSSR.
Der Titel des Buches ergibt sich aus einem Vergleich den Juri zwischen Stalin und Genossen Schango zieht, dem boshaften Elefant des Moskauer Zoos. „Wie der andere Genosse Elefant ist er jemand, der sich an seiner Rache freut“ (S. 238).
Das Titelbild ist zweideutig: ist es nur der rote Sowjetstern oder ist es auch gleichzeitig eine abgewandelte Halsgeige, das mittelalterliche Folterinstrument? Das Buch hinterlässt einen bitteren Geschmack. Juri überlebt. Aber wie? Er steht nun ganz alleine da. Er weiß nun, dass seine Mutter tot ist. In der Lubjanka lag er eine Zeitlang in einer Zelle, in der Nachbarzelle lag sein Vater. Sie verständigten sich durch Klopfzeichen, bis der Vater eines Tages zu schwach war, noch zu klopfen. Juri aber glaubt, sein Vater wurde fort gebracht und nun hofft er und wartet auf seine Rückkehr. Eine Rückkehr die immer unwahrscheinlicher wird.
Die Sprache ist zauberhaft: naiv, humorvoll aber durch ihre Bildhaftigkeit und unerwarteten Redewendungen stimmt sie uns nachdenklich, lässt uns oft erst im Nachhinein das ganze Ausmaß der erzählten Begebenheiten gewahr werden.
Doch trotz der Bitterkeit, das Buch ist faszinierend, es ist schön, es ist bittersüß. Und es ist vor allem sehr lesenswert, auch wenn man sich mit der Geschichte des stalinistischen Russland nicht auskennt.

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Veröffentlicht am 13.08.2020

Atemberaubender Psychothriller

Tagebuch meines Verschwindens
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Dabei ist es ein Thriller der leisen Art. Ort des Geschehens ist nicht die Welt und touristisch anziehende Orte, wie in einem James Bond oder Jason Bourne Film, sondern ein kleines, halb verlassenes Provinzkaff ...

Dabei ist es ein Thriller der leisen Art. Ort des Geschehens ist nicht die Welt und touristisch anziehende Orte, wie in einem James Bond oder Jason Bourne Film, sondern ein kleines, halb verlassenes Provinzkaff Ormberg.
Die Polizisten die den Fall aufklären sind keine glamourösen Ermittler oder CSI-Spezialisten sondern eine der Demenz verfallende Polizistin, eine junge Polizistin die ihrem biederen engstirnigen Verlobten den Laufpass gibt, ein dicker Polizist der Wert auf sein Äußeres legt, ein Polizist der seine Scheu und Bewunderung für die junge Kollegin hinter dummen Aufreißersprüchen versteckt. Es wäre schön, noch andere Fälle von diesem Team lösen zu lassen, gell Frau Grebe?
In diesem Buch fließt das Blut nicht in Strömen, es explodieren weder Brücken noch Autos, es sterben insgesamt „nur“ 3 Menschen, und das in einem Zeitraum von mehreren Jahren. Die Täter sind nicht Superschurken, die die Welt erobern wollen, sondern Bürger, die, wenn sie nicht gerade ihre Mitmenschen umbringen, den anderen hilfsbereit und freundlich entgegenkommen. Und doch ist das Buch so spannend, dass man es kaum aus der Hand legen mag.

Immer wieder taucht das Flüchtlingsheim in Ormberg im Roman auf. In den Neunzigern war es ein Heim für Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, nun, in der Gegenwart sind es muslimische Flüchtlinge aus Syrien. Damals wie jetzt sehen sich die Flüchtlinge den Schikanen der ansässigen Bevölkerung ausgesetzt. In den Augen vieler Ormberger sind sie schuld an der Tristesse und Misere, dabei waren die Fabriken lange bevor die Flüchtlinge ankamen, schon geschlossen, in Billiglohnländer abgewandert. Aber es ist doch so einfach einen Sündenbock für die eigene Trostlosigkeit zu finden. Und dann vergisst so mancher, dass er aus eigenem Verschulden lange vor der Fabrikschließung entlassen wurde; oder weil keine Arbeit im Ort ist, wird eine Bohrinsel im Atlantik erfunden, wo der Vater arbeitet, dabei sitzt der im Gefängnis wegen Pädophilie. Wenn man genauer hinsieht, entdeckt man überall in Ormberg Zeichen und Spuren des Zerfalls, der Gewalt, die alle bedroht. Sanas Mutter hat einen Freund, der schonmal wegen Gewalt verurteilt war. Bloß Margareta und ihr Sohn, Magnus, der harmlose Dorftrottel Magnus, helfen und leben für die Gemeinschaft. Margareta verteilt Elchfleisch, setzt sich für Verbesserung der Straßen und der öffentlichen Beleuchtung ein, auch für das Flüchtlingsheim.
Ich frage mich, ob Ormberg nicht überall ist? Überall dort wo Unzufriedenheit, Neid, Existenzangst, Missgunst vergessen lassen, wie gut es uns geht. Uns vergessen lassen, dass wir ein Dach über dem Kopf haben, jeden Abend satt zu Bett gehen, wir nicht verfolgt, getötet oder deportiert werden wegen unseres Glaubens, unserer Hautfarbe.
Ein paar Worte über die Aufmachung des Buches: spannendes Titelbild, der Zusammenhang zwischen Bild, Titel und Buchinhalt erschließt sich im Verlauf. Das Klappeninnenbild unterstreicht die Abgeschiedenheit und Verlorenheit Ormbergs, irgendwo in und hinter dichten dunklen Fichtenwäldern.

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