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Veröffentlicht am 22.09.2020

Eine überaus mitnehmende, märchengleiche Geschichte, deren Weisheit ins Hier und Jetzt strahlt

Der Halbbart
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"Der Halbbart" von Charles Lewinsky ist vollkommen zurecht auf der Longlist für den deutschen Buchpreis gelandet, denn sein mittelalterliches Werk rund um Sebi und seine Wegbegleiter ist einnehmend, emotional ...

"Der Halbbart" von Charles Lewinsky ist vollkommen zurecht auf der Longlist für den deutschen Buchpreis gelandet, denn sein mittelalterliches Werk rund um Sebi und seine Wegbegleiter ist einnehmend, emotional und gleichzeitig mit so vielen erleuchtenden Momenten gesegnet, die über die Zeilen hinaus einen klaren Mehrwert für den Leser generieren. Charles Lewinsky schafft es das Mittelalter in seiner Komplexität so anschaulich zu verpacken, dass die Parallelen zu unserem heutigen Leben auf dem Silbertablett serviert werden. Der Leser kommt nicht umhin, inne zu halten und das Ganze auf sich wirken zu lassen. Anregende Reflektionen, nachhallende Momente und der metallische Geschmack von Blut auf der Zunge inklusive.

Sebi ist nur ein einfacher Bub und lebt mit seiner Familie in eben diesem kleinen Dorf. Als ein Fremder zu der Gemeinde stößt, begegnet diese ihm mit Abkehr. Sebi jedoch erkennt sogleich, dass der fremde Mann in seiner Sonderbarkeit besonders ist und tauft in kurzerhand Halbbart. Er lehrt Sebi über die Vielfältigkeit des Lebens, Freud und Tragödie, die Doppelzüngigkeit der Menschen, die Konsequenzen von Entscheidungen und das richtig oder falsch in vielerlei Kontext relativ ist. Der Leser begleitet Sebi auf einer erstaunlichen Reise durch das 14. Jahrhundert, durchtränkt mit den Tücken und Abgründen der Zeit, dem Spagat zwischen Glauben und Aberglauben, sowie vor allem dem Bewusstsein, dass der schwierigste Weg, der zu sich selbst ist.

Der Schreibstil ist zunächst gewöhnungsbedürftig, mit Glossar und etwas Übung ist es jedoch einfach in die Authentizität der skizzierten Zeit abzutauchen. Die Sprache reicht von malerisch, lyrisch und Metaphern reich über zu blutig, ehrlich und sehr detailliert. Der Erzählstil ist auch besonders, wird alles nur aus der Sicht von Sebi erzählt, der das Ganze in einer intimen, mit Anekdoten gespickten Geschichte verpackt, in der er zu keiner Zeit ehrliche Worte scheut. Sebi ist dabei gefühlt eine alte Seele in einem jungen Körper und seine Entwicklung zu verfolgen war für mich der spannendste Aspekt des gesamten Buches, weil er immer wieder über sich hinauswächst. Viele Charaktere, die ihn auf dieser Reise begleiten, sind sehr liebevoll skizziert, teilweise nahbar, teilweise distanziert und mit Abscheu zu betrachten. Das verleiht aber der Geschichte eben diesen authentischen, roten Faden, denn anders ist diese Zeit auch nicht darstellbar, ohne an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Der Roman ist in viele, kleine Kurzgeschichten verpackt, sodass die Kapitel nicht endlos erscheinen. Das Buch zu lesen, war ein wahrer Genuss für mich und hat mich oft innehalten lassen, denn die Weisheiten und kleinen Geschichten am Rande erscheinen gerade in unsteten Zeiten wie diesen aktueller denn je. Ich habe selten ein Buch gelesen, dass so viel Zeit einfordert, zum Nachdenken zwingt und dabei so leicht zu lesen, dass die Seiten trotz ihrer Vielzahl im Nichts verschwinden. Eine Empfehlung für alle, die Märchen mögen, das Mittelalter in all seinen Facetten lieben und Literatur schätzen, die über den Tellerrand hinauszublicken vermag. Nachhallend, einnehmend und unglaublich tiefsinnig!

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Veröffentlicht am 13.09.2020

Personal Branding kann so einfach sein- wenn du weißt, wie es geht!

Nur wer sichtbar ist, findet auch statt
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Das neue Sachbuch von Tijen Onaran mit dem Titel "Nur wer sichtbar ist, findet auch statt" beschäftigt sich eindrücklich, nahbar und mit natürlichen Beispielen und Hacks mit dem sehr persönlichen Thema ...

Das neue Sachbuch von Tijen Onaran mit dem Titel "Nur wer sichtbar ist, findet auch statt" beschäftigt sich eindrücklich, nahbar und mit natürlichen Beispielen und Hacks mit dem sehr persönlichen Thema Personal Branding, Fokus auf soziale Netzwerke gesetzt.

