Doppelleben
Obwohl die im vergangenen Jahr verstorbene amerikanische Erfolgsautorin Mary Higgins Clark, auch mit dem ehrenvollen Titel „Queen of Suspense“ bedacht, mit beinahe jedem ihrer weit über dreißig eleganten ...
Obwohl die im vergangenen Jahr verstorbene amerikanische Erfolgsautorin Mary Higgins Clark, auch mit dem ehrenvollen Titel „Queen of Suspense“ bedacht, mit beinahe jedem ihrer weit über dreißig eleganten psychologischen Thrillern regelmäßig auf der New York Times – Bestsellerliste auftauchte, finden sich die meisten ihrer Kritiker ausgerechnet in ihrem Heimatland. Sie bescheinigen ihr beharrlich nicht nur langweilige und stereotype Protagonisten, vorhersehbare Plots, die den einen zu simpel, den anderen zu komplex und verwirrend sind, und Oberflächlichkeit, sondern auch noch eine zu flache, zu einfach konstruierte Sprache, allenfalls Leser nicht älter als 14 ansprechend, allerdings angefüllt mit zu vielen komplizierten und zu langen Sätzen, die darüberhinaus auch noch voller Adjektive, Adverbien und unnötiger Passivkonstruktionen seien – alles Dinge, die unbedingt zu vermeiden seien, wie die zahlreichen 'Creative Writing Teachers' dozieren!
Nun ja, der Prophet im eigenen Lande... kann man da nur sagen – und zum Beispiel hinüberschauen nach Frankreich, wo Mary Higgins Clarks Spannungsromane einen überwältigenden Zuspruch haben, was auch für Deutschland gilt, beziehungsweise in Mary Higgins Hoch-Zeit, also in den 80er und 90er Jahren galt.
„I'll be Seeing You“ (deutscher Titel „Das fremde Gesicht“) erschien 1993, also während der so erfolgreichen Schaffensperiode der gebürtigen New Yorkerin mit den irischen Wurzeln, die sie nicht müde wurde zu betonen, und vereint all jene Ingredienzien, die ihr Erfolgsrezept ausmachten: eine attraktive Protagonistin, die, zugegeben, immer einem bestimmten Typus zugehörig ist (schön, gebildet, erfolgreich, aus der gehobenen weißen Mittelschicht kommend, katholisch-irischer beziehungsweise katholisch-italienischer Abstammung), eine klug ausgedachte Handlung vor sorgfältig recherchiertem Hintergrund (soviel zur 'Oberflächlichkeit'!), Spannung von der ersten Seite an, mindestens zwei Handlungsstränge, die sich immer mehr annähern und oft sehr raffiniert zusammengeführt werden. Und – bei Mary Higgins Clark muss man einfach auf das Unerwartete vorbereitet sein! Niemand beherrscht das Hakenschlagen so wie sie, niemand auch legt so gekonnt falsche Fährten – selbstverständlich abgesehen von ihrer englischen Schriftstellerkollegin Agatha Christie, der 'Lady of Crime'.
Und so lässt sie ihre Geschichte, die hier besprochen werden soll, auch gleich mit einem Paukenschlag beginnen: die diesmal ersonnene Protagonistin, Meghan Collins, im Journalismus tätig, den sie einer Karriere als Juristin vorgezogen hat, befindet sich im Einsatz in der Notaufnahme einer New Yorker Klinik, als das sterbende Opfer eines Raubüberfalls hereingeschoben wird. Bei einem Blick auf die junge Frau sieht sie – ihr eigenes Gesicht! Und das lässt sie fortan nicht mehr los, wird umso verstörender, als sie wenig später ein Fax erhält, das suggeriert, dass eigentlich sie, Meghan, das Opfer hätte sein sollen....
Reporter sind neugierig, wie man weiß – und so nimmt es nicht wunder, dass Meghan Nachforschungen anstellt, die der Beginn von Enthüllungen sind, von denen sie es vorgezogen hätte, dass sie im Dunkeln geblieben wären, denn sie führen zu der Erkenntnis, dass ihr bei einem Brückenunglück ums Leben gekommener Vater ein Doppelleben geführt hatte.
Als sei das noch nicht belastend genug, tauchen plötzlich Zweifel an dem Unfalltod des Vaters, dessen Leiche nie gefunden wurde, auf, zumal sein Auto ausgerechnet vor dem Haus einer Embryologin gesehen wurde, die ermordet wurde, kurz nachdem Meghan sie bei den Dreharbeiten zu einer Reportage über künstliche Befruchtung kennengelernt hatte, zu der sie in die Manning-Klinik abgeordnet worden war....
Das ist der Stoff, aus dem die 'Queen of Suspense' ihren Roman gewebt hat und mit dem sie ihre Leser in Atem hält. Buchstäblich, denn ein unerwartetes Ereignis folgt auf das andere, jedes ihrer kurzen Kapitel – ein weiteres Markenzeichen der Autorin – endet so, dass man gar nicht anders kann, als weiterzulesen. Man hat eine Ahnung, wohin das alles führen, worauf es hinauslaufen mag, aber sicher kann man sich nicht sein, denn schon das nächste Kapitel kann die gerade gezogenen Schlüsse null und nichtig machen.
Gewiss ist allerdings, dass die hübsche Protagonistin, einmal mehr eine kraftvolle, starke Persönlichkeit, in immer größere Gefahr gerät. Denn da gibt es einen gewissen Bernie Heffermann, der Protagonist aus der Parallelhandlung, ein unterbelichteter, doch psychisch stark geschädigter Mann (verwirrte Geister wie ihn lässt Higgins Clark immer wieder gerne in ihren Thrillern auftauchen), der eine fatale Obsession für Meghan hegt, die ihn jeden ihrer Schritte verfolgen lässt und an dessen Gedanken der Leser direkt teilhat, womit er der fast bis zum Ende ahnungslosen Protagonistin immer mehrere Schritte voraus ist.
Nicht komplex genug sollten Higgins Clarks Handlungen sein? Gerade das Gegenteil, möchte man meinen, denn da ist ja noch die Reportage über die Manning-Klinik, die geradezu unaussprechliche, ethisch auf keinen Fall vertretbare Praktiken ans Tageslicht bringt, die jemand unter allen Umständen verborgen halten möchte. Jemand, bei dem letztlich alle Stränge in einem fulminanten Finale zusammenlaufen werden....
Summa summarum: „I'll be seeing you“ ist unzweifelhaft einer der stärksten, vielschichtigsten, ausgefeiltesten und spannendsten Romane, die Mary Higgins Clark in ihrer mehr als 40 Jahre währenden Schriftstellerkarriere auf den Markt gebracht hat – und das ganz ohne die heute so beliebten ausgeweiteten und brutalen Grausamkeitsszenen! Atemlose Spannung, prickelnden Nervenkitzel, das hat sie immer wieder bewiesen, kann man, ist man denn des Schreibens mächtig, viel effektiver auch auf ganz andere Weise erzeugen!