Die fünf Kurzgeschichten in Anna Gavaldas "Ab morgen wird alles anders" unterscheiden sich stark in Thema, Sprache und Umfang. Gemeinsam ist ihnen die Erzählperspektive: alle Geschichten verfügen über einen Ich-Erzähler.
Die Geschichten spielen in Frankreich - teilweise in Paris, teilweise ist die Stadt nicht weiter erwähnt. Anders als das Cover vermuten lässt, handelt es sich also nicht um ein typisches Paris-Buch.
So unterschiedlich die Protagonisten in Alter, Beruf und sozialer Herkunft, so verschieden auch ihre Sprache. Das ist für mich das Highlight dieses Buches: Anna Gavalda gibt jedem Ich-Erzähler seine eigene Ausdrucksweise und Sicht auf die Welt. Dabei trifft sie den Nerv der Zeit: Menschen auf der Suche nach sich selbst und auf ihrem Weg durch unsichere Zeiten. Interessanterweise spielt Terror hier keine Rolle - vielleicht auch, weil die Originalausgabe bereits 2014, also vor den großen Anschlägen in Frankreich, erschienen ist. Stattdessen sind wirtschaftliche Sorgen, prekäre Arbeitsverhältnisse, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Thema. Wem das zu düster klingt, dem sei gesagt, dass Anna Gavalda diese Themen keinesfalls in deprimierenden Texten verpackt.
Insgesamt kann ich sagen, dass Sprache und Gedankengänge der Protagonisten vor der eigentlichen Handlung stehen. Hier gibt es schöne Sätze und Absätze. Wer sich an Sprache erfreut, vielleicht sogar gerne Passagen anstreicht oder herausschreibt, dem gefällt dieses Buch bestimmt.
Ich finde es aber schade, dass dafür der Plot der Geschichten hintenan steht. Wer große Überraschungen und Action erwartet, wird hier enttäuscht. Manche Geschichte ließ mich etwas ratlos zurück. So ist die Geschichte eines Familienvaters in "Meine Kraftpunkte" schon ziemlich lapidar.
Die beiden längeren Geschichten "Mathilde" und "Yann" (jeweils ca. 100 Seiten) gefielen mir hingegen gut. Liegt es daran, dass mir diese beiden Protagonisten am sympathischsten waren und nahe stehen oder eventuell auch daran, dass ich (im Vergleich zu den drei weitaus kürzeren Geschichten) mehr als doppelt so viele Buchseiten Zeit hatte, sie so gut kennen zulernen? Trotz der reduzierten Handlung fieberte ich hier mit den Protagonisten und konnte mich gut in sie hinein versetzen. Beide sind Anfang/Mitte zwanzig und sehen trotz Studium wenig Perspektive für ihre Zukunft.
Ein nicht ganz runder Geschichten-Band, bei dem es sich aber lohnt auf die Feinheiten zu achten.