Sprachliche Virtuosität, gepaart mit tiefster Menschlichkeit – hinreißend!
Der HalbbartDie Schweiz 1313: der halbwüchsige Sebi lebt mit 2 Brüdern und seiner Mutter in einem kleinen Dorf mehr schlecht als recht und oft von der Hand in den Mund. Und weil der Sebi für ein Handwerk nicht gemacht ...
Die Schweiz 1313: der halbwüchsige Sebi lebt mit 2 Brüdern und seiner Mutter in einem kleinen Dorf mehr schlecht als recht und oft von der Hand in den Mund. Und weil der Sebi für ein Handwerk nicht gemacht und weil ihm die Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen aufgrund seiner Herkunft verwehrt ist, sucht er nach seinem Platz im Leben. Dabei hilft ihm „Der Halbbart“, der plötzlich am Rande des Dorfes auftaucht, fremd und fremd aussehend, an Leib und Seele gezeichnet, weise und weitblickend. Und so begleitet der Leser Sebi während seiner Entwicklung vom Kind zum jungen Mann und wird durch Sebis Augen zum Zeitzeugen der Schweiz des späten Mittelalters.
Es ist die Zeit der Judenprogrome, die Zeit von König und Gegenkönig. Es ist die Zeit der Herrschaft der Habsburger und der Kampf der Schweizer Eidgenossen um Unabhängigkeit wird in die Geschichte eingehen. Es ist auch die Zeit tiefer Gläubigkeit und genauso ausgeprägten Aberglaubens. Es ist die Zeit von Hass, Grausamkeit und bitterer Armut, von der Lehre der Unfehlbarkeit der Kirche und ihrer daraus resultierenden Unantastbarkeit und Allmacht. Es ist aber auch die Zeit überlieferten Kräuterwissens, erster weitergehender medizinischer Erkenntnisse und der bauernschlauen Wehrhaftigkeit gegen die verhasste Obrigkeit, die weit entfernt vom Leben der ländlichen Dorfgemeinschaften schaltet, waltet, prasst und völlt.
‚Der Halbbart‘ ist weit mehr als nur ein historischer Roman, zu viele Themen verbergen sich in den Geschichten in der Geschichte, zu viel Heutiges reflektiert im Gestrigen, Rassismus und Judenhass und das bodenlose Misstrauen gegenüber dem Anderen, Andersartigen. Der blinde Fanatismus, der nur einen Führer braucht und das Bedürfnis nach der Wichtigkeit des eigenen, unbedeutenden Lebens. Die Grausamkeit der Entwurzelten des Krieges, die ihren Platz in der Gesellschaft nicht mehr finden und verlernt haben, mitzufühlen. Die Traumata derer, die zum Opfer werden. Die Realität, die einer guten Geschichte nicht standhalten kann und der Schein, der das wahre Sein erschlägt.
Lewinskys Roman ist vor allem ein ungeheuer unterhaltsames Buch, dabei prall von Wissen um historische Zusammenhänge und geschichtliche Hintergründe. Es ist gleichzeitig aber auch eine sprachlich mitreißende Reise in die Welt der ‚Mehrbesseren‘, ‚Finöggel‘ und in ihrer Schlichtheit ergreifend schöner Wahrheiten, die universeller und aktueller nicht sein könnten:
‚Wenn einer zu viel Mut hat, habe ich einmal sagen hören, bleibt kein Platz für den Verstand.‘ (Seite 61);
‚Aber was zwischen den Menschen passiert, das hat nicht der Himmel gemacht, sondern wir selber…‘ (Seite 106);
‚Wer eine Waffe hat, muss dem, der ohne kommt, keine Komplimente machen…‘ (Seite 128);
‚“Man soll keinen Menschen hassen“, hat er gesagt, „mit Hass fängt es an, und mit Asche hört es auf,…“‘ (Seite 202).
Zu keiner Zeit erhebt er aber den Zeigefinger und überlässt es jedem Leser selbst, welche der unaufdringlich erzählten Weisheiten er für sich entdeckt
Lewinsky erzählt voller Lust am Erzählen, voller sprachlicher Virtuosität und ein wenig, so scheint es, hat der Autor die eigene Lust am Erzählen an Sebi weitergereicht und diese Lust teilt sich mit.
‚Der Halbbart‘ ist ein hinreißendes Stück Literatur, das man jedem Leser nur aufs Wärmste ans Herz legen kann!