Tijen Onaran findet einen sehr persönlichen Einstieg in das Thema über ihre eigenen Erfahrungen, was das ganze Pamphlet für den Leser direkt realistischer wirken lässt und auf Augenhöhe holt. Viele Sachbücher verlieren ihren Leser bereits zu Beginn mit Tipps und Tricks, die von oben herab diktiert werden, in diesem Fall hingegen wird der Leser sympathisch abgeholt, mit offenen Armen empfangen, unabhängig seiner vorherigen Vorbereitung zum Personal Branding. Die Kapitel sind klar und deutlich gegliedert, bauen aufeinander auf und greifen thematisch ineinander wie Zahnräder eines Uhrwerks. Der Stil ist leicht, erzählend und gleicht einem Roman, daher liest es sich trotz der Komplexität des Themas schnell und flüssig. Dabei bleibt die Einfachheit bei Erklärungen im Vordergrund, inkludiert so jeden Leser mit beliebigem Background. Herauszuheben sind die schlüssigen Zusammenfassungen am Ende, sowie die Animation das Ganze für sich auszuprobieren, zu hinterfragen und zu reflektieren, eben seinen eigenen Standpunkt zu definieren. Dabei schafft es Tijen Onaran diese sehr schwer zu definierenden Themen immer wieder sympathisch zu be- und umschreiben, Rahmen abzustecken, ihre eigenen Unsicherheiten zu integrieren und dabei aber auch Raum zu lassen für den Leser, der bei dem ganzen Spiel um das Thema Branding vielleicht seine Rolle noch nicht gefunden hat. Es geht nicht darum einen Leitfaden zu bieten für die beste Definition von eigener Darstellung, sondern seinen eigenen Weg zu finden und Möglichkeiten, Diversität aufzuzeigen. Für mich persönlich sind nicht alle Kapitel gleich wertvoll aufgrund meiner Vorbildung und nicht alle Tipps und Tricks umsetzbar, den Anspruch erhebt das Buch jedoch auch nicht. Perfekt geeignet für alle, die sich immer schon gefragt haben, wie sie das Beste aus sich selbst herausholen können und die Social Media eher als ein Netz der Verwirrung ansehen, denn als reale Plattform, die die eigene Position stärken kann.

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Veröffentlicht am 24.08.2020

Zerbrechlich und sensibel- die letzte Reflektion eines großen Künstlers

Der letzte Satz
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Gustav Mahler sitzt eingewickelt in Decken auf dem Deck der Americana und blickt seiner letzten Reise entgegen von New York nach Wien, begleitet von Erinnerungen, Erfolgen und Echtzeitaufnahmen lässt er ...

Gustav Mahler sitzt eingewickelt in Decken auf dem Deck der Americana und blickt seiner letzten Reise entgegen von New York nach Wien, begleitet von Erinnerungen, Erfolgen und Echtzeitaufnahmen lässt er sein Leben Revue passieren. Robert Seethaler nimmt den Leser mit auf dieser einzigartigen, eindrucksvollen Reise, die über die letzten Zeilen in die Welt hinaushallt.

Trotz der Kürze des Romans war der Inhalt sehr intensiv, authentisch und es bedarf keiner weiteren Zeilen, da er komplett, in sich schlüssig und schlussendlich fließend erscheint. Der große Künstler, der sowohl auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken kann, als auch eine liebende Familie, was ihn mit unglaublich viel Wärme und Glück erfüllt. Gleichzeitig ist er Künstler, hadert mit sich, dem Leben, der Liebe und auch seinen Werken. Diese Zerissenheit zwischen den Zeilen, diese Zerbrechlichkeit und teilweise geschilderte Hochsensibilität, gepaart mit vielerlei Widersprüchen zeichnet für mich ein so emotionales, zugleich reales Bild eines Mannes, der das beste Leben gelebt hat, das er konnte, jedoch nicht das beste, was er vielleicht wollte. Die innere Auseinandersetzung zwischen Akzeptanz, dem Bewusstsein um die schönen, erlebten Momente und dem Wunsch nach mehr, dem Gefühl, dass alles nicht reicht, wird begleitet mit wunderschönen, malerischen Schilderungen, Zeitsprüngen und Dialogen. Präzise und fein säuberlich bleibt am Ende die Frage nach dem Glück für mich, im Leben, in der Liebe und im Tod. Wann ist ein Leben lebenswert und wann bereue ich verpasste Chancen? So eindrücklich hat für mich bisher noch kein Autor die letzte Reise eines Menschen verpackt.

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Veröffentlicht am 10.08.2020

Lyrisch und nahbar- ein emotionaler Ausflug in eine bewegte Vergangenheit

Das Leben ist ein wilder Garten
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Der Roman "Das Leben ist ein wilder Garten" von Roland Buti ist ein kurzweiliges, dabei jedoch intensives Portrait des Lebens eines Mannes, dessen Detailreichtum den Leser nachhaltig begeistert.

Der Protagonist ...

Der Roman "Das Leben ist ein wilder Garten" von Roland Buti ist ein kurzweiliges, dabei jedoch intensives Portrait des Lebens eines Mannes, dessen Detailreichtum den Leser nachhaltig begeistert.

Der Protagonist Carlo, Landschaftsgärtner aus Leidenschaft, kämpft nachhaltig mit der Tatsache, dass seine Frau Ana ihn verlassen hat. Seine Tochter Mina ist in London und somit ebenfalls aus seinem Sichtfeld verschwunden. Sein Kollege Agon ist die verlässliche Konstante in seinem Leben, steht ihm mit Rat und Tat zur Seite. Als Carlos demente Mutter aus dem Heim verschwindet, beginnt für ihn eine Reise in eine ihm unbekannte Vergangenheit seiner Mutter, die tatsächlich mehr Auswirkungen auf sein eigenes Leben hat, als er bis dato ahnt.

Mir hat der Roman wirklich gut gefallen. Prägnant und kurz bringt der Autor das Geschehene auf den Punkt, nimmt den Leser mit, der relativ schnell die einzelnen Charaktere als Ganzes begreift, ihre Wünsche und Träume, aber auch ihre Ängste und Sorgen. Ich mag das vielfältige Spektrum der kleinen Randgeschichten, die doch so detaillreich aufwarten, dass sie mich nachhaltig berührt haben. Ich bin generell ein großer Fan von langen, ausschweifenden Romane, weil ich persönlich glaube, dass dadurch eine komplexere Verbindung zu den Protagonisten hergestellt werden kann. In diesem Fall schafft der Autor trotz der kurzweiligen Lesedauer genau das zu erreichen. Die Schilderungen in ihrer kleinen, feinen, kurzen Art sind gespickt mit Emotionen, die selbst Unausgesprochenes zwischen den Zeilen nachwirken lassen.

Für mich eine klare Empfehlung für alle, die sich bereits selbst schon einmal mit der Vergangenheit der Familie auseinander gesetzt haben und realisieren, dass vieles unausgesprochen ist und es manchmal auch so bleibt. Nahbar, emotional und leicht flüssig geschrieben- ein leichter Roman mit erstaunlicher Tiefe.

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Veröffentlicht am 04.09.2021

Es liegt in der Luft

Tote schweigen nie
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Eine Mischung aus Formaldehyd, Desinfektionsmittel und Süße der Verwesung liegt in der Luft, unverkennbar und doch so unbekannt. Direkt zu Beginn und immer wieder zwischen den Zeilen der Worte dieses Thrillers. ...

Eine Mischung aus Formaldehyd, Desinfektionsmittel und Süße der Verwesung liegt in der Luft, unverkennbar und doch so unbekannt. Direkt zu Beginn und immer wieder zwischen den Zeilen der Worte dieses Thrillers. Kleine Nuancen, die zur besonderen Atmosphäre dieses Thrillers beitragen. Der Geruch des Todes, in seiner gänzlichen Blüte, auf normalem Wege oder herbeigeführt durch die Hand anderer. Und doch ist in der Leichenhalle diese unglaubliche Ruhe, durchbrochen von Zeit zu Zeit durch die wenigen Worte, die die Verstorbenen an Cassie Raven richten, Assistentin der Gerichtsmedizin. Vielleicht ist es Aberglaube, vielleicht ist es eine spirituelle Kraft, oder auch einfach nur ihr Auge für die Details, die ihren ersten großen Fall ins Rollen bringen.

Cassie Raven liebt ihren Job- das mögen andere absonderlich finden, denn den Großteil verbringt sie in der Leichenhalle-, doch ihr Talent gibt ihr Recht. Äußerlich Gothic Punk und eher distanziert, schafft sie es, durch ihre empathischen Fähigkeiten und Genauigkeit in ihrer Analyse Verborgenes zutage zu bringen und selbst klare Todesfälle zu hinterfragen. Eines Tages erblickt sie ihre Mentorin auf dem Seziertisch, ein Badewannenunfall, wie er gelegentlich passieren kann, nicht unbedingt außergewöhnlich. Doch Cassie lässt dieser Fall nicht mehr los und schnell findet sie sich in einem Strudel der Ereignisse wieder.

Der Stil ist leicht, die Satzung etwas gewöhnungsbedürftig, dann aber stößt sich der Leser nicht mehr an dieser. Besonders Cassie Raven ist für mich wirklich gut gezeichnet, wirkt mehrdimensional und dadurch vielschichtig, interessant, glaubwürdig, angenehm verrückt und auf ihre Art und Weise sympathisch. Der Fall beinhaltet alles, was sich Thriller Fans nur wünschen können: Angst, Trauer, Melancholie, dazu Spannung und eng verwobene Handlungsstränge, falsche Richtungen, alte Geschichten, Erinnerungen und neue Wendungen. DS Phyllida Flyte, die als Kommissarin ebenfalls eine Rolle spielt, konnte mich nicht auf ganzer Linie überzeugen, ihre Gedankengänge und Wesenszüge wirkten auf mich manchmal zu sprunghaft und konstruiert. Trotzdem ein würdiger Auftakt einer sicherlich spannenden Serie, der ich mit freudiger Erwartung entgegenblicke.

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